Lukas Bärfuss, 1971 in Zürich geboren, zählt heute zu den wichtigsten Dramatikern des deutschsprachigen Theaters. In seinem ersten Roman „Hundert Tage“ erzählt er von einem Schweizer Entwicklungshelfer, der den wirtschaftlichen Niedergang Ruandas und 1994 den Völkermord dort erlebt, dem über 800.000 Menschen zum Opfer fielen. Das Buch gehört zu den eindrucksvollsten Neuerscheinungen des Jahres 2008. Er wurde mit dem Anna Seghers- und dem Mara Cassens-Preis ausgezeichnet.
Uwe Wittstock: Wie kommt ein Schweizer darauf, einen Roman über den Völkermord in Ruanda zu schreiben?
Lukas Bärfuss: Die Schweizerische Entwicklungshilfe war sehr aktiv in Ruanda, davon wird im Roman erzählt. In der dritten Klasse, ich war damals neun, haben wir im Rahmen einer Projektwoche vieles über Ruanda erfahren. Unsere Lehrerin stellte das Land als arm, aber glücklich dar. Ein Paradies mit Menschen, die uns nicht unähnlich seien: bescheiden, arbeitsam und mit einer großen Liebe für Kühe. So wurde Ruanda für mich als Kind zum Urbild von Afrika. Als uns dann 1994 die Nachrichten vom Völkermord erreichten, zeigten die Medien ganz andere Bilder. Und ich brachte diese Bilder nicht mit jenen aus der Schule zusammen. Welche stimmten denn nun? Oder gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen dem Paradies, das mir geschildert worden war, und der Hölle des Mordens?
Wittstock: Sind Sie nach Afrika gereist?
Bärfuss: Im Grunde bin ich ein schlechter Reisender. Aber dieser Kontinent hat mich nicht mehr losgelassen. Als ich mich entschloss, das Buch zu schreiben, bin ich nach Ruanda gefahren. Aber ich habe bald gemerkt, dass ich das, was mich interessiert, dort nicht finde, auch nicht in den Akten, die ich schließlich studierte.
Wittstock: Was hat Sie interessiert?
Bärfuss: Eigentlich immer dasselbe. Wie ist es möglich, dass Menschen mit ausgeprägtem moralischem Empfinden, ihre Arbeitskraft in eine politische Realität investieren, die diesen Werten vollständig widerspricht? Die Entwicklungshelfer konnten nicht zuletzt deshalb in Ruanda so gut und ungestört arbeiten, weil ein totalitäres Regime ihnen beste Arbeitsvoraussetzungen verschaffte. Ein Apartheitsregime, in dem die Hutu eine Tutsi-Minderheit politisch ausgrenzte. Das nahmen die Entwicklungshelfer in Kauf. Dieser Spalt im Bewusstsein interessiert mich. Im sicheren Ruanda gab es damals viele Hilfsorganisationen, im ebenso armen, aber instabilen Nachbarland Burundi nur sehr wenige. Wittstock: Was sagen die beteiligten Entwicklungshelfer?
Bärfuss: Ein Spalt ist definiert durch eine Leere. Ich habe während der Recherche mit vielen Menschen gesprochen. Aber keiner konnte mir etwas über zu diesem Sachverhalt erzählen. Sie wussten natürlich davon, aber sie hatten keinen Bezug zu dieser Realität. Da ist Schweigen. Das war der Grund, weshalb ich den Roman schrieb. Ich musste die Antwort in meiner Imagination finden.
Wittstock: Weshalb haben sie als erfahrener, vielfach ausgezeichneter Dramatiker aus diesem Stoff Ihren ersten Roman und kein Stück gemacht?
Bärfuss: Das Stückeschreiben ist in einen Gewisse Sinne eine primitive Kunst mit strengen Regeln, in denen man sich die Freiheit suchen muss. Man kann zum Beispiel auf der Bühne nicht zurückblättern, was man verpasst hat, ist verloren, und deshalb muss ein dramatischer Konflikt eine klare Struktur haben. Das Theater erinnert sich nicht, es schafft Fakten, einen Moment. Die Gründe für den Völkermord hingegen sind so vielfältig und widersprüchlich, dass sie sich geradezu gegenseitig aufheben. Deshalb ein Roman, der als offene und freie Form ein solches Thema besser umkreisen kann, und nicht alles dem dramatischen Konflikt unterordnen muss.
Wittstock: Sie waren nicht Augenzeuge des Völkermordes. War es beim Schreiben ein Problem für Sie, dass Sie sich wie ein Reporter die Wirklichkeit nach Recherchen schildern mussten?
Bärfuss: Der Roman als Kunstform bezieht sich weniger auf die Wirklichkeit, sondern vielmehr auf die menschliche Existenz. Er ist gleichsam das Gefäß, mit dem der Autor das – wie Milan Kundera es formuliert hat – „experimentelle Ich“ einfangen kann. Das klingt vielleicht seltsam: Aber die Entwicklungshilfe-Politik hat mich nicht besonders interessiert, sie war bloß das Mittel um die Frage zu klären, wie mein Held David mit den inneren Widersprüchen dieser Politik umgeht. Die historischen Fakten zu recherchieren, ist eine reine Fleißarbeit. Die eigentliche Herausforderung ist, sich davon wieder zu lösen, und das experimentelle Ich David lebendig werden zu lassen. Die Wahrheit der Kunst ist eine andere als die der Geschichte.
Wittstock: Joseph Conrad hat in „Herz der Finsternis“ den Dschungel des Kongo, an den Ruanda grenzt, als eine Welt mythischer Gewalt, Maßlosigkeit und Ausschweifung beschrieben. Waren diese Bilder die literarische Folie vor der Sie mit ihrem Roman gearbeitet haben?
Bärfuss: Mein Schreiben kommt aus dem Lesen, und meine Bücher sind immer auch Antworten auf andere Bücher. In gewisser Hinsicht ist „Hundert Tage“ eine Antwort auf „Herz der Finsternis“. Ich bewundere Conrad literarisch grenzenlos. Doch politisch hat sein Buch viel Unheil angerichtet. Mit „Herz der Finsternis“ hat er das Bild der Europäer von Afrika auf sehr ungünstige Weise geprägt. Wir neigen auch heute noch zur Ansicht, es gebe ein archaisches Grauen, das sich auf diesem Kontinent immer wieder Bahn bricht. Die jüngsten Unruhen in Kenia wurden bei uns oft als „Ausbruch ethnischer Gewalt“ apostrophiert. Als bräche da ein Vulkan aus, über dem zuvor nur ein dünner Firnis der Zivilisation lag, als hätten diese Leute ihre zivilisierte Maske abgelegt und ihr wahres Gesicht gezeigt. Doch tatsächlich sind diese Unruhen organisiert worden. Von einigen wenigen Herren politisch gesteuert und gewollt.
Wittstock: Agathe, die afrikanische Hauptfigur ihres Romans, in die sich David verliebt, entspricht sehr den Conradschen Vorstellungen von Afrika. Sie ist schön, aber bei Sex und Gewalt völlig zügellos.
Bärfuss: Conrads Buch ist eben nicht wirkungslos geblieben, sondern prägt die Sicht vieler Weißer auf den Kontinent, auch jene meines Protagonisten. Mir ging es nicht darum, einen politisch korrekten Gegenroman zum „Herz der Finsternis“ zu schreiben. Das Unglück der Liebesgeschichte zwischen David und Agathe ist doch auch, dass die beiden wenig Gelegenheit haben, das Verhalten des anderen wirklich zu begreifen. Sie stammen aus verschiedenen Lebenskulturen und können den anderen nicht zutreffend in ihr Weltbild einordnen. Was wir in der eigenen Lebenswelt unablässig tun, nämlich das Verhalten der anderen in einen Zusammenhang zu setzen, zu differenzieren, das gelingt ihnen nicht. Einfach, weil ihnen der Zusammenhang fehlt. Und deshalb bleibt ihnen zur Erklärung nur das Stereotyp.
Wittstock: Wie waren Ihre Erfahrungen in Afrika? Bestätigen oder widerlegen sie Conrads Bild?
Bärfuss: Schon in Ihrer Frage liegt das Problem. So etwas wie Afrika gibt es nicht, die kulturellen und politischen Bedingungen unterscheiden sich von Region zu Region sehr stark. In Kamerun zum Beispiel gibt es über 200 verschiedene ethnische Gruppen, und alle haben eine eigene Kultur. Als rationalistischer Europäer möchte man begreifen, verstehen, einordnen, und leider zwingt das zur Vereinfachung. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Erleben wichtiger sein kann als verstehen. Kulturelle Barrieren lassen sich oft nur schwer überwinden. Niemand erzählt einem Fremden die ganze Wahrheit. Aus Scham, aus Angst, falsch verstanden zu werden. Und im übrigen glaube ich nicht, dass Conrad einen Roman über Afrika oder den Kongo geschrieben hat. Die Reise ins „Herz der Finsternis“, ist eine Reise in einen Innenwelt. Der Wald und der Fluss, auf dem Conrads Held reist, sind nur Chiffren der Entgrenzung. Sein Roman ist deshalb ein schlechter Reiseführer. Ruanda ist ein wunderschönes Land, angenehm zu bereisen, mit hilfsbereiten, freundlichen Menschen. Ein ideales Reiseland. Daneben gibt es die Erinnerung an diese Schrecken. Hier diese Menschen, da der Völkermord. Ich habe die Klammer zwischen beidem nicht gefunden, habe es nicht verstanden, und irgendwann versuchte ich es auch nicht mehr. Und plötzlich wurden Begegnungen möglich, und ohne zu verstehen, erlebte ich.
Wittstock: Wir Deutschen sind jetzt seit über sechzig Jahren auf der Suche nach dieser Klammer zwischen Kultur und Völkermord.
Bärfuss: Ich fuhr in Ruanda mit dem Bus und mir fiel die Statistik ein, dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung am Genozid beteiligt waren, bei dem zehn Prozent der Bevölkerung ermordet wurde. Dann zählt man im Bus durch und von zwölf Leuten müssten rechnerisch acht Mörder, Brandstifter oder Organisatoren des Tötens sein. Das geht einem nicht in den Kopf.
Wittstock: Warum verzichten sie im Roman auf jede explizite Darstellung des massenhaften Mordens?
Bärfuss: Weil ich dafür keine Sprache habe. Und was wäre damit schon zu erreichen, außer Betroffenheitskitsch oder eine Pornografie des Grauens? Beides ist meines Erachtens nicht Aufgabe der Literatur. Ich wollte über ein Bewusstsein schreiben, das Genozid als eine politische Möglichkeit begreift. Zudem hätte jede Gewaltdarstellung dem Leser paradoxerweise eine Distanzierung ermöglicht, und ich möchte genau das Gegenteil erreichen. Aber, um ehrlich zu sein, habe ich mich nicht zuerst aus literarischen Gründen dagegen entschieden, sondern aus einem Gefühl der Scham und des Respekt gegenüber den Opfern. Es geht hier ja nicht um einen fiktiven Kriminalfall. Es stimmt schon: Zum Schreiben gehört immer eine gewisse Anmaßung, und wie Beckett gesagt hat, ist tatsächlich nichts so komisch wie das Unglück der anderen. Aber auch diese Wahrheit hat ihre Grenzen, glücklicherweise.
Das Interview erschien in der „Welt“ vom 8. Januar 2009