Christa Wolf zum 80. Geburtstag
Christa Wolf ist nicht nur die berühmteste deutsche Schriftstellerin ihrer Generation. Ihr Werk ist darüber hinaus in vielfacher Hinsicht exemplarisch. An ihm lassen sich Größe und Grenzen einer Haltung ablesen, die in den Jahrzehnten vor der Wiedervereinigung die deutsche Literatur lange dominierte. Christa Wolf nimmt damit unweigerlich einen herausragenden Platz in der Literaturgeschichte des geteilten Landes ein. Andererseits aber rückt ihre Arbeit aus Sicht der Gegenwart ebenso unweigerlich in immer größere Ferne. Wer Christa Wolf eine Erzählerin nennen wollte, machte es sich zu leicht. Ihre Sache ist nicht das Erfinden von Geschichten, sondern das Nachsinnen über Geschichte. Sie ist eine emphatische Beschwörerin der Erinnerung, eine Erkundungsreisende durch das persönliche und kollektive, das literaturgeschichtliche und kulturhistorische Gedächtnis. „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, lautet der Satz, mit dem sie ihr „Kindheitsmuster“ (1976) eröffnete und den sie von William Faulkner übernahm. Die Verantwortung der Deutschen, sich ihrer Geschichte zu stellen und Vergangenheit selbstkritisch zu durchleuchten, hat in Christa Wolf eine ihrer literarische Identifikationsfiguren gefunden. Für ihre Neigung zur prüfenden Rückschau gibt es biografische Gründe. Christa Wolf hat sie benannt. Sie wuchs in Landsberg an der Warthe als Tochter einer starken Mutter und eines eher nachgiebigen Vaters auf, der ohne große politische Ambitionen schon 1933 in die NSDAP eintrat. Der Eifer der Tochter war größer, bald wurde sie nicht nur Mitglied im BDM und „Führeranwärterin“, sondern steigerte sich in jugendliche Hitler-Verehrung hinein. Sie hatte gelernt, „dass Gehorchen und geliebt werden ein und dasselbe ist.“ Ein Kindheitsprägung, an der sich nach Kriegsende wenig änderte. Aus der halbwüchsigen Anhängerin Hitlers wurde eine strebsam Gefolgsfrau Stalins. Ihren ersten literaturkritischen und literarischen Arbeiten war das anzumerken. Ihr Debüt „Moskauer Novelle“ (1961) ist lupenreine Propagandaprosa und die Erzählung „Der geteilte Himmel“, mit der sie 1963 in beiden deutschen Staaten erste Triumphe feierte, liest sich heute wie ein Traktat, in der die protestantische Entsagungsethik in Dienst genommen wird für den Aufbau einer rosaroten sozialistischen Zukunft. Umso erstaunlicher war ihre folgende Entwicklung. Christa Wolf durchlebte seelisch wie intellektuell, was man seit jenen Sechzigerjahren gern einen Emanzipationsprozess nennt. Sie begann ihre Autoritätshörigkeit zu begreifen. Die SED umwarb sie, und sie ließ sich zur Kandidatin des ZKs machen. Doch als 1965 die Schriftsteller der DDR wieder einmal rüde an die kurze ideologische Leine gelegt wurden, überraschte sie auf dem berüchtigten 11. ZK-Plenum nicht nur die Kulturfunktionäre, sondern wohl ebenso sich selbst mit Mut zum Widerspruch. Auch literarisch wandelte sie sich. In „Nachdenken über Christa T.“ (1968) war sie als Schriftstellerin erstmals ganz bei sich. Es ist ein melancholischer Roman der Rückbesinnung an eine früh an Krebs verstorbene Freundin, die am frostigen Zweckrationalismus der Wiederaufbaujahre litt. Da das Buch nicht nur als Kritik an der dürftigen Nachkriegszeit, sondern auch am dürftigen DDR-Sozialismus verstanden werden konnte, begründete es in Ost und West Christa Wolfs Ruf als Oppositionelle. Manches von ihrer Vorliebe für die literarische Rückschau rührt wohl her aus der protestantischen Tradition bohrender Gewissenserforschung. Doch bei Christa Wolf erhielt sie noch eine andere Dimension. Obwohl Freuds Werk in der DDR als dubiose geistige Konterbande des Klassenfeindes galt, nahm die Selbstbefragung in ihren Büchern einen spürbar psychoanalytischen Zug an. „Kindheitsmuster“ ist kein großer, sondern ein eher zäher autobiografischer Roman, aber gleichwohl das literarische Zeugnis einer hartnäckigen Konfrontation mit der eigenen politischen Glaubens- und Unterwerfungsbereitschaft. Bei Freud ist aber auch zu erfahren, dass Prägungen, nachdem sie erkannt wurden, noch keineswegs überwunden sind. Christa Wolfs politische Position zu den sozialistischen Machthabern war oft ambivalent und nie so eindeutig wie die Václav Havels etwa in der Tschechoslowakei. In ihr eine Dissidentin sehen zu wollen, verkennt die Tatsachen. Ihre Absichten zielten auf die Reform des realen Sozialismus im Sinne eines idealen Sozialismus, und sie gab die Loyalität dem Regime gegenüber nie auf. 1976 unterzeichnete sie mit ihrem Mann Gerhard den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Aber sie blieb, obwohl ihr Mann aus der SED ausgeschlossen wurde, Mitglied der Partei. Erst im Juli 1989, als das allgemeine Aufbegehren gegen die Diktatur mit Händen zu greifen war, trat sie aus. Ihr schönstes Buch ist „Kein Ort. Nirgends“ (1979). Eine hundertseitige, schwebend leichte und doch schwermütige Erzählung über eine fiktive Begegnung der beiden späteren Selbstmörder Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist in frühromantischer Zeit: Zwei von utopischen Hoffnungen Getriebene, zwei mit der Verfassung ihrer Epoche nicht Auszusöhnende, die einander einen flüchtigen Moment lang als Wesensverwandte entdecken. Als „Vorgänger“ rief sie die beiden an und stellte sich so selbstbewusst in eine anspruchsvolle literarische Ahnenreihe. Ihre in jungen Jahren eingeübte Anhänglichkeit an Weltbilder, die nur in weiß und schwarz gemalt sind, blieb trotz allem groß. Den Trojanischen Krieg in „Kassandra“ (1983) als Konflikt zwischen militaristischen Griechen und kultivierten Trojanern zu schildern, war intellektuell wie künstlerisch unergiebig. Nur vor dem Hintergrund der eisern bipolaren Blockkonfrontation jener Jahre und der hierzulande offenbar unstillbaren Angstlust angesichts apokalyptischer Prophezeiungen ist zu begreifen, mit welcher Begeisterung dieses Buch aufgenommen wurde. Christa Wolf ließ wenige geistige Strömungen der Zeit aus. In den Vorlesungen zu „Kassandra“ entdeckte sie den Feminismus, in „Störfall“ (1987) Ökologie und Technikkritik für sich. Wenn sie zu einer Volksschriftstellerin für die gebildeten Stände heranwuchs, dann auch deshalb, weil ihr kein Modethema fremd war. Wie illusionär, oder schonender ausgedrückt: wie idealistisch verklärt ihr Weltbild war, erwies sich in dem Monat der Mauerfalls. In ihrer Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989, in einer Fernsehansprache oder im Aufruf „Für unser Land“ plädierte sie für einen Fortbestand der DDR als „sozialistischer Alternative“ zur Bundesrepublik. Sie versprach ihren Mitbürgern „kein leichtes, aber ein nützliches Leben.“ Doch die Resonanz war gering und politisch folgenlos. Woraufhin sie, die seit Jahrzehnten schon Reiserechte genoss, die „überstürzte Öffnung“ beklagte und von einer „millionenfachen Bekanntschaft mit der westlichen Konsumgesellschaft“ sprach, die den „Konsens zwischen linker Intelligenz und Massen“ untergrub. Selbstgerechtigkeit ging hier eine innige Verbindung ein mit Oberlehrerattitüden und einer grotesken Überschätzung der Rolle, die Intellektuelle in Demokratien spielen können. Die öffentliche Zäsur kam mit dem Streit über ihre autobiografische Erzählung „Was bleibt“. Darin stellte sie sich nach dem Sturz des DDR-Systems als Stasi-Verfolgte dar, die sie zweifellos war, ohne die privilegierte, von ihren exzellenten Verbindungen im Osten und durch die Aufmerksamkeit des Westens geschützte Großautorin zu erwähnen, die sie zweifellos auch war. Doch es ging nicht allein um ein missratenes Buch. Christa Wolf Rang als politische Orientierungsfigur, die sie in der DDR für viele gewesen war, wurde in Zweifel gezogen, da sie dem Regime zwischen Kritik und Ergebenheit schwankend so lange verbunden geblieben war und erst in letzter Sekunde mit ihm brach. Auch ihre Literatur wirkte allmählich überlebt: Das Verdienst der Nachkriegsliteratur in West und Ost, den Deutschen ihre Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus hartnäckig ins Bewusstsein zu bringen, ist unbestritten. Christa Wolf hat Bedeutendes dazu beigetragen. Doch in der liberalen Öffentlichkeit des vereinten Deutschland wurde und wird diese Aufgabe mehr und mehr von Historikern, Pädagogen, Journalisten übernommen. Von einem Schlussstrich kann hier keine Rede sein, aber die (Selbst-)Aufklärung der Deutschen über ihre Geschichte wird immer seltener zum erregenden literarischen Thema. Die Fähigkeit, psychische Innenwelten zu schildern, ist eine der größten Gaben dieser Schriftstellerin. Mit welcher Einfühlungskraft sie in ihrer späten Erzählung „Leibhaftig“ (2002) die Befindlichkeiten einer vom Fieber zerrütteten Schwerkranken zu vergegenwärtigen versteht, nötigt Respekt ab. Ihr ersehntes literarisches Ziel, schrieb sie einmal, sei „subjektive Authentizität“. Natürlich ist es gut, wenn sich Christa Wolf dennoch nicht auf eine Innerlichkeit hat festlegen lassen, die in der DDR offiziell kritisiert und im Westen der Siebzigerjahre als Neue Innerlichkeit gefeiert wurde. Aber aus heutiger Sicht liegt auf der Hand, dass der politische Roman nicht zu den spezifischen Talenten Christa Wolfs gehört. Wenn sie sich angesichts der deutschen Geschichte dennoch in eine politische Rolle gedrängt sah oder drängte und vom „Geteilten Himmel“ bis „Kassandra“ politisch intendierte Romane schrieb, gehört das zu den wenig glücklichen Umständen ihrer künstlerischen Biografie. Ihre Meisterschaft erweist sich in anderen Büchern, in „Christa T.“ und „Kein Ort. Nirgends“, in denen sie unverwechselbare Figuren erschuf, die an ihrer Zeit scheitern – womit diese Bücher indirekt sehr wohl zeitkritische, will sagen: politische Ausstrahlungskraft entfalten.