Philip Roth über die fünfziger Jahre und die Kleinigkeiten, die das Leben entscheiden
Wir schreiben das Jahr 1951. Marcus Messner lebt in Newark, New Jersey, ist 18 Jahre alt und Jude. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, sein Vater ist koscherer Metzger, kein sehr religiöser, aber ein solider, gewissenhafter Mann. Marcus hat die High School mit glänzenden Noten abgeschlossen und soll als erster seiner Familie ein College besuchen. In der Zeit zwischen Abschluss der einen und Beginn der anderen Schule arbeitet er im Geschäft seines Vaters. Nach fünf, sechs Stunden ist er erschöpft, und sieht, wie sein Vater unermüdlich weiterarbeitet, Rindehälften zerteilt, Fleisch zurechtschneidet, die Kundschaft bedient. Auch Marcus muss durchhalten, denn am Ende jedes Tages soll er die Metzgerklötze mit der Eisenbürste abschrubben, soll das Blut wegkratzen, damit der Laden koscher bleibt. In diesen Wochen ist Marcus dem Vater näher als je zuvor oder danach, er liebt und bewundert ihn. Doch schon kurz darauf machen sich beide gegenseitig das Leben zur Hölle. Als College-Student braucht und nimmt sich Marcus erste Freiheiten. Sein Vater aber ist so ängstlich besorgt um sein einziges Kind, dass er ihn mit Verboten überhäuft, jeden seiner Schritte zu kontrollieren versucht und auf alle Ansätze zu größerer Selbstständigkeit mit irrationaler, hysterischer Wut reagiert. 1951 war Philip Roth, der die Geschichte von Marcus Messner in seinem neuen, großartigen Roman „Empörung“ erzählt, 18 Jahre alt und ist als Jude in Newark, New Jersey, aufgewachsen. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, sein Vater war zwar kein Metzger, sondern Agent einer Versicherung, aber Konflikte mit ihm sind auch Roth nicht erspart geblieben. „Er war nicht irgendein Vater, er war der Vater mit allem, was es an einem Vater zu hassen gibt und allem, was es an einem Vater zu lieben gibt“, schrieb Roth in seinem Buch „Mein Leben als Sohn“. Dass uns Roth mit Macus so etwas wie einen jugendlichen Doppelgänger seiner selbst vorstellt und in „Empörung“ eine Art Alternativbiographie entwirft, liegt auf der Hand. Eine Alternativbiographie jedoch, bei der sich alles zum Schlechten wendet. Marcus Messners Leben endet in der Katastrophe – und ist schon deshalb ein literarisch dankbarer Stoff. Wie Roth in seiner Jugend so ist auch Marcus ein exzellenter Student und wie Roth es oft genug bei sich selbst beschrieb, neigt auch Marcus zu einer ungeheuren Intensität: Was immer er für ungerecht oder unsinnig hält, reizt ihn zu radikalem Widerspruch, zur Empörung. Er ist mit hoher Intelligenz, aber mit wenig diplomatischer Zurückhaltung gesegnet. Eigenschaften, mit denen Roth seine Karriere als Schriftsteller beförderte, Marcus aber nach Kräften das eigene Verderben. Da die Konflikte mit dem Vater zu eskalieren drohen, sucht sich Marcus ein College, das mehrere hundert Meilen von New Jersey entfernt ist. Da er sich mit der ihm eignen Intensität aufs Studium wirft und durch nichts ablenken lässt, ist er unter seinen Kommilitonen bald ein Außenseiter. Da er in Liebensdingen keine Erfahrung hat, stürzt ihn seine erste Freundin – sie ist sexuell ebenso weitherzig wie psychisch gefährdet – in heillose Verwirrung. Da er im College regelmäßig religiöse Predigten besuchen muss, obwohl er sich als Atheist empfindet, bezahlt er einen Strohmann, der für ihn diese Veranstaltungen absitzt. Da der Schwindel auffliegt, wird er vom College verwiesen, als Soldat zum Koreakrieg eingezogen und stirbt, gerade 19-jährig, in einem Schützenloch, aufgeschlitzt vom Bajonett eines chinesischen Soldaten. Ist es eine Sünde wider den Leser, den Tod des Helden schon in einer Rezension zu verraten? In diesem speziellen Fall nicht. Denn Roth macht fast von Beginn seines Buches an kein Geheimnis aus dem Ende seiner Hauptfigur. Er lässt Marcus selbst die Geschichte seines kurzen unglücklichen Lebens berichten, aber Marcus erzählt sie „Unter Morphium“, wie ein vorangestellter Titel verkündet. Er liegt bereits tödlich verletzt im Schützenloch, weiß, dass er sterben wird, und nur weil das Morphium seine Schmerzen unterdrückt, bleibt ihm noch eine Frist, in der er die einzigen beiden Jahre seines erwachsenen Lebens an sich vorüberziehen lassen kann. Mit diesem erzählerischen Kunstgriff nimmt Roth seiner Geschichte etwas von ihrer möglichen Spannung. Doch verschiebt er damit die Aufmerksamkeit des Lesers von der Frage, ob sich Marcus der drohenden Einberufung zum Koreakrieg entziehen kann, frühzeitig auf die Frage, wodurch sich das Leben dieses so jungen, so begabten Mannes entscheidet. Natürlich ist die Versuchung groß, in Marcus ein Opfer zu sehen. Ein Opfer der übersteigerten Ängste seines Vaters, der muffigen, sexualfeindlichen Atmosphäre der fünfziger Jahre und vor allem der nicht nur in religiöser Hinsicht engstirnigen Studienordnung des Colleges. Roth hat das College nach Winesburg, Ohio verlegt, was naturgemäß als Hommage an Sherwood Andersons Erzählungs-Zyklus „Winesburg, Ohio“ zu verstehen ist. Marcus hat dort zudem einen Studentenjob in einem Gasthaus namens New Willard House, das offenkundig nach George Willard, Andersons Hauptfigur, benannt ist. Doch Roth ist ein viel zu intelligenter, ein für Zwischentöne viel zu empfänglicher Schriftsteller, als dass er Marcus schlicht und einseitig zum Opfer stilisierte. Ihn interessiert nicht nur, dass Marcus an den Hindernissen scheitert, die ihm das Leben in den Weg stellt, sondern mindestens ebenso sehr, wie Marcus auf diese Hindernisse regiert und dabei am eigenen Scheitern mitarbeitet. Auf den vernagelten Kontrollzwang seines Vaters reagiert er mit vernagelten Unabhängigkeitserklärungen. Auf die Freizügigkeit seiner Freundin erst mit überspannter Scheu, dann mit überspannten Liebesschwüren. Auf die bornierten Vorschriften des College mit jähzornigem Abscheu. Der Höhepunkt des Romans ist ein 25-seitiger Dialog zwischen Marcus und dem Dean des Colleges, der für die soziale Betreuung der Studenten zuständig ist. Wie Roth hier nicht nur das geistige Klima jener Jahre, sondern vor allem die Charaktere der beiden Figuren herausarbeitet, ist meisterhaft: Marcus, der sich zunächst nicht in die Karten schauen lassen will, der dann berechtigten Widerspruch erhebt gegen die Verpflichtung, Gottesdienste zu besuchen, und sich in Rage redet, der sich schließlich zu einem zornigen Prediger des Atheismus wandelt und dabei alle Regeln taktischer Klugheit sowie viele Grenzen elementarer Höflichkeit aus dem Blick verliert. Andererseits der Dean, der unter dem Deckmantel väterlicher Fürsorge Marcus seine Macht und seine Vorbehalte gegen Juden spüren lässt, der so tut, als seien seine Fragen von Anteilnahme bestimmt, aber Marcus letztlich einem gnadenlosen Verhör bis in die intimsten Bereiche zu unterziehen versucht. Man kann „Empörung“ also als alternativen, tragischen Lebenslauf von Philip Roth betrachten, den er sich zurechtgeschneidert hat unter dem Gesichtspunkt, was ihm hätte blühen können, wenn an entscheidenden Punkten seiner Biographie ein paar Kleinigkeiten anders gelaufen wären. Man kann ihn ebenso gut als Roman über das Unglück lesen, das die Spießigkeit und Prüderie der Fünfziger im Leben vieler Menschen anrichtete. Doch darüber hinaus hat das Buch noch einen überzeitlichen, fast mythische Motivstrang, der durch leichthändig in die Handlung eingewobenen Bilder und Symbole getragen wird. Immer wieder ist von Blut, von Messern und vom Schlachten die Rede. Marcus’ Vater, der Metzger watet beim Schlachten buchstäblich im Blut. Er weiß von Berufswegen, wie verletzlich das Leben ist, wie wenig es braucht, dass ein Messer fehlgeht und unwiderruflichen Schaden anrichtet. Davor will er seinen Sohn bewahren und es ist in der Symbolsprache des Romans kein Zufall, dass er Marcus allabendlich die Aufgabe zuteilt, die Metzgerklötze vom Blut zu reinigen. Doch wie es die absurde Logik des Schicksals will, sorgt sein verzweifelter Drang, den Sohn zu behüten, für eben den Anlass, der den Sohn aus dem Haus treibt und schließlich zum Schlachtopfer, zum Opfer der Bajonett-Schlachten des Koreakrieges werden lässt. Am Ende ist es dann der Sohn, der im Blut watet, dem eigenen und dem seiner Kameraden. Zugegeben, das klingt reichlich düster und wenig erfreulich. Tatsächlich ist „Empörung“ kein sonnig-wonniger Roman. Doch zum besonderen Rang eines Schriftstellers wie Philip Roth gehört, dass er den Lesern Vergnügen auch an tragischen Gegenständen zu verschaffen versteht. Die Klarheit seiner Sprache, die Dichte der Atmosphäre, die Plastizität seiner Charaktere – dieser Roman eines inzwischen 75-Jährigen ist kein Alterswerk, sondern hat die Energie, die Frische, ja nicht zuletzt die Empörung eines großen Erzählers in seinen besten Jahren. Und dazu den Witz. „Es geht um das Leben, wo der kleinste Fehltritt tragische Folgen haben kann“, sagt der Vater. „O Gott“, antwortet der Sohn, „du redest wie ein Glückskeks.“ Viele der Romane, die Philip Roth in den vergangenen 10 oder 15 Jahren veröffentliche, wurden – zu Recht – Meisterwerke genannt. So viele, dass sich der Begriff mit Blick auf seine Bücher abzunutzen beginnt. Lassen wir ihn also beiseite und ziehen stumm den Hut.
Philip Roth: „Empörung“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz Hanser Verlag, München 2009 202 Seiten, 17,90 €