Svealena Kutschke entwirft in ihrem Debütroman einem Liebenskummeralbtraum
Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu. Heine hat sie auf vier Zeilen gebracht: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen / Die hat einen anderen erwählt; / Der andre liebt eine andre, / und hat sich mit dieser vermählt.“ Wem so etwas widerfährt, dem bricht das Herz entzwei. In Svealena Kutschkes Debüt „Etwas Kleines gut versiegeln“ ist die Konstellation personell komplexer und von Vermählung definitiv nicht die Rede, doch alles läuft auf die alte, herzzerreißende Geschichte hinaus: „Marc beobachtete Jonas, Jonas starrte Ben an, Ben fixierte mich, ich heftete meine Blicke wie üblich auf Nick, Nick schaute Linn an, Linn schloss die Augen. Cut.“ Diese Kette begehrlicher Blicke bringt aber nur den zweiten Teil eines umfassenden Liebesunglücks auf eine knappe Formel. Der erste Teil endete bereits zuvor desaströs. Die Erzählerin Lisa war im heimatlichen Deutschland einer Zuneigung zum kapriziösen B. verfallen, der sich jedoch ausschließlich zu Männern hingezogen fühlte, gern Frauenkleider trug und Selbstmord beging. Woraufhin Lisa zwischen sich und ihren Schmerz den halben Weltball legt und in Australien Zuflucht sucht. Dort wohnt sie beim homosexuellen Marc, schläft mit dem bisexuellen Ben und verliebt sich in den heterosexuellen Nick – der aber auch gern mal Omas rosa Nachthemd trägt. Ihr Pech in Liebensdingen wird Lisa gleichwohl nicht los, denn Nick bleibt seiner Linn eisern treu, obwohl die ihm schon lange den Laufpass gab. Das Beste an dem Roman ist Svealena Kutschkes frische, farbige Sprache. Sie hat großen Mut zu originellen, mutwillig windschief gehaltenen Bildern. Mal sind sie betont lakonisch – wenn Lisa auf einem Friedhof kräftige Züge aus der Weinflasche nimmt, spürt sie: „Der Zwischenraum zwischen mir und dem Tag wurde immer größer.“ Mal sind sie betont poetisch – wenn Lisa mit einem Begleiter einen Joint teilt, resümiert sie: „Gemeinsam träumten wir von einem Mond, der nie unterging, von Zigaretten, lang wie die Milchstraße, von Drinks, tief und unendlich, von Liedern mit Harmonien wie ein Kometenschweif.“ Zudem hat Svealena Kutschke ein Ohr für Dialoge zwischen Leuten, die alles dafür geben, cool zu wirken, für die aber schon der erst morgendliche Schritt aus dem Bett einem Hochseilakt über schwindelnde Abgründe gleichkommt. Wer sich von einem Roman jedoch eine konsistente, nachvollziehbare Geschichte verspricht, wird hier nicht fündig und kann das als Schwäche betrachten. Allerdings ist der Verzicht auf klar strukturierte Handlung in diesem Buch programmatisch. Lisa legt wenig Wert auf traditionelle Geschlechterrollen, Höflichkeiten, Arbeitsverhältnisse oder sonstige Ordnungsvorstellungen. Selbst angeblich feste Größen wie Raum und Zeit verlieren sich dabei ins Vage: Lisa finden gelegentlich Fotos, die sie selbst an Orten zeigen, die sie nicht kennt und an denen sie nie war. Kurz: Der Roman folgt nicht der Logik der Vernunft, sondern der des Traums, genauer: der eines Liebeskummeralbtraums. Der erreicht seinen Höhepunkt, als Lisa mit ihren Freunden in Frauenkleidern zu einem Ausflug ins Outback aufbricht. Die Reise führt, wie es sich für eine australische Abenteuertour gehört, zu Ayers Rock, der heute nach der Sprache der ortsansässigen Aborigines politisch korrekt Uluru genannt wird. Nun weiß jeder Leser Bruce Chatwins, dass man in der Nähe jenes magischen Bergs unvermeidlich auf Traumpfade gerät. So naturgemäß auch Lisa, die sich hier tief in einen Irrgarten der Phantasien verstrickt. Wer will, kann darin die nötige Katharsis sehen, durch die Lisa sich endlich von ihren hoffnungslosen Lieben zu B. oder zu Nick löst. Vielleicht aber signalisiert diese mäandernden, ziellose Wanderung im Herzen Australiens auch nur einen endgültigen Abschied vom jugendlichen Aufbegehren – der in Lisas Fall immer zugleich ein Begehren ist. Denn im letzten, traurigen Satz des Romans ist davon die Rede, der Sternenhimmel sei nun vertrieben.
Svealena Kutschke: „Etwas Kleines gut versiegeln“. Roman Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 294 S., 19,90 €