„Autopsie Schiller“ – das Literaturmuseum der Moderne in Marbach zeigt eine kluge Ausstellung zu dem Reliquienkult um den Klassiker
Als im 18. Jahrhundert der Einfluss der Religion und der Kirchen allmählich zurückging, stellten sich die Letzten Fragen umso hartnäckiger und unbehaglicher. So etwas wie ein allgemein verbindlicher Heilsplan, in dem jeder einzelne seinen Platz finden und aus dem er unhinterfragbare Handlungsrichtlinien beziehen konnte, wurde immer schmerzlicher vermisst. Also begann die Sehnsucht der Menschen nach letztgültigen Antworten, sich nach neuen Auskunftsgebern umzuschauen. Sie entdeckte – zumal in Deutschland – Kunst und Literatur als diesseitige Sinnstiftung. Neben den Heiligen der Kirche richtete sich der Wunsch nach Verehrung nun auf die Heiligen der Dichtung. Die aus nüchterner Sicht abwegige Vorstellung der Kunstreligion gewann eine immer machtvollere Anziehungskraft. Die große Ausstellung „Autopsie Schiller“ im Marbacher Literaturmuseum der Moderne wäre ohne diesen geistesgeschichtlichen Hintergrund nicht denkbar. Mit ihr begeht das Deutsche Literaturarchiv jetzt den Auftakt des Schillerjahrs 2009, in dem am 10. November der 250. Geburtstag des Klassikers gefeiert werden kann. Es ist eine befristete Wechselausstellung, die bis zum 4. Oktober zu sehen sein wird. Zum eigentlichen Jubiläumstag im November soll dann die umfangreiche Renovierung des Marbacher Schiller Nationalmuseums abgeschlossen sein, das – falls nicht Unvorhergesehenes die Bauplanungen durchkreuzt – mit einer neuen Dauerausstellung zum Dichterfürsten eröffnet werden wird. Zur Verehrung der kirchlichen Märtyrer und Heiligen gehörte immer der Reliquienkult. Die Gläubigen näherten sich voll Ehrfurcht den materiellen Spuren, die von den Heroen ihrer Religion auf Erden hinterlassen worden sind – nicht nur weil man in ihnen so etwas wie handfeste Beweise für die Existenz dieser Heiligen sehen konnte, sondern eher weil die Nähe zu der Aura der Reliquien bereits Erlösung zu versprechen schien. Diese Vorstellungen übertrugen sich im Laufe des 18. Jahrhunderts auch auf die neuen Sinnstifter, die Dichter. Nicht mehr nur deren immaterielle Schöpfungen, also ihre Dichtung, wurde überliefert, bewahrt und vergöttert, sondern ebenso die materiellen Überreste ihres Lebens – was in den Jahrhunderten zuvor als weitgehend unvorstellbar, ja unverständlich betrachtet worden wäre. Kein Wunder auch, dass nunmehr die Rolle des Märtyrers oft auf die Schriftsteller projiziert wurde, die sich aufopferten im Dienste ihres Werkes, und also zum Wohle des sinnbedürftigen Lesers. Dieser literarische, kunstreligiöse Reliquienkult begann nicht mit Schiller und Goethe. Aber er nahm nicht zuletzt aus politischen Gründen mit diesen beiden Großschriftstellern immer stärker Fahrt auf. Das in Kleinstaaten zersplitterte Deutschland konnte sich in ihnen und ihren Werken zumindest in geistiger Hinsicht als vereinte Kulturnation empfinden. So begann die Devotionalienjagd mit Blick auf ihre Personen bereits früh und steuerte im 19. Jahrhundert auf skurrile Höhepunkte zu. Dieser Leidenschaft verdankt das Deutsche Literaturarchiv eine ausufernde Sammlung mit Schiller-Reliquien, die nun den Leitfaden durch die neue Ausstellung bilden. Schillers Locken und Socken. Schillers Hut und Hose. Schillers Spiegel und Stirnband. Sein Löffel und Riechfläschchen. Seine Uhr und Weste. Seine Spazierstöcke und Schuhschnallen. Schillers Zahnstocher! Alles ist versammelt. Alles schien seinen Verehrern des Bewahrens, Bewunderns und Verherrlichens wert. Naturgemäß sollte man sich diesen Fragmenten eines Klassikerlebens nicht mit den strengen Echtheitserwartungen eines naturwissenschaftlichen Zeitalters nähern. Stammten alle Locken, die jetzt in Marbach zu sehen sind, tatsächlich von des Dichters Haupt, hätte er sowohl blond wie auch braun- und rothaarig sein müssen. Ob er tatsächlich mit den Karten spielte, mit den Federn schrieb oder sich auf die Stöcke stützte, die hier ausgestellt werden, ist mit letzter Sicherheit nicht zu sagen. In diesen Zweifeln hätte ein schwerwiegendes Problem für die Ausstellung liegen können. Kann man in den versammelten Bruchstücken aus Schillers Biographie, wenn sie biographische Authentizität oft nur sehr bedingt beanspruchen können, mehr sehen als eine Art Kuriositätensammlung naiver Dichteranbetung? Könnten sie heute überhaupt noch der angemessene Gegenstand einer großen Schau sein? Die Leiterin der Marbacher Literaturmuseen, Heike Gfrereis, hat diese Klippe einfallsreich umschifft, und aus einer Ausstellung von recht gewöhnlichen Gegenständen unklarer Herkunft eine Literaturausstellung gemacht. Sie hat die Devotionalien nämlich lediglich als Aufhänger betrachtet, als Einladungen, um bestimmten Motiven in Schillers Werk und über Schillers Werk hinaus in den unermesslichen Manuskript-Schätzen des Deutschen Literaturarchivs nachzugehen. Zum Beispiel: Schillers Hut nimmt sie zum Anlass, Belege dafür vorzustellen, welche Rolle der Hut in Schillers Werk spielt. Dass Geßlers Hut auf einer Stange in Schillers „Wilhelm Tell“ eine zentrale Rolle spielt, sollte selbst heute noch zum Allgemeinwissen gehören. Doch wer wüsste zu sagen, dass ein Hut auf einer Stange schon auf der Titelabbildung eines Buches aus Schillers Bibliothek zu sehen war? Und zwar auf dem fünften Band von Goethes „Schriften“ aus dem Jahr 1790, also fast 15 Jahre bevor Schiller seinen „Tell“ schrieb. Die Abbildung ist eine Anspielung auf die letzte Szene von Goethes „Egmont“, in der eine himmlische Vorbotin des Todes dem eingekerkerten Egmont „den Stab mit dem Hute“ darauf zeigt. Vom Stirnband Schillers, das er in früher Vorwegnahme der Akupressur gelegentlich gegen Kopfschmerzen um den Schädel band, ist es für Heike Gfrereis wiederum nicht weit zu der Gewandbüste, der gerade fünfunddreißigjährige Schiller von sich anfertigen ließ. Diese wahrhaft hoheitliche Form der Darstellung war, so kann die Kuratorin zeigen, schon vor Schiller aus dem Repertoire der antiken und barocken Herrscherporträts für Bildnisse von Schriftstellern übernommen worden. Das Ergebnis begeisterte Schiller in seinem Fall nicht ohne kräftige Beimischung von Selbstverliebtheit: „Ganze Stunden könnte ich davorstehen“, schrieb er an den Bildhauer Dannecker, der die Büste angefertigt hatte, „und würde immer neue Schönheiten an dießer Arbeit entdecken.“ So ist eine Ansammlung von zweifelhaften lebensgeschichtlichen Zeugnissen durch kluge Ergänzungen zu einer sorgsam arrangierten ideengeschichtlichen Ausstellung erweitert worden, die mit Überraschungen aufwarten kann. Höhepunkte sind allerdings nicht zuletzt jene Stücke, in denen sich beide Aspekte, Lebens- sowohl wie Ideengeschichte, zwanglos vereinen. Gezeigt wird zum Beispiel das Arbeitsexemplar von Kants „Kritik der Urteilskraft“ aus Schillers Bibliothek. Selbst ein Betrachter mit wenig Bereitschaft zu sentimentalen Anwandlungen spürt hier einen Hauch von Aura. Wohl kein anderes Buch gewann für die Poetik Schillers und seine Essays solche Bedeutung wie dieses. Man sieht die Striche, die Randbemerkungen Schillers und glaubt sich einen Moment ganz nahe jenem Fluss der Ideen, in dem sich Literaturgeschichte manifestiert.