Der große Romancier John Updike ist tot
Gerade mal 23 war John Updike, als ihn der „New Yorker“ als Reporter engagierte. „Talk of the Town“ hieß die Rubrik, für die er zuständig war: „Man wies mir ein Büro im siebzehnten Stock zu, wo ich zwischen den Damen saß, die die Daten für ‚On und Off the Avenue’ zusammenstellten. Zu meiner Ausrüstung gehörte ein Stahlschreibtisch, offizielles Briefpapier und ein Telefon“. Lange hielt es Updike nicht an diesem Stahlschreibtisch. Nach nur zwanzig Monaten verließ er die Zeitschrift, um von nun an „von meinem Verstand und meinem Schreiben zu leben“. Dennoch darf man William Shawn, dem legendären Chefredakteur des „New Yorkers“, zu seiner Weitsicht gratulieren. Denn letztlich kreiste die literarische Arbeit John Updikes, mit der er zu einem Schriftsteller von Weltrang aufstieg, lebenslang um „Talk of the Town“, ums Stadtgespräch, um die gewöhnlichen Zwischenfälle, um die scheinbaren Banalitäten, die das Leben ausmachen. Updike, der am 27. Januar 2009 im Alter von 76 Jahren an Lungenkrebs starb, ist so zum überragenden Chronisten der amerikanischen Gesellschaft geworden. Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie der Mittelstand zwischen New York und Arizona, zwischen Florida und Kansas lebte und liebte, wie man in der Kennedy-Zeit, den Jahren des Vietnamkriegs oder der Reagan-Ära, in der Epoche des New Age, der Yuppies oder Baby-Boomer begehrte, betrog und büßte, kommt um die Lektüre von Updikes Bücher nicht herum. Es ist nicht übertrieben, ihn den amerikanischen Balzac der vergangenen fünfzig Jahre nennen. Über 20 Romane und rund ein Dutzend Bände mit Erzählungen und Kurzgeschichten umfasst seine Comédie Humaine. Er hat die feinen Zwischentöne und oft unfeinen Fantasien, die eingebildeten oder verleugneten Krisen im Seelenleben des durchschnittlichen Wohlstandsbürgers nicht einfach nur nachgezeichnet – er hat sie mit seiner Kraft des Erzählens überhaupt erst sichtbar gemacht und damit ins allgemeine Bewusstsein gehoben. So darf man ihn, John Updike, zu jenen Autoren zählen, in deren Büchern das Bild des 20. Jahrhunderts für die Nachwelt nicht nur eingefangen, sondern überhaupt erst geformt wurde. Wer ihn deshalb als nüchternen Realisten bezeichnen wollte, machte es sich zu leicht. Updike entstammte nicht wie Hemingway der Schule der lakonisch knappen Storyteller. Zu seinen literarischen Ahnen zählt viel eher Vladimir Nabokov mit seiner hoch verfeinerte Prosa und dem Mut zu überraschenden Metaphern und stilistischem Prunk. Ein beträchtlicher Reiz der Romane Updikes liegt darin, dass er sich mit enormer sprachlichen Artistik und Intelligenz über die scheinbar trivialsten Moden und beiläufigsten Gewohnheiten der jeweiligen Zeit beugte, und sie in Literatur zu verwandeln verstand. Er war ein Genie der erzählenden Gegenwarts-Deutung, ein Genie der Gegenwarts-Entschlüsselung in Geschichten. Von Beginn an unumstritten war er trotz dieser Gaben nicht. Sein Roman „Ehepaare“ wurde zu einem veritablen Skandalbuch. Er beschrieb Ehebruch und Partnertausch in einer Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste mit solcher Freude zumal am sexuellen Detail, dass die Tugendwächter auf beiden Seiten des Atlantiks wieder mal den Untergang des Abendlandes nahen sahen. Wer das Buch heute liest, erkennt darin ein bestechend genaues Porträt der liberalen Hoffungen und Illusionen, die sich bis heute mit dem Namen Kennedys verbinden. Es gibt wohl kein zweites Stück Literatur, dass die Stimmung des gesellschaftlichen Aufbruchs jener Jahre so genau einfängt wie dieses. Doch wer sich dem raschen Wechsel der Moden und Trends so gründlich widmet, wie Updike es tat, der ist schärfer noch als andere konfrontiert mit der Erfahrung des Verschwindens und der Vergänglichkeit. Tief in seinem Inneren ist dem Werk Updikes vom Wissen um das Verwehen der Zeit, um die Endlichkeit des Lebens beherrscht. Auch wenn er Tod und Sterben selten ausdrücklich schildert, werden Updikes Figuren doch getrieben von unheilbarer Todesfurcht. Vor allem deshalb haben Sie ein niemals unproblematisches, ein oft zweiflerisches, aber ein immer bewusstes Verhältnis zu Gott. „Religion führte und führt“, schrieb Updike, „eine hilfreiche Randexistenz, sie gibt mir Hoffnung und die Gewissheit auf eine Belohnung jenseits der Gegenwart“. Keiner seiner Romane hat etwas vom frommen Traktat, und dennoch gehörte Updike unzweifelhaft zu den wenigen christlichen Schriftstellern der modernen Weltliteratur. Updike hat viele große Bücher geschrieben. Doch ins kollektive Gedächtnis nicht nur Amerikas ist er eingegangen mit einer Jedermann-Figur, mit dem Verkäufer und Geschäftsmann Harry Angstrom, genannt Rabbit. 1960 erschien der Roman „Rabbit, run“ und machte Updike so berühmt, dass, erzählte er einmal, Unbekannte noch Jahrzehnte später wie eine Losung „Rabbit, run“ murmelten, wenn sie an ihm vorübergingen. Der Roman erzählt von einem einfachen Mann, der wenig hat, auf das er stolz sein könnte. Früher war er ein passabler Basketballspieler, das ist schon alles. Ansonsten ist Rabbit nicht besonders klug, nicht besonders fleißig, hat viel zu früh geheiratet, weil ein Kind unterwegs war, aber keine Lust auf Arbeit und Alltag. Er betrügt seine Frau, die im Alkohol versinkt, ist dumm genug auch seine Geliebte zu schwängern und steht schließlich, als seine Frau betrunken das Kind beim Baden ertrinken lässt, in den Trümmern eines gründlich verpfuschten Lebens. White Trash. Nichts ist schwerer zu erzählen als das Unspektakuläre. Wie Updike diese, vom Tod des Kindes abgesehen, betont banale Biographie in einen fesselnden Roman von anrührender Lebensklugheit verwandelt, ist reines literarisches Hexenwerk. Dieser Rabbit, der amerikanische Jedermann der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ließ weder den Autor noch seine Leser los. Im Abstand von jeweils zehn Jahren schrieb Updike drei weitere Romane über dieses Durchschnittsleben. Zusammen sind die Rabbit-Bücher einer der Höhepunkte der internationalen Literatur unserer Epoche. Sie entwerfen über dreißig Jahre hinweg ein nicht nur gnadenlos bitteres, sondern ebenso zart mitfühlendes Porträt eines Menschen und eines ganzen Landes. Bleibt noch die leidige Geschichte mit dem Literaturnobelpreis zu berichten. Spätestens Anfang der achtziger Jahre, nach den ersten drei Rabbit-Romanen, und Meisterwerken wie „Ehepaare“, „Der Zentaur“ oder „Der Coup“ war klar, dass Updike in die Reihe der größten lebenden Schriftsteller seiner Zeit gehörte. Doch das Nobelpreiskomitee entschied sich alljährlich für andere Autoren. Also hat Updike diese Auszeichnung nie bekommen. Doch wirft das keinen Schatten auf sein Werk. Auch andere unbestrittene Riesen der Literaturgeschichte wie Joyce, Nabokov oder Borges wurden von der Nobel-Jury übersehen. Die einzigen, deren Ruf darunter leidet, sind die Juroren und ihr Nobelpreis.