„Rebus“

Hans Magnus Enzensberger nähert sich den Bilderrätseln der Welt mit menschenfreundlichen Gedichten, ohne deshalb ein freundlicher Dichter zu werden

Es ist keine drei Jahre her, da stellte Hans Magnus Enzensberger eine Auswahl seiner Lyrik aus über einem halben Jahrhundert unter dem nüchternen Titel „Gedichte 1950-2005“ zusammen. Eröffnet hat er die Sammlung mit einer Art fantastischem Preislied, das er schrieb, als er seinen zwanzigsten Geburtstag noch nicht lange hinter sich hatte. Es heißt „Utopia“ und feiert eine farbenfrohe Wunschwelt, in der Prokuristen „durch die Wolken radschlagen“, Päpste „aus den Dachluken zwitschern“ und das Glück „wie eine Meuterei“ ausbricht. Ein vielsagender Beginn. Politische Utopien sind mittlerweile stark im öffentlichen Kurs gesunken, und Versuche, sie Realität werden zu lassen, stehen gemeinhin im Ruf robespierrehafter Zwangsbeglückung. Allerdings konnte man in diesem Auftakt zu der von Enzensberger selbst gezogenen lyrischer Lebenssumme eben auch so etwas sehen wie die Erinnerung des gereiften Dichters an den Überschwang jener frühen Jahre, in denen er als beobachtender Animateur der Studentenbewegung das Kommandowort „Revolution“ großzügig unter seinen Zuhörern austeilte. Doch diese Zeit des Überschwangs ist lange her. Auch für Enzensberger. Nach dem Ende der Studentenbewegung hat er so entschieden und klar wie kein anderer deutscher Schriftsteller am Imageverlust der Utopien und anderer großer politischer Erzählungen mitgewirkt. Ein Jahrzehnt nach 1968 konstatierte er knapp, was sich linke wie rechte Revolutionäre hinter die Ohren schreiben sollten, nämlich dass „wir die Gesetze der Geschichte nicht kennen“, dass deshalb der Verlauf der Geschichte „unvorhersehbar ist“ und dass wir, „wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen“. Folgerichtig hat Enzensberger bis heute für große Weltveränderungsentwürfe außer Hohn wenig übrig und plädiert ebenso scharfsinnig wie scharfzüngig für eine Politik des Sichdurchwurschtelns, des pragmatischen Flickwerks und der Improvisation. Daran ändert sich in seinem neuen Lyrikband „Rebus“ wenig. Auch hier stimmt er sein Loblied an nicht auf allumfassende Konzepte oder allumstürzende Ideen, sondern auf die zahllosen tagtäglichen Anstrengungen, die das Leben lebbar machen, auf das fortgesetzte mühsame Stückwerk der Humanität: „Ich meine nur diesen kleinen Kerl da der das, was ihr zerfetzt habt, beharrlich zusammenflickt – wie er heißt, weiß ich nicht, er wird ja nirgends erwähnt –, die Großmutter, die am Flussufer das besudelte Hemd des Gefolterten wäscht, und der bucklige alte Mechaniker, der am Horn von Afrika diese Wasserpumpe, die ihr schon wieder kaputtgemacht habt, zum xten Mal repariert. Die meine ich, die einzigen, die immerzu etwas ausrichten, wenn auch nur das, was ihnen möglich ist: etwas Winziges, Vorläufiges, Rätselhaftes, und woher es kommt, daß sie nicht aufgeben, das wüßte ich gern.“ So etwas kann Enzensberger wie kein anderer: Die Leichthändigkeit und zugleich der Ernst, mit denen er hier – zwei, drei Striche genügen ihm – Situationen und Schicksale skizziert, dazu ein Empfinden für die Riesenhaftigkeit weltweiten Elends weckt und das Argument anklingen lässt, dass die Selbstorganisation des Nächstliegenden allemal jeder staatlichen Verordnung fürs Große und Ganze vorzuziehen sei. In seinem geräumigen Dichterherzen ist auch heute, kurz vor dem achtzigsten Geburtstag, noch immer eine Kammer für anarchistische Leidenschaften reserviert. All den Hymnen, die derzeit angesichts der Finanzkrise auf den Staat als Retter und Aufseher angestimmt werden, hält er seine Warnung vorm „Leviathan“ (wie er mit Thomas Hobbes den Staat nennt) entgegen, vor „unserem riesigen Mitesser“, der „als Massenmörder unübertroffen“ ist und den wir trotz allem nie loswerden: „Für uns spricht es nicht, / daß wir ihn nötig haben, / diesen ewigen Langweiler.“ Enzensbergers Tonfall ist bei all dem merklich gelassener geworden. In jüngeren Jahren war das Wort „schneidend“ eine seiner Lieblingsvokabeln, wenn es darum ging, die Sprache eines von ihm bewunderten Autors zu beschreiben. Und wer auf den Gedanken verfiel, diesen Begriff auf Enzensbergers Gedichte oder Essays anwandte, hatte mit seinem Groll nicht zu rechnen. Er schliff seine Sätze, bis sie den Gedanken eine ebenso elegante wie messerscharfe Kontur gaben, und seine Verse, bis sie Erfahrung so eindrucksvoll wie zugespitzt auf den Punkt brachten. Das ist bis heute der unverwechselbare Enzensberger-Sound. Zum Beispiel wenn er als Verteidiger der Wölfe den Lämmern vorhält: „Gelobt sein die Räuber: ihr, / einladend zur Vergewaltigung, / werft euch aufs faule Bett / des Gehorsams. Winselnd noch / lügt ihr. Zerrissen / wollt ihr werden. Ihr / ändert die Welt nicht.“ Wer als Leser nicht flink genug war auf den Beinen, konnte von diesem pointenblitzenden, bendenden Sichelwagen der Lyrik schnell überrollt werden. Verglichen damit klingen Enzensbergers Gedichte heute ruhiger, gefasster. Aber es wäre nicht nur ungerecht, sondern schlicht falsch, deshalb von Altersmilde oder Resignation zu sprechen. Auch ein Ausdruck wie Abgeklärtheit beschreibt ihre Tonlage nur dann richtig, wenn man darunter ein zunehmendes Klarwerden dieses Autors über die eigene Aufgeklärtheit versteht: „Du willst es ja nicht anders haben“, ruft er sich zu, „gib’s doch zu! Du brauchst, / woran du krankst, den Spaß, / die Angst, den Haß und deine Ruh, / die Frau, das Geld, den Streß.“ Mit anderen Worten: Enzensbergers neuer Lyrikband hat, zumal in seinem ersten Zyklus „Gleichgewichtsstörung“, eine demonstrative Neigung zur Selbstreflexion. Der Dichter betrachtet sich hier als Rätsel. Aber er richtet sich deshalb nicht ein in den zähen Grabenkämpfen der Innerlichkeit, sondern nimmt sich vielmehr bissig an die Kandare: „Psyche, Ego, Identität – / ziemlich fremde Worte. Je mehr du herumbohrst / in diesem Sumpf, / desto sinnloser.“ Ja, er macht sich lustig über die eigene Psyche: „Sie ist ja so sensibel, die Ärmste. / … / Schon ist sie gekränkt, / beklagt sich, droht mit Migräne. / … / Unzertrennlich sind wir, / bis daß der Tod uns scheide, / meine Psyche und mich.“ Wenn Enzensberger, wie hier, Gedanken an den Tod häufiger nicht nur durchschimmern lässt, sondern sehr direkt anspricht, ist das bei den Gedichten eines bald Achtzigjährigen nicht weiter verwunderlich. Bemerkenswert ist jedoch die Vogelperspektive, aus der er dabei nicht selten den Blick auf sich selbst richtet. Fast scheint es so, als würden verschiedene Haltungen durchprobiert, in denen dem eigenen Ableben entgegengetreten werden kann, um nach der persönlich angemessenen Ausschau zu halten. Doch zurück zum eingangs angesprochenen Verhältnis zur Utopie: Denn zur Selbstreflexion des Zweiflers und Spötters Enzensberger gehört, dass er auch zweifelt am Prinzip des Zweifels und das Prinzip des Spottes verspottet. Und ebenso reizt auch die eigene Skepsis gegenüber den politischen Utopien ihrerseits seine Skepsis. Wie schon in seinem Essay „Vermutungen über die Turbulenz“ fragt er danach, ob nicht gerade in der Unvorhersagbarkeit der Zukunft, in der unberechenbaren Vielfalt der Möglichkeiten eine überraschende Chance liegen könne? Sicher, der Turmbau zu Babel, jenes Urbild einer Utopie, ist gescheitert, aber „daß wir seither / nicht alle dasselbe reden, in einerlei Zunge, / hat auch sein Gutes. Mißverständnisse, Krach, / ja, das ist mühsam, doch sagen am Ende nicht / fünftausend Sprachen mehr als die eine?“ Der neue Band endet mit einem Langgedicht mit dem Titel „Coda“, das den Klang eines Resümees, ja eines vermächtnishaften Fazits annimmt. Immer wieder umkreist Enzensberger hier die Frage nach dem, was möglich, was erreichbar ist. Man darf das durchaus politisch verstehen. „Alles Mögliche – niemand weiß, was das ist.“ Damit beginnt dieses Gedicht, und auch das redet keinen ideologischen Großprojekten das Wort. Es schwärmt vielmehr vom jenem Glück, das in der Abwesenheit des vermeidbaren Elends besteht, vom Glück des geheizten Zimmer, des klaren, sauberen Wassers und lobt fast wie Brecht die schlichte Freude an der Kastanie im Hof oder am Geruch eines Sommerregens. An solchem bescheidenen Luxus aber kann sich, ungetrübt von tagtäglicher Not, nur ein kleiner Teil der Menschheit erfreuen: „Daß nicht alles Mögliche möglich ist, / tut mir leid. Ihr tut mir leid, / liebe Genossen.“ Doch, muss man sich damit abfinden? „Moment mal, sagt das Gehirn, / ungläubig wie es ist, maybe sagt es, / … / noch ist das Spiel nicht zu Ende. / Totzukriegen ist das Mögliche nie.“ Mit politischer Agitation hat das nichts zu tun, wohl aber damit, die Idee der politischen Utopie nicht verloren zu geben, sie weiterhin als Aufgabe, ja als Auftrag zu betrachten und ihr so einen Platz frei zu halten – denn niemand weiß, was das Mögliche ist. Hier reicht der fast achtzigjährige Hans Magnus Enzensberger dem Nachwuchslyriker gleichen Namens, der „Utopia“ schrieb, über sechs Lebensjahrzehnte hinweg die Hand. Beeindruckend ist die Sicherheit, mit der Enzensberger nach wie vor seine literarischen Mittel handhabt. Auch in diesem Band bleibt er dem reimlosen, freirhythmischen Gedicht fast durchgehend treu. Formale Experimente sind seine Sache nicht. Lieber bündelt er seine Gedichte zu Zyklen, die durch die zahllosen Anspielungen, Parallelen, Kontraste, Widersprüche der einzelnen Texte untereinander zu einem schillernden, schwer festlegbaren Ganzen werden. Enzensbergers Sprache bleibt bei all dem leicht und schwingend, klar und doch konzentriert. Er ist ein Meister des einfachen und doch doppelbödigen Vokabulars. Die Bedeutungsnuancen, die er in seinem Abschlussgedicht „Coda“ der Rede vom „Möglichen“ abgewinnt und der Notwendigkeit etwas „auszurichten“, dürfte noch manche literaturwissenschaftliche Interpretationsdebatte befeuern. Aus all dem spricht eine menschenfreundliche Haltung, aber Enzensberger ist deshalb noch lange kein freundlicher Dichter. Trotz seines nicht mehr schneidenden, sondern inzwischen gelasseneren Tonfalls, trotz seines Plädoyers für das Stückwerk der Humanität und für bescheidene Vorstellungen vom Glück ist Enzensberger nicht zur Mutter Theresa der Gegenwartslyrik geworden. Er beherrscht und bevorzugt nach wie vor auch die schroffen Gesten. „Euch zu beichten – kommt nicht in Fragen“, teilt er uns mit und: „Nein, ich lasse mich nicht provozieren, / ich rege mich, verdammt noch mal, / nicht mehr auf über euch, / denn ihr könnt mich mal.“ Klare Worte. Doch selbst die sind nicht Enzensbergers letztes Wort, denn selbst in ihnen schwingt noch ein Gutteil Ironie mit. Denn gerade in diesem Band gewährt er, auch wenn er tatsächlich nie in den Ton einer Beichte verfällt, den Lesern einige für seine Verhältnisse ungewöhnlich intime Einblicke. In manchen Gedichten spricht er nahezu ungeschützt und deshalb umso anrührender von seinen Depressionen, seiner Todesangst und Todeslust. Vom „schneidenden“ Enzensberger der frühen Jahre ist hier fast nichts mehr zu spüren, statt dessen von einer Verletzlichkeit, die er zuvor kaum je erkennen ließ: „Doch was mich schützt, auch wenn es euch nichts angeht, ist einzig und allein meine Frau. Denn sicherer als der einsame Schwimmer fühlt sich in seiner Nußschale, seinem Bett, in den seichten Sintfluten, die uns heimsuchen, wer nicht allein ist.“

Hans Magnus Enzensberger: „Rebus“. Gedichte
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009 114 Seiten, 19,80 €

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