Böll, Johnson, Grass: Auf der Buchmesser 1959 jubelten die Kritiker, die deutsche Literatur habe endlich wieder Weltniveau erreicht Des Beifalls, des Gläserklingens, des Schulterklopfens war kein Ende. Auf der Buchmesse in Frankfurt wird immer gern gefeiert. Dafür ist sie da. Aber 1959 zelebrierte sich die Branche noch selbstbewusster als sonst. Drei große deutsche Romane in einer Saison! Drei Bücher, die Literaturgeschichte schreiben würden! Man war wieder wer. 14 Jahre nach dem kompletten politischen, militärischen, moralischen Ruin hatte Deutschland sich in der Weltliteratur zurückgemeldet. Heinrich Bölls „Billard um halb zehn“ – was für ein Wurf. Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ – was für ein Debüt. Günter Grass’ „Blechtrommel“ – was für ein literarisches Erdbeben. Drei Meilensteine, eine Zäsur. Nach ihr strukturieren noch heute manchen Fachleute die Literaturgeschichte der Bundesrepublik. Von 1945 bis 1959 die Stunde Null, die Literatur des Kahlschlags und der Abschied von den großen Alten: Heinrich Mann, Thomas Mann, Brecht, Benn, Döblin, sie alle starben bis 1957. Die literarische Bühne hatte sich geleert, sie war bereit für den neuen Auftritt. Dann 1959 der dreifache Paukenschlag – und in seiner Folge die Politisierung der Literatur und des Literaturbetriebs bis hin zur Studentenbewegung 1968. So lehrt es die literaturwissenschaftliche Schulweisheit. Liest man den legendären Jahrgangs-Dreier heute, fünfzig Jahre danach, begegnet man zwei starken Romanen, auf die sich zart, aber unabweisbar der Staub der Jahrzehnte gelegt hat, und einem Meisterwerk, das mit ungebrochner erzählerischer Macht überwältigt. Mit „Billard um halb zehn“ wurde Heinrich Böll noch entschiedener zum politischen Schriftsteller. In seinen frühen Erzählungen litten seine Helden am sinnlosen Schrecken des Krieges. In seinem Roman nun richtet er den Blick auf die Verantwortlichen, die willigen Vollstrecker des Nationalsozialismus, am Beispiel einer Architektenfamilie: Der nazinahe Vater hat bei Kriegsende eine vom Großvater erbaute Abtei gesprengt, der Enkel errichtet sie in Friedenszeiten neu. Die Symbolsprache des Buches, die von Büffeln und Lämmern spricht und Täter und Opfer meint, nimmt sich nicht eben leichfüßig aus. Aber Bölls Scharfblick auf die Milieus und auf die Details ihres täglichen Lebens lässt beim Lesen die Atmosphäre der fünfziger Jahre eindrucksvoll wiederauferstehen. Uwe Johnsons „Mutmaßungen“ sind im Vergleich dazu viel kühler, intellektueller. Johnson machte die deutsche Teilung zum Thema der Literatur und deklinierte in seinem Roman einen ganzen Katalog moderner Schreibtechniken durch: abrupte Schnitte wie im Film, innerer Monolog, vielfach wechselnde Erzählperspektiven, ein Konzert von Stimmen, das wie aus dem Nichts zum Leser dringt. Vor allem damit entlockte Johnson den Kritikern seinerzeit triumphale Lustschreie: Die Spuren von James Joyce fanden sie in seiner Prosa wieder, von Döblin, Faulkner oder Arno Schmidt. Doch heute wirkt das wie die Avantgarde von gestern, ein wenig zu formal, zu gewollt, zu hochfahrend. Eher Pflichtlektüre. Die wahre Lust des Lesens dagegen überkommt einen, sobald man die „Blechtrommel“ wieder aufschlägt. Dieser Roman hat tatsächlich Epoche gemacht. Seine Mischung aus Realismus und Groteske, aus historischer Genauigkeit und Sprachartistik, märchenhaftem Gläserzersingen und bitterer Kleinbürgersatire ist eine bis heute mitreißende literarische Wildwasserfahrt. Vielleicht, so schrieb das amerikanische Magazin „Time“ noch zehn Jahre nach der „Brechtrommel“, vielleicht sehe Grass „nicht so aus wie der größte lebende Romancier der Welt oder Deutschlands, aber er mag beides durchaus sein.“ Noch vierzig Jahre danach, 1999 erhielt Grass vor allem für die „Blechtrommel“ den letzten Literaturnobelpreis des 20. Jahrhunderts. Ohne das Vorbild dieses Buches wären John Irvings „Garp“ und „Hotel New Hampshire“ oder Salman Rushdies „Satanische Verse“ nicht denkbar. Wie immer man zu den anderen Romanen von Grass steht, wie immer man seine spätere politische Rolle beurteilt – mit der „Blechtrommel“ stieg die bundesdeutsche Literatur der ersten Nachkriegsjahrzehnte in eine andere Gewichtsklasse auf. Nüchtern betrachtet wäre von der Zäsur des Jahren 1959 ohne dieses Buch wohl kaum je die Rede gewesen – selbst wenn man addiert, dass neben den drei Romanen in jenem Jahr noch Paul Celans „Sprachgitter“, Nelly Sachs’ „Flucht und Verwandlung“ und Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ erschienen. Mit der „Blechtrommel“ aber wurde das neunundfünfziger Jahr zur Legende – und weil im Literaturbetrieb zugleich wichtige Personalentscheidungen fielen, fanden sich viele, die an der Legende gern fortgestrickt. Im Sommer 1958 war Marcel Reich-Ranicki in die Bundesrepublik übergesiedelt, Joachim Kaiser übernahm 1959 sein Amt in der Süddeutschen Zeitung – damit gingen führende Kritiker der folgenden Jahrzehnte auf ihre Startpositionen. Ähnlich im Verlagsgeschäft: Am 31. März 1959 starb Peter Suhrkamp, 1960 Ernst Rowohlt. Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ wurde im Herbst 1959 der erste große Erfolg Siegfried Unselds als Herr des Suhrkamp Verlags. An Suhrkamps Sterbetag, schrieb Unseld später, habe er Johnsons Manuskript auf seinen Schreibtisch geholt und schließlich für die Publikation entschieden. Unselds Biograph Peter Michalzik notiert dazu lakonisch, der Verlagsvertrag zu den „Mutmaßungen“ wurde schon am 2. und 9. März unterschrieben, drei Wochen vor Peter Suhrkamps Tod, könne also nicht ohne Suhrkamps Zustimmung zustanden gekommen sein. 1959 habe, so klang es schon damals in Rezensionen an und ist bis heute in einigen Literaturgeschichten zu lesen, die deutsche Prosa nach dem Kulturbruch der Nazi-Jahre wieder Anschluss an die Moderne gefunden. Keine sehr überzeugende Behauptung, wenn man bedenkt, welche Bücher von Arno Schmidt, Wolfgang Koeppen oder Max Frisch schon zuvor erschienen waren. Gleichwohl ist die Behauptung bezeichnend. Denn ebenfalls 1959 gab im fernen New York der Kritiker Irving Howe in der Zeitschrift Partisan Review einen Essay zum Druck mit dem Titel „Mass Society and Post-Modern Fiction“. Mit ihm wurde, als man sich hierzulande beglückwünschte, die Moderne wiederentdeckt zu haben, in Amerika die Debatte eröffnet darüber, wie eine zu Norm und Fessel gewordene literarisch Moderne endlich überwunden werden könne. In Deutschland gab es nur einen Schriftsteller, der zu dieser Zeit die Moderne bereits aus historischer Distanz zu betrachten begann. 1960 eröffnete Hans Magnus Enzensberger sein „Museum der modernen Poesie“ mit den Sätzen: „Die moderne Poesie ist hundert Jahre alt. Sie gehört der Geschichte an“, und fuhr fort: „In Bewegungen und Gegenbewegungen, Manifesten und Antimanifesten ist der Begriff des Modernen ermüdet. Seine Energie hat sich verbraucht.“ Es dauerte noch über ein Vierteljahrhundert, bis diese Sätze hierzulande nicht nur gehört, sondern verstanden und die Postmoderne zum literarischen Thema wurde.
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