Matthias Politycki und „Die Sekunden danach“

Wer es sich leicht machen möchte mit dem Poeten Matthias Politycki, nennt ihn den Bruder Lustig unserer Lyrik. Der entsprechende Befund ist rasch erhoben: Seine beeindruckende Sprachartistik in Tateinheit mit fortgesetzter Wortspielerei, seine Vorliebe für populäre, scheinbar triviale Themen, die sonst meist als komplett literaturuntauglich abgetan werden, seine Weigerung, in die handelsübliche Dichter-Melancholie einzustimmen und schließlich sein auffälliges Talent, traditionelle Formen mit überraschenden, gar nicht traditionellen Inhalten zu verknüpfen. Hier hat es, so die schnelle Schlussfolgerung, einen gewiefter Entertainer ins lyrische Gewerbe verschlagen, wo er wirkt wie ein beschwingter Harald Schmidt in einer Beckett-Inszenierung. Nichts davon ist falsch, jedes Wort dieser Diagnose trifft zu. Wer mal wieder Gedichte lesen und nicht erst dechiffrieren will, wer bei Heine Freude findet an Ironie in Versform, bei Brecht an bissig klugem Witz, bei Benn am rasanten Zappen durch diverse Tonfälle, der ist gut beraten, seine Laune aufzubessern mit Polityckis neuer Gedichtsammlung „Die Sekunde danach“. Es ist der Band eines Profis, effektsicher, formbewusst, intelligent, abwechslungsreich. Hier kennt einer sein Metier und seine Mittel und weiß exakt, was er will und wie er es erreichen kann. Hier hat einer nicht die geringste Lust, sich den üblichen Erwartungen des Lyrikbetriebs zu fügen, der vom Dichter so gern vage Empfindungen hören will, fein verteilt auf mysteriöse Zeilen im Flattersatz. So weit, so gut. Aber ist das alles? Gibt es bei Politycki noch mehr, noch anderes zu entdecken? Woraus genau besteht der Stoff, mit dem er sein Publikum sprachakrobatisch unterhält? Die Lyrik gilt von alters her als die subjektivste aller Literaturgattungen. In der Poesie ist der Schriftsteller ganz er selbst, hier darf er’s sein. Politycki aber hat eine ausgeprägte Neigung zum Rollengedicht. Er nascht dichtend an immer neuen Sprachindividualitäten, probiert sie durch wie ein Schauspieler die verschiedenen Rollenfächer. Der früh versterbende Kioskbesitzer Ansgar Wischenbart zum Beispiel ist so ein Fall im neuen Band, oder der durch den Slang des Alltags schlingernder Rudi Schachtlmacher, oder der reichlich buchhalterisch veranlagte Dr. Daxenberger. Nun könnte man solche lyrischen Identitätswechsel für ein übliches Stilmittel des satirischen oder kabarettistischen Schreibens halten. Doch Politycki macht sich nicht lustig über die von ihm geschaffenen Sprachcharaktere. Er will sie nicht dem Spott aussetzen, sondern sie vor unseren Ohren wahrnehmbar machen als Teilaspekte einer gewöhnlichen zeitgenössischen Existenz. Auch ist das lyrische Ich offenkundig sehr von den Schauplätzen seiner Auftritte abhängig, jedenfalls nimmt es mit jedem Standortwechsel eine veränderte Färbung an. Im Café ist es anders als in der Kneipe, in Dublin anders als in der „dänischen Südsee“, in der vertrauten Zweitsamkeit anders als in der notwendigen Arbeitseinsamkeit. Doch dieses schwankende, schaukelnde, schlotternde Selbstempfinden wird hier offenkundig nicht als Grund zur Sorge, sondern vielmehr als unvermeidliche Gegebenheit, als Schicksal und letztlich auch als Bereicherung der Lebensmöglichkeiten empfunden. Dieses so vielgestaltige Ich fühlt sich nicht unwohl in seinen ständig wechselnden Häuten. Was ein wenig an die Formel des Soziologen Zygmund Baumann erinnert: „Wenn das moderne Problem der Identität darin bestand, eine Identität zu konstruieren und sie fest und stabil zu halten, dann besteht das postmoderne Problem der Identität hauptsächlich darin, die Festlegung zu vermeiden und sich Optionen offenzuhalten.“ Doch das soll nicht heißen, dass hier ein ebenso halt- wie geistloser Daseinstaumel behaglich bedichtet würde. Politycki ist jetzt satt über Fünfzig und damit in einem Alter, in dem Unvermeidliches klarer vor Augen tritt. Verschwiegen hat er den Tod als Antriebsmittel seiner lyrischen Arbeit nie, doch in den 44 Gedichten aus „Jenseits von Wurst und Käse“ (1995) und in den 66 Gedichten aus „Ratschlag zum Verzehr von Seidenraupen“ (2003) war doch spürbar häufiger von den Verlockungen guter Bars oder schöner Frauen die Rede als in den 88 Gedichten der jetzt erschienenen „Sekunden danach“. (Nach der Logik der Serie müsste die nächste Lyriksammlung Polityckis 110 Gedichte zählen.) Doch eine intensivere Beschäftigung mit dem Tod muss bekanntlich nicht zwangsläufig Depression und Schwermut zur Folge haben, sondern kann zum Anlass werden, mit geschärften Sinnen zu erleben, was immer es zu erleben gibt. Von der letztgenannten Haltung geben Polityckis neue, auf den ersten Blick so unbeschwerte Gedichte literarisch Auskunft. Das Cover des neuen Bandes zeigt das Foto einer gigantischen Welle, auf deren steiler Flanke ein Surfer reitet. Die Welle verschafft ihm den nötigen Schwung für seinen Ritt. Doch sie wird ihn auch unfehlbar unter sich begraben. Matthias Politycki ist heute, nachdem Robert Gernhardt und Peter Rühmkorf Tod sind, soweit ich sehen kann der größte lebende Sprachkulinariker unter den deutschen Dichtern.

Matthias Politycki: „Die Sekunden danach“. 88 Gedichte
Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 2009 128 Seiten, 17,95 €

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