Hans Magnus Enzensberger, Peter Hacks und die Abenteuerlust

So eine Karriere ist selten. 1955 veröffentlichte Hans MAGNUS Enzensberger, gerade 25 Jahre alt, seinen ersten Aufsatz, weitere folgten. 1957 erschien der erste Lyrikband „verteidigung der wölfe“ – und spätestens danach wurde er zu den führenden Schriftstellern des Landes gezählt. Nicht wenige sehen in ihm bis heute den repräsentativen Intellektuellen der Bundesrepublik. Jetzt ist in der kleinen, aber klugen Zeitschrift „Berliner Hefte“ (Heft 8. 10,- €. ISSN 0949-5371) erstmals ein Briefwechsel zwischen Enzensberger und Peter Hacks publiziert worden. Hacks war 1955 als Kommunist von der Bundesrepublik in die DDR übergesiedelt und griff Enzensberger 1958 in der Zeitschrift „Junge Kunst“ mit sehr orthodoxen marxistischen Thesen an. Doch nicht diese Attacke ist das Überraschende an der Korrespondenz. Auch nicht Enzensbergers Bekenntnis, er halte ein sozialistisches Wirtschaftssystem für zukunftsträchtiger als ein kapitalistisches, das er heute trotz akuter Finanzkrise wohl etwas behutsamer formulieren würde. Nein, bemerkenswert ist vor allem Enzensbergers frühes Plädoyer für politischen Pragmatismus und gegen jede Form von Ideologie: „In Zweifelsfällen entscheidet die Wirklichkeit.“ Gewöhnlich gelten die Gräben zwischen den hochfliegenden Utopien der Dichter und den tagtäglichen Mühen der Politiker als schwer überbrückbar. Doch in diesen Briefen bezieht der knapp dreißigjährige Enzensberger, dem man damals gern die Rolle des Zornigen Jungen Mannes zudachte, und der in den Sechzigerjahren als Mitwortführer der Studentenbewegung galt, vor allem Positionen, die sich kaum von denen einer kämpferischen Sozialdemokratie unterscheiden. Wenn Hacks zum Beispiel von „revolutionären Akten“ schwärmt, die für veränderte Eigentumsverhältnisse und damit für eine gerechtere Sozialordnung sorgen, hält ihm Enzensberger entgegen: „Eigentumsverhältnisse lassen sich auch evolutionär verändern.“ Mehr noch: „Ja, ich glaube, dass man die verbesserungsbedürftigen Zustände verbessern kann, ohne die Bourgeoisie durch bürgerliche oder militärische Eingriffe von außen gewaltsam zu stürzen. Die Wirklichkeit spricht dafür.“ Undsoweiterundsofort. Enzensberger tritt hier nicht als einseitiger Verteidiger des Westens auf, wohl aber als einer der Gewaltlosigkeit und des unvoreingenommenen Denkens: „Ich fürchte, wenn er nicht weitergedacht wird, wird der Marxismus bald einer Mumie ähneln. Wahrheit, wenn Sie mich fragen, ist die permanente Revision.“ Hacks erweist sich verglichen dazu als intellektuell unbeweglich und hat seinem Briefpartner außer elegant formulierten Dogmen wenig entgegenzuhalten. Bleibt die Frage, warum Enzensberger zehn Jahre später auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung in seinem Essay „Berliner Gemeinplätze“ nicht mehr die permanente Revision, sondern stattdessen manche revolutionären Gewissheiten feierte, von denen er sich danach sehr bald wieder verabschiedete. Doch ein Schriftsteller wie Enzensberger ist wohl ohne eine gute Portion Abenteuerlust nicht vorstellbar. Und die abenteuerlichsten Erfahrungen waren 1968 nicht auf Seiten der Gegenspieler der Studentenbewegung zu machen.

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