Der Dämon auf Sylt

Thomas Hettche erzählt in „Die Liebe der Väter“ von einer Heimsuchung in Menschengestalt 

Fast könnte man meinen, das Erstaunlichste an diesem Roman sei sein Titel: „Die Liebe der Väter“. Doch das stimmt nicht. Noch erstaunlicher ist eine merkwürdige Debatte, die das Buch bereits vor seinem Erscheinen auslöste. Thomas Hettche erzählt in „Die Liebe der Väter“ von einem Verlagsvertreter namens Peter, der mit einigen Freunden und seiner dreizehnjährigen Tochter Annika Urlaub auf Sylt macht. Sie verbringen die so genannten Rauhnächte, also der Zeit zwischen Weihnachten und Dreikönigstag, auf der Insel. An jene Tage „zwischen den Jahren“ heftet sich seit grauer Vorzeit allerlei Aberglaube. Folgerichtig ist im Roman gelegentlich von Spuk und Dämonen die Rede oder von der „Wilden Jagd“, die an Silvester losbreche, da dann das Geisterreich offen stehe. Zudem lässt Hettche – noch vor Silvester – einen handfesten Sturm gruselig ums Ferienhaus heulen. Zum Streit zwischen den Urlaubern kommt es, als Peter seine Tochter in der Silvesternacht in einem Restaurant kräftig ohrfeigt. Da er auch danach befremdliche Verhaltensweisen an den Tag legt, fordern ihn die anderen auf, vorzeitig abzureisen. Also macht er sich mit Annika früher als geplant auf die Rückfahrt. Ende der Geschichte. Zu Beginn des Romans werden mehrfach Übergangs- oder besser: Untergangsstimmungen heraufbeschworen. Es ist nicht nur der Jahreswechsel, der sich auf der Nordseeinsel sturmumtost ankündigt. Bekümmert spricht Peter auch davon, dass sein Beruf als Verlagsvertreter dem Verschwinden geweiht sei, ja dass die gesamte Buchkultur verloren zu gehen drohe. Sogar das allmähliche Heranwachsen seiner Tochter betrachtet er in erster Linie als Verlust, als Abschied von einer Unschuld, die er über die Maßen glorifiziert: „Mitten durch Annika hindurch, denke ich, verläuft jetzt die Grenze des Kinderreichs, also die der Wahrheit, bald wird sie ganz auf unserer Seite sein, und das Kind, das ich hatte, wird es nicht mehr geben.“ Selbst Sylt, den Schauplatz des Romans, kann man als Menetekel eines kommenden Untergangs verstehen, verliert die Insel doch unaufhaltsam Boden ans Meer. In der zweiten Hälfte des Romans werden diese Motive jedoch an den Rand gedrängt. Stattdessen nehmen Peters Rechtfertigungen für seine Ohrfeige umfangreichen Raum ein. Er war mit Annikas Mutter nie verheiratet, weshalb ihr nach bislang gültiger Gesetzeslage das alleinige Sorgerecht für das gemeinsame Kind zustand. Nachdem sich die beiden trennten, so erklärt Peter seinen Miturlaubern, habe die Mutter Annika oft vernachlässigt und das Sorgerecht dazu missbraucht, ihn zu schikanieren und seine Kontakte zur Tochter einzuschränken: „Du hast ein Kind, das du liebst, und man zwingt dich, bei allem, was ihm zustößt, hilflos zuzusehen. Das ist Folter.“ Das Bundesverfassungsgericht hat diese einseitige Rechtslage allerdings vor wenigen Wochen zugunsten der ledigen Väter korrigiert. Künftig fällt das Sorgerecht für gemeinsame Kinder bei unverheirateten Paaren nicht mehr automatisch der Mutter zu und also wird es jene unverschuldete „Folter“, über die Peter sich beklagt, bald nicht mehr geben. Seltsamerweise wurde daraufhin in einigen Artikeln der Gedanke erwogen, ob der Roman somit, noch bevor er auf dem Buchmarkt kam, überflüssig geworden sei. Eine abwegige Frage, denn selbstverständlich ist ein Roman kein bloßes Fallbeispiel zu irgendeinem aktuellen politischen oder juristischen Thema. Vielmehr entfaltet er je nach Qualität eine mehr oder minder große literarische Gültigkeit. Es würde ja auch niemand auf die Idee verfallen, Shakespeares Königsdramen für erledigt zu halten, nur weil wir heute in einer Demokratie leben, oder Fontanes „Effi Briest“ und Flauberts „Madame Bovary“ für passé, weil inzwischen das Scheidungsrecht liberalisiert wurde. Über diese erstaunlichen Überlegungen geriet ein anderer, literarisch wichtigerer Punkt in den Hintergrund. Peter, die Hauptfigur des Romans, ist ein ausgemachter Egozentriker und Widerling. Hettche erzählt konsequent aus dessen Perspektive, dennoch ist unübersehbar, wie gründlich Peter als Vater versagt. Als Annika davon spricht, sie alle könnten bei einem Sturm auf Sylt ertrinken, beruhigt er sie nicht, sondern heizt die Panik mit Erinnerungen an historische Flutkatastrophen erst recht an. Obwohl er immer wieder behauptet, nichts läge ihm so sehr am Herzen wie seine Tochter, hat er wieder einmal das Weihnachtsgeschenk für Annika vergessen und natürlich auch keine Ahnung davon, dass sie Vegetarierin ist. Über ihren achtzehnjährigen Freund macht er sich lustig und ihren Freundinnen starrt er auf die Brüste. Wenn er Streit mit Annika hat, ist er völlig unfähig zum Gespräch, lässt sie regelmäßig weglaufen und redet davon, sie am liebsten aus seinem Leben „herausoperieren“ zu lassen, um ihre Mutter endlich vergessen zu können. Wohl diesem Vergessen zuliebe genehmigt er sich schon vor dem Frühstück gerne mal ein Bier oder einen Schnaps. Kurz: Annika ist nicht zu beneiden. Ihre Mutter hat, wenn man Peters Berichten trauen darf, ihr Leben nicht im Griff und miese, ja gefährliche Erziehungsmethoden. Der Vater wiederum hat nur sich selbst im Kopf, seine Wehleidigkeit, seine Weltuntergangsahnungen und seinen Hass auf Annikas Mutter, dem er gern in Gewaltphantasien Luft macht. Natürlich ist niemand verpflichtet, eine sonderlich hohe Meinung von Vätern im Allgemeinen zu haben. Doch dass Hettche dem Buch über dieses sehr unerfreuliche Exemplar den pauschalen Titel „Die Liebe der Väter“ gegeben hat, darf man wohl als einen recht extravaganten Einfall betrachten. Bleibt die Frage, welcher künstlerische Impuls Hettche dazu gebracht haben kann, von diesen hässlichen Familienverhältnissen strikt aus der Perspektive von Peter und damit seltsam einseitig zu berichten. Am Beginn seiner Karriere rechnete sich Hettche jenen Autoren zu, die den traditionellen Erzählweisen misstrauen, und andere, neue literarische Wege suchen. Das machte seine ersten Bücher oft zu einer mühsamen Lektüre. In seinen jüngsten beiden Romanen „Der Fall Arbogast“ (2001) und „Woraus wir gemacht sind“ (2006) war dann nicht mehr viel von den Vorbehalten gegenüber dem traditionellen Erzählen zu spüren: Hettche lieferte im Rückgriff auf einen historischen Kriminalfall, bzw. auf das Krimi-Genre zwei nicht gerade brillante, aber doch solide gemachte Romane ab. In dem neuen Buch nun kommt er in gewisser Hinsicht auf seine Anfänge zurück. Zwar kann man es kaum eine ästhetische Revolution nennen, wenn eine Geschichte allein aus der Perspektive der Hauptfigur erzählt wird. Doch Hettche zwingt die Leser dazu, den Roman gleichsam gegen den Strich zu bürsten: Zu Anfang scheint er noch um Sympathie für seinen Helden Peter zu werben, indem er ihn als etwas weltfremden Büchernarren hinstellt, der unter dem Niedergang seiner Branche leidet. Doch schließlich häufen sich die Indizien, dass Peter schlicht ein unerfreulicher Zeitgenosse ist – und man sich beim Lesen von dessen Sichtweise der Dinge emanzipieren muss, wenn man begreifen will, was tatsächlich vor sich geht. Damit sät das Buch, wie Hettche es schon früher einmal propagierte, Misstrauen gegen die sonst so gern akzeptierte Einladung der Leser zur Identifikation mit dem Helden einer Geschichte. Aber auch das macht „Die Liebe der Väter“ letztlich nicht sonderlich reizvoll. Daniel Kehlmann hat vor ein paar Jahren in seinem Roman „Ich und Kaminski“ (2003) mit einem ähnlichen Kunstgriff gearbeitet: Auch hier ist der Ich-Erzähler ein ausgesprochener Kotzbrocken und der Leser merkt bald, dass er dessen Berichten auf keinen Fall naiv Glauben schenken darf. Doch Kehlmann bewies zugleich sein Talent zur Komik: „Ich und Kaminski“ ist nicht nur ein kluger Künstlerroman, sondern zugleich sehr witzig und unterhaltsam. Das lässt sich von Hettches Roman beim besten Willen nicht behaupten. Hettche zählt vielleicht nicht zu den humorlosesten, sicher aber zu den ernstesten Schriftstellern der deutschen Gegenwartsliteratur. So ist auch sein Roman über das, pardon, Arschloch Peter, der seine egozentrische Larmoyanz für „Die Liebe der Väter“ hält, von einem großen, fast andächtigen Ernst getragen. Doch obwohl Peter es nicht wahrhaben will, ja obwohl er es nicht einmal bemerkt: Der einzige Dämon, der in diesem Roman während der stürmischen Rauhnächte auf Sylt auftaucht, ist Peter selbst.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 28. August 2010

Thomas Hettche: „Die Liebe der Väter“. Roman
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2010 224 Seiten, 16,95 € ISBN 978-3-462-04187-9

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Von der Weisheit und Dummheit der Gesetze

 „Schuld“ – Ferdinand von Schirach vermisst mit seinen großartigen Stories den Abgrund zwischen Recht und Gerechtigkeit

Unser Vertrauen in das Rechtssystem ist immer dann am größten, wenn wir nichts mit ihm zu tun haben. Entspannt blättern wir im BGB oder im Strafgesetzbuch und bewundern die Umsicht, mit der dort alle erdenklichen Wechselfälle des Lebens berücksichtigt, bewertet und in eine einleuchtende Struktur gebracht werden. Beruhigt nehmen wir die Strafprozessordnung zur Hand mit dem Gefühl, in diesem Kompendium sei die juristische Weisheit von Jahrhunderten versammelt, um die Wahrheitsfindung vor Gericht und faire Verfahren zu garantieren. Aber wehe, wenn ein konkreter Fall uns beschäftigt, oder wenn wir, was Gott und unsere Besonnenheit verhüten mögen, in einen verwickelt werden. Dann brechen Recht und Rechtsempfinden nicht selten himmelweit auseinander, dann lassen sich die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und die Möglichkeiten irdischer Rechtsprechung fast nie ernsthaft zur Deckung bringen. Mit einem Mal spürt man, was für eine brüchige Institution das Gesetz ist, spürt, dass es kaum mehr sein kann als ein läppischer Regenschirm, mit dem wir uns vor Felsschlag zu schützen versuchen. Doch leider hat bislang noch niemand etwas Besseres gefunden gegen die verflucht dicht herabsausenden Felsbrocken als eben diesen Regenschirm. Das sind die Erfahrungen, aus denen Ferdinand von Schirach seine „Stories“ gemacht hat. Ein zweiter Band erscheint jetzt unter dem Titel „Schuld“. Der erste Band „Verbrechen“ stand lange auf den Bestsellerlisten, was von Schirach naturgemäß eine Menge öffentliche Aufmerksamkeit, leider aber auch manche der hierzulande üblichen intellektuellen Vorbehalte gegenüber erfolgreichen Autoren eintrug. Da er ein Strafverteidiger mit renommierter Kanzlei in Berlin ist, hielt man ihm gelegentlich vor, für seine Kurzgeschichten lediglich seine Mandanten-Kartei geplündert zu haben: Sein Talent beschränke sich darauf, kuriose Fälle unterhaltsam nachzuerzählen. Doch damit sitzt man, so scheint mir, dem literarischen Unterstatement dieser Stories auf. Es sind kleine Meisterwerke darunter von enormer sprachlicher Präzision und Darstellungskraft. Von Schirach prunkt nicht mit seinem erzählerischen Können, sondern stellt es so konsequent in den Dienst des Erzählten, dass es auf den ersten Blick dahinter zu verschwinden scheint. Vor allem aber gehen solche Vorwürfe an dem philosophischen Gehalt seiner Kurzgeschichten vorbei: Von Schirach erzählt sie nicht ihrer Kuriosität halber, sondern weil sie von jenem oft genug unauflöslichen Widerspruch zwischen Recht und Rechtsempfinden zeugen, von der Weisheit und Dummheit der Gesetze und der aussichtslosen Hoffnung, mit ihrer Hilfe so etwas wie Gerechtigkeit auf Erden zu schaffen. Es scheint so, als wolle von Schirach seine Kritiker in dem neuen Band mit der Nase auf diese Qualitäten seiner Geschichten stoßen. Gleich die erste führt die bittere Logik eines Verfahrens vor Augen, das sich streng an die Verfahrensordnung hält, aber gerade deshalb die Wahrheitsfindung unmöglich macht und eklatant gegen jedes Gerechtigkeitsempfinden verstößt: Auf einem Volksfest wird eine 17-jährige Kellnerin von einem neunköpfigen Blaskapelle vergewaltigt. Nur einer der Musiker beteiligt sich nicht und informierte anonym die Polizei. Da sie alle für ihren Auftritt verkleidet und geschminkt waren, kann das Opfer keinen der Täter identifizieren. Alle anderen Beweismittel werden durch unglückliche Umstände vernichtet. Also müssen die Anwälte den Verdächtigten raten, sich zur Tat nicht zu äußern, da sie sich sonst selbst belasten könnten. Und da es keine Zeugen gibt, bleibt dem Ermittlungsrichter nichts anderes übrig, als alle Verdächtigen freizulassen, weil er das eine anonym gebliebene unschuldige Kapellenmitglied nicht pauschal mitverurteilen kann. Keinem Krimi-Autor würde man einen solchen Fall abkaufen, zu viele Unwahrscheinlichkeiten und Zufälle sind für ihn nötig. Doch dieser hier stammt, das macht die Geschichte eindeutig klar, aus von Schirachs anwaltlicher Berufspraxis. Die Tatsache, dass die Erzählung zumindest in ihren wesentlichen Zügen authentisch ist (ein ansonsten eher unliterarisches Kriterium), wird damit zu einem besonderen Faktor dieser Geschichte: Die vorgeführten Unzulänglichkeiten der Rechtsprechung entspringen eben nicht der Phantasie des Autors, sondern dem Alltag und sind damit für jedes Gerechtigkeitsempfinden ein unaufhebbarer Skandal. Doch ist es andererseits allein dieses fehlerbehaftete Rechtssystem, das vor dem Rückfall in archaische Rachejustiz bewahrt, die auf Unrecht schnell mit neuem Unrecht antwortet. Kurz: Die Stories von Schirachs haben im Kern etwas Kleist’sches. Sie erzählen von der gebrechlichen Einrichtung unserer Rechts-Welt. Auch Kleist hat seine große Justiz-Novelle „Michael Kohlhaas“ einem authentischen historischen Vorbild, dem Schicksal des Berliners Hans Kohlhase, nachgestaltet und machte so klar, dass es ihm keineswegs um ein literarisches Denkmodell, sondern um ein nur allzu reales Dilemma ging. Von Schirach ist sich dieser literaturgeschichtlichen Verwandtschaft offenkundig bewusst: In einer seiner neuen Geschichten lässt er ein Paar, das sich gemeinsam aus großem Elend rettete, aber dann dennoch von jahrzehntealter Schuld eingeholt wird, in einer Senke am Wannsee Selbstmord begehen wie seinerzeit Kleist und Henriette Vogel. Das wichtigste stilistische Vorbild von Schirachs ist jedoch nicht Kleist, sondern Hemingway. Wie der amerikanische Großmeister der Short-Story liebt von Schirach die klaren, schnörkellosen und scheinbar nüchternen Hauptsätze. Er reiht sie hintereinander wie Blöcke, wuchtig und faktenschwer. Sie lesen sich als wurde man den Schritten eines Unheils lauschen, das unaufhaltsam vorwärts drängt. Daneben aber hat er einen fabelhaften Sinn für Details, die er wie im Vorbeigehen nur knapp benennt. Sie verleihen seinen Geschichten eine großartige atmosphärische Dichte. Alles in allem wirkt das oft so, als würden sich seine Stories wie von selbst erzählen, als seien sie nicht mehr als knappe Zusammenfassungen irgendwelcher Gerichtsakten. Doch steht dahinter eine bewundernswerte kompositorische Sicherheit und sprachliche Disziplin dieses Autors. Es ist in meinen Augen bedauerlich und zugleich bezeichnend, wie schnellfertig die Gegner von Schirachs über diese spezifisch ästhetischen Qualitäten seiner Geschichten hinweggehen und sie als simple Tatsachenberichte abzutun versuchen. Die alten Vorurteile hierzulande gegen eine unterhaltsame und spannend geschriebene Literatur scheinen noch immer so wirksam zu sein, dass sich nicht wenige Kritiker nach wie vor durch sie blenden lassen. Von Schirach schlägt fast immer ein ungeheures Erzähltempo an, er drängt seine Stoffe dabei auf engstem Raum zusammen. Doch das ist kein billiges Zugeständnis an die Unterhaltsamkeit, sondern steigert ihre literarische Wirkung: Wie von einem verhängnisvollen Sog werden die Figuren immer tiefer in ihre Lebens-Katastrophen hineingezogen. Der neue Band trägt den Titel „Schuld“ nicht aus Zufall. Die Frage, was Schuld ist, wie sie entsteht, ob und wie sie gebüßt werden kann, wird in den Geschichten in ihren verschiedenen Facetten durchgespielt. Die Mitglieder jener Blaskapelle zum Beispiel, die in der ersten Geschichte die junge Kellnerin vergewaltigen, waren vor und nach der Tat unauffällige gesetzestreue Bürger. Gerieten sie also während des sommerlichen Volksfests unter den fatalen Einfluss von Alkohol und Hitze in eine schwer steuerbare Situation? In wie weit hätte das ihre Schuld vor Gericht, wenn es zu einem Verfahren gekommen wäre, gemindert? Doch hätte das wiederum ihr Opfer trösten können? Und was ist mit der Schuld der Anwälte, die mit ihrem Verfahrenstrick einen Prozess verhinderten und so acht Täter straflos davonkommen ließen? Sie haben nach den Regeln ihres Berufs und unseres Rechtssystem alles richtig gemacht – aber haben sie nicht trotz allem Schuld auf sich geladen? Gleich in mehreren Beispielen führt von Schirach in seinem neuen Buch vor, wie durch juristische Verfahrensweisen Schuld erst hervorgebracht und einer Person zugeschrieben, oder aber wie sie durch ein paar Federstriche angeblich zum Verschwinden gebracht wird. In der letzten Geschichte geht er sogar so weit, die angeblich so logische und zwingende Beweisführung der Justiz den Wahnideen eines Geisteskranken gegenüber zu stellen und zwischen beiden Seiten einen Rollentausch anzudeuten. Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Spannweite der emotionalen Wirkungen, die von Schirach mit seinen Geschichten erzielt. So ernst der Stoffe auch ist, mit dem er als Schriftsteller hantiert, seine Stories sind keineswegs immer auf Moll gestimmt. Er hat einen ausgeprägten Sinn für das Komische im Tragischen und für das nicht nur dämonische, sondern gelegentlich auch clowneske Element, das zum Wesen des Gesetzes- und Regelbruchs gehört. Mit anderen Worten: Von Schirach ist ein Erzähler von beachtlichem Format. Neben Judith Hermann und Ingo Schulze hat er einige der eindrucksvollsten deutschen Kurzgeschichten der letzten Jahre geschrieben.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 31. Juli 2010

Ferdinand von Schirach: „Schuld“. Stories
Piper Verlag, München 2010 200 Seiten, 17,95 € ISBN 978-3-492-05422-5

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„brennt“

Im neuen Roman von Sudabeh Mohafez herrscht an Schicksalsschlägen kein Mangel 
Der Auftakt ist furios. Ein Kabinettstück. Sudabeh Mohafez erzählt von einem nächtlichen Brandanschlag auf eine nicht mehr ganz junge Frau, die irgendwo in Berlin allein mit ihren zwei Katzen lebt. Die Frau, sie ist Musikproduzentin und betreibt ein eigenes Tonstudio, schreckt aus dem Schlaf hoch, ein unbekanntes Geräusch hat sie geweckt. Wohnungstür und Treppenhaus stehen bereits in Flammen, die Frau, sie heißt Mané, sitzt ganz oben, knapp unterm Dach des alten Mietshauses, wie in der Falle. Mané ruft die Feuerwehr, doch der Brand breitet sich rasend schnell aus. Sie kann sich gerade noch eine der beiden Katzen schnappen und auf dem Balkon mit den immer näher an sie heranfauchenden Flammen im Rücken auf die Hilfe der Feuerwehrleute hoffen. Wie Sudabeh Mohafez das erzählt, ist großartig. Sie zeigt die mühsam beherrschte Panik ihrer Heldin, zeigt, wie Mané zwischen Lähmung und Hektik hin und her gerissen wird, zeigt, wie sie einige Einzelheiten überscharf beobachtet, während sie gleichzeitig den Überblick verliert, zeigt, wie sie manche Dinge kühl kalkuliert und zum Beispiel nicht ihr Leben riskiert, um ihre zweite Katze zu retten, während sie andererseits aber irgendeines ihrer vielen Musikinstrumente umklammert und auf keinen Fall preisgeben möchte. Dazu lässt Sudabeh Mohafez auch die Sätze ein wenig torkeln, lässt sie am Rande dessen entlangbalancieren, was die Grammatik gerade noch gestattet. 23 Seiten ist dieser Brandbericht lang, und er ist wunderbar. Ein Kabinettstück. Doch was folgt dann? Die halb geisteskranke Brandstifterin wollte, so stellt sich am Ende heraus, lediglich auf brachiale Weise ihre alte Wohnung loswerden, um sich eine größere, mit Zentralheizung zuweisen lassen. Die obdachlose Mané kommt zunächst bei einer Cousine unter. Sie ist verständlicherweise fassungslos, doch braucht sie länger als erwartet, um sich in die Normalität zurückzutasten. Sie wandert lange ziellos durch Berlin, begleitet von zwei Stimmen, Lars und Pia, die mal einfühlsam, mal zynisch ihre Gedanken kommentieren. Sie lernt ein vernachlässigtes vierjähriges Mädchen kennen, dessen Vater vor einigen Wochen Selbstmord beging und deren Mutter in Depressionen versunken ist. Doch von ihrem Beruf, dem Musikgeschäft, erfährt man leider wenig. Das Milieu, in dem sich Mané bewegt, bleibt nahezu austauschbar. Schließlich trifft sie sich häufiger mit einem der Feuerwehrmänner, die sie gerettet haben. Er fiel ihr schon bei den Löscharbeiten auf, weil er so geduldig und einfühlsam mit den Brandopfern umging. Auch er, Sebastian, ist vom Schicksal hart geprüft: Sein Bruder ist seit einer Jugenderkrankung geistig behindert. Aber er kümmert sich hingebungsvoll um ihn und teilt sich mit ihm ein romantisches Häuschen an der Havel mitten im Staatsforst. Die Güte und Langmut Sebastians gibt Mané schließlich die Kraft, sich zu ihrem wahren Trauma zu bekennen, das tiefer sitzt als der Brandanschlag: In Island hatte sie sich vor Jahren einmal in einen Musiker verliebt und wurde von ihm schwanger. Doch bei einem Unfall, an dem sie sich die Schuld gibt, kam der Mann um, und das Kind wird tot geboren. Liege ich ganz falsch, wenn mir diese Anhäufung von tragischen Schicksalsschlägen, reichlich kitschig vorkommt? Dramaturgisch enttäuschend ist zunächst einmal, dass die verschiedenen Handlungsfäden kaum etwas miteinander zu tun haben – der Brandanschlag nichts mit der Familienkatastrophe auf Island und beides nichts mit der rührseligen Bekanntschaft zwischen Mané und dem vierjährigen Mädchen. Gemeinsam ist ihnen nur, dass Mané von einer emotional hochgespannten Szene in die andere geführt wird. Zumeist begleitet von Sebastian, der so selbstlos und einfühlsam mit ihr umgeht, dass sein Feuerwehrhelm von Rechts wegen eigentlich durch einen Heiligenschein ersetzt werden müsste. Wenn die beiden am Ende einander in die Arme sinken und in einem langen Kuss verschmelzen, wirkt das fast schon wie eine Parodie auf eine Liebesgeschichte. Der Roman ist in seinem Misslingen exemplarisch: Die 1963 in Teheran geborene Sudabeh Mohafez hat eine deutsche Mutter und einen iranischen Vater. Seit sie 16 ist, lebt sie in Deutschland und schreibt ein oft beneidenswert schönes, geschmeidiges Deutsch, für das sie 2006 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet wurde. In der Schilderung des Brandanschlags, der Eröffnungsszene dieses Buches, aus dem sie im vergangenen Jahr auch in Klagenfurt gelesen hat, zeigt sich ihre sprachliche Kraft. Doch ein Roman ist, anderslautenden Gerüchten zum Trotz, mehr als nur Sprache. Ein Autor kann sich selbstverständlich auch durch die Konstruktion einer klischeehaften oder zusammenhanglosen Handlung blamieren. Mir scheint dieses Buch typisch für die hierzulande verbreitete Überschätzung sprachlicher und Vernachlässigung inhaltlicher Qualitäten erzählender Prosa.

Die Rezension erschien in der Welt vom 24. Juli 2010
Sudabeh Mohafez: „brennt“.
Roman DuMont Verlag, Köln 2010 207 S., 18,95 Euro. ISBN 978-3-8321-9573-1

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Jill und Jim

Philip Larkin und Kingsley Amis zeigen, wie tief die Kluft zwischen englischer und deutscher Literatur nach 1945 war   Oxford 1941: Zwei Studenten, beide 19 Jahre alt, begegnen sich zum ersten Mal. Nach einem mit dem Zeigefinger der rechten Hand angedeuteten Pistolenschuss greift sich der eine ohne Zögern an die Brust, verzerrt das Gesicht in Todesqualen, bricht zusammen, springt dann wieder auf und imitiert seinerseits Schussgeräusche, mal mit, mal ohne Querschläger. Der andere ist tief beeindruckt: „Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, mich in Gegenwart eines Talents zu befinden, das größer war als das meine.“ Eine etwas alberne Anekdote, zugegeben, aber sie gewinnt ihren Reiz durch die Tatsache, dass aus den beiden bald eng befreundeten Studenten die vielleicht einflussreichsten Schriftsteller der englischen Nachkriegsliteratur wurden: Philip Larkin (der Mann mit den ausgeprägten Empfinden für das eigene Talent) und Kingsley Amis (der Mann, mit der Begabung für Schussgeräusche). Philip Larkin (1922 – 1985) wollte Romancier werden und entwickelte sich zu einem der bedeutendsten und beliebtesten Lyriker des Landes. Kinsley Amis (1922 – 1995) begann mit Gedichten und wurde einer der wichtigsten und meistgelesenen Erzähler Englands. Auch wenn Larkin seinen Wohnort Hull später kaum je verließ, verloren sich die beiden zeitlebens nicht aus den Augen: Amis macht Larkin zum Paten seines ersten Sohnes Philip (der zweite Sohn Martin Amis gehört heute zu den prominentesten Schriftstellern des britischen Literaturbetriebs) und hielt 1985 die Grabrede auf Larkin. Ihre jeweils ersten Romane sind jetzt in deutscher Übersetzung erschienen und beide Bücher bieten nicht nur beträchtliches Lesevergnügen, sondern lassen zugleich erkennen, welche diametral entgegengesetzten Wege die Literatur in Deutschland und Großbritannien nach 1945 beschritt. Sowohl Larkin als auch Amis siedelten ihre Debüts im Universitäts-Milieu an. Die Hauptfigur aus Larkins Roman „Jill“ ist Student in Oxford und man spürt sofort die Atmosphäre der typisch englischen College- und Internatsgeschichten, von der noch heute J. K. Rowlings Harry-Potter-Bücher zehren. Der Held aus Amis’ Roman „Jim im Glück“ ist Assistent eines halb vertrottelten Professors an einer Provinz-Uni und man kann das Buch als einen der ersten Campus-Romane betrachten, wie sie bis heute David Lodge oder Alison Lurie schreiben und wie sie Dietrich Schwanitz in Deutschland heimisch zu machen versuchte. Larkin war das Opfer einer unerträglichen Kindheit: Sein Vater muss ein Monster an Pedanterie und seelischer Brutalität gewesen sein. Als hoher Beamter Coventrys sympathisierte er mit den Nazis (!). Zwar förderte er seinen Sohn Philip nach Kräften, verachtete aber Frau und Tochter offen und schuf in der Familie ein Klima von Kälte und Menschenfeindschaft. Wenn also Larkins erster Roman „Jill“ nicht gerade überbordet vor Lebenszuversicht, sollte das niemanden wundern. Sein Held Jack stammt aus einfachen Verhältnissen und kommt durch ein Stipendium an eine der traditionsreichen Schulen Oxfords. Dort bewundert er den sorglosen Snobismus seiner Mitschüler aus vermögendem Hause, doch die machen sich nur lustig über ihn. In seiner Not erfindet er sich eine Freundin, tauft sie Jill, schreibt sich selbst in ihrem Namen Briefe und führt für sie ein mädchenhaftes Tagebuch – bis ihm eine Schülerin namens Gillian begegnet, die der herbei phantasierten Jill bis aufs Haar gleicht. Das klingt zunächst wie der Entwurf zu einem Entwicklungsroman: Aus einem noch unsicheren jungen Mann wird nach Ablenkungen von außen (hochnäsige Mitschüler) und innen (ersehnter Geliebte) schließlich ein gefestigter Charakter mit Uni-Abschluss und Traumfrau Gillian. Doch so heiter und hoffnungsfroh geht es in Larkins literarischem Kosmos nicht zu: Sein anfangs so verzagter Hauptdarsteller ist auch am Ende verzagt und ob er sein Mädchen je bekommt, bleibt offen. 1947, nur ein Jahr nach „Jill“, veröffentlichte Larkin ein ähnlich gestrickten Roman „A Girl in Winter“: Hier ist es eine Bibliothekarin, die sich aus ihrem tristen Leben in die schwärmerische Erinnerung an einen Urlaubsflirt flüchtet, sich dadurch immer stärker isoliert und so in ihrem freudlosen Alltag steckenbleibt. Bei aller Ironie und erzählerischen Präzision Larkins, die seine Bücher zu einem intellektuellen Genuss machen, vermitteln sie einen recht skeptischen Blick auf die Glücksmöglichkeiten der unglücklich Geborenen. Schon der Titel „Jim im Glück“ verrät, dass es bei Kingsley Amis optimistischer zugeht. In England gilt sein Erstling als moderner Klassiker der komischen Romanliteratur. Amis hat ihn Larkin gewidmet und hatte Grund dazu: In den Briefen der beiden lässt sich nachlesen, mit welcher Sorgfalt und Ausdauer Larkin seinen Freund als – unbezahlter – Lektor bei der Arbeit an dem Manuskript beriet. Kingsley Amis stilisiert den Titelheld seines Buches nicht zum Waisenknabe: Jim hat spürbar mehr Interesse am Bier als an seiner wissenschaftlichen Arbeit und dazu ein beeindruckendes Talent, sich in sagenhaft peinliche Situationen zu bringen. Komisch wird die Geschichte nicht zuletzt deshalb, weil Amis das alte universitäre Machtgefälle zwischen Lehrstuhlinhabern und ihren Assistenten mit gnadenloser Offenheit beschreibt. Jim wird von seinem Professor rücksichtslos für dessen schrullige Hobbys eingespannt und Jim antwortet darauf mit einem mühsam verborgenen, flammenden Hass, dem er durch groteske Ersatzhandlungen heimlich Luft macht. In einem Punkt sind sich beide Romane auffällig ähnlich: Die Figuren orientieren sich in Liebesdingen nicht an ihren Leidenschaften, sondern an Konventionen: Sie tun, was ihnen – angeblich – die Situation diktiert, anstatt den eigenen Impulsen zu folgen. Larkins Held droht darüber seine große Liebe zu versäumen und Amis’ Held besinnt sich erst im letzten Moment eines besseren. Von derart wohlerzogenen Rücksichten hielten diese beiden Schriftsteller rein gar nichts, sie gaben keinen Pfifferling auf den so genannten Guten Ton: Larkin inszenierte sich lustvoll als verbohrter Einsiedler und Menschenfeind, Amis machte nie ein Geheimnis aus seinem ausgeprägten Bedürfnis nach Alkohol und Sex. Gleiches galt für sie ebenso in literarischen Fragen, auch hier gaben sie nicht viel auf den Guten Ton ihrer Zeit. Denn die stand ganz im Zeichen einer Moderne, wie sie von Avantgardisten wie Ezra Pound, James Joyce oder T. S. Eliot in der ersten Jahrhunderthälfte geprägt worden war. Die universitäre Welt, der auch Larkin und Amis entstammten, lag dieser hochgradig verschlüsselten und kommentierungsbedürftigen Literatur zu Füßen. Doch die beiden hatten nur Spott und Verachtung für sie übrig – und waren nicht nur beim Publikum, sondern auch bei vielen Kritikern erfolgreich damit. Larkin verkündete das „Pleasure Principle“, also das Spaß- und Genussprinzip der Poesie und gewann Zehn-, ja Hunderttausende von Lesern für seine keineswegs gefälligen, immer aber allgemeinverständlichen Gedichte. Amis wiederum war sich als anerkannter Romancier nicht zu schade, Science Fiction-Stories oder nach dem Tod von Ian Fleming einen Fortsetzungsband für dessen James-Bond-Serie zu schreiben. Schon weil die Nazis die literarische Moderne verfolgt und verboten hatten, war sie in Deutschland in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nahezu sakrosankt. In England dagegen wirkte sie eher wie ein angestaubtes Relikt der Vorkriegsjahre, wie ein kulturelles Highbrow-Überbleibsel der alten Klassengesellschaft, die mit dem Kriegsende endlich überwunden werden sollte. Larkin und Amis waren Orientierungsfiguren dieser Rebellion gegen ein allzu akademisches Verständnis von Literatur. Larkin schrieb damals: „Wenn ein Dichter das Publikum verliert, das aus Vergnügen liest, hat er das einzige Publikum verloren, das zählt.“ In Deutschland hätte sich ein Autor mit solchen Sätzen schnell ins Abseits manövriert. In England stiegen Larkin und Amis zu den höchsten Ehren ihres Landes auf.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 3. Juli 2010

Philip Larkin: „Jill“. Roman
Deutsch von Steffen Jacobs Haffmans Verlag bei 2001, Berlin 398 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-942048-11-1
Kingsley Amis: „Jim im Glück“. Roman
Deutsch von Steffen Jacobs Haffmans Verlag bei 2001, Berlin
416 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-942048-10-1
Beide Bände zusammen 36,80 €

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„Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“

 Christa Wolf denkt in Los Angeles nach über Christa Wolf   Christa Wolf kann Jubiläum feiern. Seit jetzt fünfzig Jahren publiziert sie Romane, Erzählungen, Prosa. Sie ist eine der berühmtesten Autorinnen deutscher Sprache, man kennt ihre Stimme, man kennt ihren Ton. Ihr neues Buch „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ hält da wenig Überraschung bereit. Frei nach Amazon: Wer die früheren Bücher von Christa Wolf mochte, wird auch dieses Buch mögen. Und umgekehrt. Die Zahl ihrer Anhänger ist groß, die Zahl ihrer Gegner nicht minder. Was die Arbeit dieser Autorin angeht, scheinen alle Argumente ausgetauscht, seit sich Anfang der neunziger Jahre an ihrer Erzählung „Was bleibt“ die erste große Literaturdebatte des wiedervereinigten Deutschland entzündete. Von der Zeit kurz danach handelt „Stadt der Engel“. Im Mai 1992 hatte Christa Wolf in der Gauck-Behörde 42 Ordner eingesehen, die von der Stasi angelegt worden waren über die Versuche, sie in der DDR-Zeit auszuspionieren: ihre Opfer-Akten. Danach legte ihr die zuständige Mitarbeiterin, entgegen der Regeln der Behörde, einen schmalen Hefter mit Unterlagen vor, in der sie dreißig Jahre zuvor unter dem Decknamen „Margarete“ als Spitzel geführt worden war: ihre Täter-Akte. Eine Verpflichtungserklärung gab es nicht, ihre Berichte enthielten fast nur Banalitäten. Nach eigenen Auskünften war diese Entdeckung für sie ein Schock, sie hatte die kurze Affäre verdrängt. Schon nach ihrer Erzählung „Was bleibt“ hatte man sie für ihre Staatsnähe in den Jahren des DDR-Regimes angegriffen. Mit welchen Kommentaren sie zu rechnen hatte, sobald diese Täter-Akte bekannt wurde, lag auf der Hand. Wohl auch deshalb nahm sie im September 1992 die Einladung des Getty-Centers in Los Angeles zu einem neunmonatigen Aufenthalt an: Eine Flucht vor dem sich zusammenbrauenden publizistischen Sturm. Im Januar 1993, also lange nachdem man ihr ihre alten Spitzelberichte vertraulich vorgelegt hatte, machte sie von Kalifornien aus in einem Zeitungsartikel ihre Stasi-Episode öffentlich. Natürlich kann man mit einigem Recht die Frage stellen, ob es literarisch klug ist, einen solchen Stoff zu wählen. Ein Fall wie dieser schreit nach eine objektiven, faktenbetonten Darstellung durch einen neutralen Historiker oder Biographen. Aber neutral ist Christa Wolf in eigener Sache nicht. Also muss sich niemand wundern, wenn sich „Stadt der Engel“ über weite Strecken wie eine bemühte, mit vielen Zweifeln am eigenen Gedächtnis und mit mehr als nur einer Prise Selbstmitleid gewürzte Rechtfertigungsschrift liest. Doch auf Objektivität zielt Christa Wolf hier nicht. Schon seit Ende der sechziger Jahre verfolgt sie in etlichen ihrer Bücher ein Programm, das sie selbst „subjektive Authentizität“ getauft hat. Dabei geht es ihr nicht darum, Figuren und eine Fabel zu erfinden – wie sie es in „Kein Ort, nirgends“ oder „Kassandra“ tat – sondern um eine Art Selbstversuch mit erzählerischen Mitteln: Der Schriftsteller macht sich selbst zur Forschungsgegenstand mit all seinen Erfahrungen, Erinnerungen, Reflektionen, Träumen und bietet sich als öffentliches Fallbeispiel gesellschaftlicher Entwicklungen an. Wer kein großer Bewunderer Christa Wolfs ist, wird das eine ziemlich privatistische, innerlichkeitstrunkene Poetik nennen und Bücher wie „Störfall“ oder „Sommerstück“ als unerträglich selbstbezogene Belanglosigkeiten abtun. Andererseits hat sie, diesem Programm folgend, mit „Nachdenken über Christa T.“ oder „Leibhaftig“ auch sehr beeindruckende Arbeiten abgeliefert. Mit „Stadt der Engel“ variiert Christa Wolf diese Poetik. Dafür gibt es gleich zu Anfang zwei Hinweise. Zum einen die Erklärung, die Figuren des Buches seien, von historischen Persönlichkeiten abgesehen, frei erfunden. Zum anderen stellt sie ein Motto von E.L. Doctorow voran: „Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller einfangen.“ Zu den Tricks des Romanciers Doctorow gehört es nicht zuletzt, manche seiner Gesichten als Tatsachenberichte auszugeben, den Lesern zugleich aber anzudeuten, dass sie auf gefälschten Dokumenten beruhen, letztlich also ihre Glaubwürdigkeit nur vortäuschen. Wer Christa Wolfs jüngstes Werk als authentischen Bericht über ihre Krisen-Monate in Los Angeles, der Stadt der Engel, lesen möchte, tut das folglich auf eigene Gefahr. Das Buch hält sich alle Möglichkeiten der Fiktion offen und dennoch den Bekenntnis-Tonfall der „subjektiven Authentizität“ bei. Man kann das als reizvolles erzähltechnisches Verfahren mit spielerisch postmodernen Zügen betrachten. Doch macht das die Geschichte, die sich so eng an die Biographie Christa Wolfs anschmiegt, seltsam unverbindlich, da im Zweifelsfalle alles eben doch als literarische Erfindung ausgegeben werden kann. Sicher, Christa Wolfs Ton des emphatischen Nachsinnens und Beschwörens der Erinnerungen findet bereits seit vielen Jahren eine große Leser-Gemeinde. Doch ist es deshalb falsch, auf die fast vollständige Abwesenheit von Witz in der Prosa Christa Wolfs hinzuweisen? Gemeint ist damit nicht der Witz als unterhaltsame Pointe, sondern im Sinne vergangener Jahrhunderte als ein Esprit, der mit wenigen Worten überraschende, neue Einsichten vermittelt. Selbstverständlich hat Christa Wolf alles Recht der Welt, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die ihr seinerzeit wegen ihrer stark angestaubten „Margarete“-Akte gemacht wurden. Aber muss sie das mit derart absehbaren, abgegriffenen Argumenten tun? Auch was sie über ihren Zufluchtsort Kalifornien oder über die Wiedervereinigung zu sagen hat, war schon so oft zu lesen, dass die Frage gestattet sein muss, ob es wirklich nötig war, das noch einmal auf über 400 Seiten aufzuschreiben. Bei einem Thema allerdings läuft Christa Wolf zu großer Form auf: Mit Leidenschaft berichtet sie von der heroischen Frühzeit des Sozialismus auf deutschen Boden. Wohl nicht zuletzt weil sie derzeit in der deutschen Geschichtspolitik eine denkbar kleine Rolle spielen, erinnert sie an Menschen, die sich mit Idealismus und Selbstverleugnung für den Aufbau einer angeblich besseren Gesellschaftsordnung einsetzten – und dafür nicht nur vom Schicksal, sondern oft auch von ihrer eigenen Partei brutal bestraft wurden. Brecht ist hier einer ihrer meistzitierten Gewährsmänner. Vergleichbare Helden- und Märtyrer-Geschichten lassen sich aus unserer Gegenwart kaum erzählen. Wer opfert sich schon uneigennützig auf für das Gedeihen der kapitalistischen Gesellschaft? Doch wie heißt es im „Galilei“ von Brecht: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“

Die Rezension erschien in der „Welt am Sonntag“ vom 13. Juni 2010

Christa Wolf „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 415 Seiten, 24,80 € ISBN3-518-42050-8

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Kritik als geistiges Schauspiel

Zum 90. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki / Eine Talkshow  
Fernsehstudio, Scheinwerfer, Kameras. Auf dem Podium ein Moderator und drei Talkshowgäste. Als Kulisse Möbelhaus-Regale mit Möbelhaus-Buchattrappen.
Moderator: Guten Abend meine Damen und Herren, heute feiert der wohl bekannteste Kritiker der Gegenwart, Marcel Reich-Ranicki, seinen 90. Geburtstag. Aus diesem Anlass haben wir drei seiner berühmtesten deutschen Kollegen zum Gespräch eingeladen. Ich darf vorstellen, von rechts nach links: Friedrich Schlegel (1772 – 1829), Ludwig Börne (1786 – 1837) und Alfred Kerr (1867 – 1948).
Schlegel, Börne, Kerr nicken knapp in die Kamera
Moderator:Marcel Reich-Ranicki wurde 1920 in Włocławek, Polen, geboren, besuchte ab 1929 in Berlin die Schule…  Kerr   unterbricht: Was ist das hier? Schulfunk?
Schlegel; Dafür brauchen Sie uns ja wohl nicht. Das weiß inzwischen jeder. (Steht auf, will gehen).
Kerr: Das weiß jeder Tankwart! Wie Reich-Ranicki so gern sagt.
Will ebenfalls gehen, Börne macht Anstalten, den beiden zu folgen
Moderator  (verdattert): Aber meine Herren. Was wollen Sie denn?
Kerr:   Fragen. Ernste Fragen.
Schlegel: Wir sind schließlich nicht zum Spaß hier.
Schlegel, Börne, Kerr lassen sich zurück in ihre Sessel fallen.
Moderator (eifrig): Also Fragen! Zum Beispiel: Wie konnte Reich-Ranicki die herausragende Position erreichen, die er heute hat?
Kerr: Blöde Frage.
Börne: Das ist viel zu pauschal und undifferenziert gefragt. Ich will Ihnen trotzdem eine Teilantwort geben: Als Reich-Ranicki 1958 in die Bundesrepublik kam, hatte die Literatur eine ganz andere Funktion als heute. Sie war ein Leitmedium mit großem Einfluss auf das öffentliche Bewusstsein des Landes. Von der Kultur erwartete man nach dem Nazi-Desaster politisch-moralische Orientierung. Reich-Ranicki hat damals in seinen Kritiken oft wie ein Anwalt argumentiert. Er hat manchen Autoren nachgewiesen, wie tief sie noch – unbewusst – im Nazi-Denken stecken geblieben waren. Solche Rezensionen von ihm erschütterten den Kulturbetrieb wie Erdbeben. Dazu machte er, der eben aus dem Ostblock gekommen war, den ahnungslosen Westdeutschen klar, was literarisch in der DDR lief und dass dort keineswegs nur dumpfe Parteischriftsteller schrieben.  Schlegel</strong>: Mein lieber Börne, ich verstehe: Ihnen als dem politischen Zuchtmeister unter den deutschen Großkritikern gefällt dieser Aspekt an Reich-Ranickis Laufbahn besonders. Aber hinzufügen sollten Sie, wie wenig Reich-Ranicki sich aus politischen Gründen in seinem literarischen Urteil beirren ließ. Seine Verrisse von Heinrich Bölls Romanen sind legendär. Obwohl er Böll politisch verteidigte, ging er mit ihm literarisch ins Gericht.  Kerr</strong>: Kritik als geistiges Schauspiel! Großes öffentliches Spektakel. Jeder Artikel ein Drama!  Moderator</strong>: Aber andere Kritiker dieser Zeit haben auch politisch argumentiert. Warum wurde gerade Reich-Ranicki so populär?  Kerr</strong>: Der Mann hat sagenhaftes Temperament. Seine Kritiken sind keine gelehrten Erörterungen, sondern Brandreden. Er ist ein Volkstribun. Ein Volkstribun der Kritik. So etwas liebt das Publikum. Ich bin Theaterkritiker. Ich weiß das.  Moderator</strong>: Aber wurde er von seinem Temperament nicht auch zu Fehlern hingerissen? Hat er nicht auch Autoren verkannt?  Kerr</strong>: Blöde Frage. Natürlich.  Börne</strong>: Kein Kritiker ist allen Spielarten der Literatur gewachsen. Dazu ist Literatur viel zu komplex. „Was man sagt, stimmt nie“, meinte Robert Musil einmal, „das Phänomen ist immer vielseitiger als die Kritik.“ Also macht jeder Kritiker Fehler. Wie könnte es anders sein? Wenn selbst Ärzte, Apotheker, Architekten Fehler machen, warum sollten gerade Kritiker unfehlbar sein? Kerr hielt Brecht für eine Niete. Schlegel schieb herablassend über Lessings Stücke…
Schlegel</strong>: …und von Ihnen, lieber Börne, stammt der Satz: „Seit ich fühle, habe ich Goethe gehasst, seit ich denke, weiß ich warum.“  Börne   <em>(mürrisch): </em>Ja, sicher. Wie ich sage: Kein Kritiker ist unfehlbar. Jeder verkennt irgendwann mal einen Autor. Wird ein Kritiker so stark wahrgenommen wie Reich-Ranicki, werden auch seine Fehlurteile stark wahrgenommen. Der Ruhm wirkt wie ein Vergrößerungsglas. Die Missgriffe unbekannter Kritiker werden achselzuckend übergangen und vergessen.
Moderator</strong>: Aber warum hatte und hat Reich-Ranicki dann so viele Gegner und oft auch Feinde? Erst kürzlich hat Martin Walser in seinem Tagebuch…
Kerr   <em>(unterbricht): </em>Saublöde Frage.  Börne</strong>: Verächtlich ist der Kritiker, der keine Feinde hat.  Schlegel</strong>: Sich Feinde zu machen, gehört zum Handwerk eines unabhängigen Kritikers. Nur wer so urteilt wie alle anderen Kritiker auch, hat keine Feinde. Denn der geht ängstlich inmitten der Herde in Deckung. Aber Deckung hat Reich-Ranicki nie gesucht. Im Gegenteil. Wer eigenständige und entschiedene Urteile fällt, hat schnell eine eigenständige und entschiedene Kollektion von Feinden. Bei Reich-Ranicki kommt aber vielleicht noch ein zweiter Umstand hinzu. Er selbst hat das beschrieben: Reich-Ranicki zeichnet sich durch eine Eigenschaft aus, die oft bei Juden auffällt, sei es günstig, sei es ungünstig, und die zur Folge hat, dass sie, die Juden, für manche Menschen in ihrer Umgebung nicht so leicht erträglich sind und ihnen vielleicht sogar auf die Nerven gehen. Was ich meine, lässt sich mit Worten wie „Intensität“ oder „Heftigkeit“ andeuten. Reich-Ranicki besitzt Intensität in hohem Maße.
Kerr: Intensität? Leidenschaft! Verbunden mit dem festen Glauben an Vernunft und Argument.
Moderator: Aber von Politik ist in seinen Kritiken heute keine Rede mehr.
Börne: Ja, weil die Welt sich dreht und die Dinge sich wandeln. Und mit ihnen die Literatur.
Schlegel: Spätestens mit den achtziger Jahren hatte sich die Funktion der Literatur in Deutschland geändert. Die einzige intellektuelle Gewissheit war nun, dass es keine intellektuellen Gewissheiten mehr gibt. Dass es nur noch konkurrierende Denkformen gibt, die alle ein gewisses Recht für sich beanspruchen können. Man hat das „postmodern“ genannt, aber es sieht manchen Überzeugungen aus meiner Epoche um 1800 zum Verwechseln ähnlich. Reich-Ranicki hat das gespürt. Also feierte er die Literatur als ein Vergnügen, als ein ironisches Spiel, bei dem Weltsichten erprobt werden, der Autor aber augenzwinkernd zu verstehen gibt, dass man alles das mit gleichem Recht auch aus anderer Sicht betrachten könnte. Mit Beliebigkeit hat das nichts zu tun. Denken Sie daran, wie oft er sich trotzdem mit anderen im Literarischen Quartett in die Haare geriet.
Moderator: Gut, dass Sie das Quartett ansprechen. Hat er damit die Literaturkritik endgültig an die Fernsehunterhaltung verkauft?  Kerr: Bravo, das ist Ihre schwachsinnigste Frage. Das Quartett war Streit um die Literatur vor Kameras. Reich-Ranicki hatte den Mut und das Talent, das zu inszenieren. Hat bis jetzt kein anderer gekonnt. Eingehende, gründliche Literaturkritik war das nicht. Die findet auch weiterhin auf Papier statt. Reich-Ranicki war der erste, der das betonte. Aber der Kritiker darf neue Medien nicht scheuen. Ich habe in meiner Zeit das Radio für die Kritik erprobt. Mit Erfolg, es hat dem Theater Zuschauer gebracht. So wie das Literarische Quartett der Literatur Leser brachte.  Schlegel</strong>: Das Quartett war fabelhaft, weil es demonstrierte, dass zu jedem Buch mehrere Urteile zugleich möglich sind. Wenn ein Kritiker schreibt, will er allein seine Ansichten gelten lassen. Wenn er aber im Quartett mit anderen sprach, musste er sich die Ansichten der anderen anhören. Den Zuschauern wurde gezeigt, dass es auch in der Literatur keine Gewissheiten gibt, sondern nur Meinungen. So lieferte das Literarische Quartett ein Bild seiner Zeit.  Börne</strong>: Dazu lieferte es einen Beweis: Nämlich wie lehrreich Fernsehen sein kann, wenn Moderatoren ausnahmsweise etwas vom Thema ihrer Sendung verstehen. (Sieht den Moderator an.) Reich-Ranicki hat Beispielloses geleistet für Literatur und Kritik in Deutschland. Nicht zuletzt hat er immer wieder an uns, an die Kollegen Schlegel, Kerr und mich erinnert. Weshalb es für uns ein Leichtes war, diese Talkshow unter anderem mit Worten zu bestreiten, die er über uns schrieb oder aus unseren Werken zitierte.
Der Moderator schwitzt, gibt der Regie ein Zeichen, die Kamera schwenkt auf die Buchattrappen, der Abspann beginnt.

Die Talkshow erschien in der „Welt“ zu Marcel Reich-Ranickis 90. Geburtstag am 2. Juni 2010.

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Die Haut ist klüger als der Kopf

Im „Streichelinstitut“ von Clemens Berger vergrößern Fingerspitzen das Glück der Welt

„Schön war die Welt, in der alle alles gern taten und dabei pfiffen und lächelten und sich artig verbeugten!“ Sebastian hat diese weichgespülte Utopie für sich persönlich wahr gemacht. Er studiert Philosophie in Wien, und zwar gern. Aber er achtet gewissenhaft darauf, diese Beschäftigung nicht in Mühsal oder gar Arbeit ausarten zu lassen, weil ihm dann das Pfeifen und Lächeln verginge. Also verbringt er den größten Teil seiner Zeit nicht am Schreibtisch, sondern beim Plaudern mit Freunden in Kneipen und Kaffeehäuser, oder noch lieber in Straßencafés, wo ihn der Sonnenschein verwöhnt. Aber dann kommt Anna. Anna ist Dozentin des Instituts, an dem Sebastian studiert, wenn er nicht gerade im Sonnenschein pfeift und lächelt. Die beiden verlieben sich, werden ein Paar und Sebastian, der Lebensgenießer, muss einsehen, wie sehr Anna zu seinem Glück beiträgt. Doch Anna macht ihm klar, dass er, wenn sie ein Paar bleiben sollen, sich etwas einfallen lassen muss, um seinen weiteren Lebensunterhalt zu finanzieren. Aber was? Sebastian macht sich über seine Chancen auf den Arbeitsmarkt keine Illusionen: „Die einen Philosophiestudenten wurden Taxifahrer, die anderen landeten in der Psychiatrie, manche gingen in die Marktforschung.“ Der Erzähler und Stückeschreiber Clemens Berger hat selbst einmal in Wien Philosophie studierte, aber inzwischen im Alter von nur 30 Jahren bereits drei Romane, zwei Theaterstücke und zwei Erzählungsbände vorzuweisen. Vermutlich sitzt er also seltener lächelnd in der Sonne als sein Held Sebastian. Er hat aus ihm einen sympathischen Taugenichts gemacht, der über die Weltrevolution räsoniert, aber im Grunde nicht Politik, sondern Frauen im Kopf hat. Und Sebastian ist klug genug, gerade in dieser Neigung das Talent zu erkennen, aus dem er einen Beruf machen kann: Er gründet das weltweit erste Streichelinstitut. Auf diese Idee ist Sebastian nicht zuletzt deshalb so stolz, weil er sie auch politisch präzise durchdacht hat: Jede Form traditioneller Lohnarbeit führt zu Entfremdung und Vereinzelung der Menschen und vermehrt so das Leid in der Welt. Ist es da nicht eine gute Tat, den unglücklichen Menschen Entlastung zu verschaffen, indem er sie – gegen Honorar versteht sich – stundenweise streichelt? Denn beim Streicheln, so bestätigen ihm die Frauen, ist er ein Genie. Freundin Anna freut sich über Sebastians neuen geschäftlichen Ehrgeiz, kann aber verständlicherweise diese spezifische Geschäftsidee nicht einschränkungslos gutheißen: „Die erste Regel wäre: Kein Sex, niemals“, entscheidet sie mit Blick auf seine künftigen Klientinnen. Clemens Berger hat merklich Freude an den komischen Aspekten seiner Geschichte. Aber er gibt ihr dazu ein paar ernstere Züge. Die Haut, predigt Sebastian, sei klüger als der Kopf, weshalb das Streicheln oft mehr Einfluss auf das Leben habe als das Denken. Doch diese Erkenntnis gilt auf vertrackte Weise auch für Sebastian selbst: Da ist zum Beispiel Észter, eine unvergessene Ex-Geliebte, die im fernen Paris studiert und mit der er deshalb nicht streichelnd, sondern nur per Internet in Verbindung bleiben kann. Gerade der Mangel an Hautkontakt zu ihr weckt in Sebastians ein solches Begehren, dass er Annas Liebe aufs Spiel setzt, um zu einem nicht mehr nur virtuellen Treffen mit Èszter zu eilen – das dann naturgemäß in Enttäuschung endet. Auch Anna kann der Versuchung nicht widerstehen, per Kamera ein paar Streichel-Sitzungen Sebastians zu überwachen – und erliegt der Ausstrahlung einer Klientin, die zuvor schon Sebastian verführte. Diese Klientin erweist sich zudem als so geschäftstüchtig, dass sie nicht nur Sebastians Institut publizistisch professionell vermarktet, sondern umgehend Streichel-Personal einstellt, um das Ein-Mann-Unternehmen zielstrebig zum Streichel-Imperium auszubauen. Aus Sebastian, dem entschieden Feind der Lohnarbeit, droht nun also ein Lohnherr zu werden, der seine Kaffeehaus-Aufenthalte künftig durch die Ausbeutung fremder Leute Fingerspitzen finanzieren kann. Clemens Berger erzählt das alles angenehm unbeschwert und lebendig. Allerdings neigt er dazu, manche seiner Einfälle etwas zu liebevoll auszubreiten: Wo ein oder zwei Sätze ausgereicht hätten, um begreiflich zu machen, um was es ihm geht, wird er auch nach fünf oder sechs Sätzen nicht müde, den jeweiligen Gedanken wieder und wieder zu variieren. Das kann ungeduldig machen. Doch Sebastian und all seine vielen Frauen sind so sympathisch, dass man ihnen nie wirklich böse sein kann, wenn sie wieder einmal nicht so richtig auf den Punkt kommen.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 29. Mai 2010

Clemens Berger: „Das Streichelinstitut“. Roman Wallstein Verlag, Göttingen 365 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-8353-0619-6

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Du meine Weiße, Königin, Du meine Freiheit!

Brigitta Eisenreich erzählt von ihrer geheimen Liebe mit dem Dichter und Verführer Paul Celan  

Das Zentralgestirn dieses Buches heißt Paul Celan. Kaum ein Satz, der nicht auf ihn oder sein Werk zielte. Aber dennoch ist es nicht Celan, der den stärksten Eindruck hinterlässt, sondern der Trabant, der um das Gestirn kreist. Dieser Trabant trägt den Namen Brigitta Eisenreich und ist heute 81 Jahre alt. Von 1953 bis 1962 hatte Brigitta Eisenreich in Paris ein Verhältnis mit Celan und als ihr Jahrzehnte nach seinem Tod klar wurde, dass im Deutschen Literaturarchiv zusammen mit dem Nachlass Celans Briefe und Gedichte von ihr aus jener Zeit verwahrt werden, entschloss sie sich, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Sie selbst nennt ihr Buch nüchtern „Bericht“, doch es ist weit mehr als das: Es ist die Geschichte einer außerordentlichen Liebe und vor allem die Geschichte einer klugen, furchtlosen, großmütigen Geliebten. Damit kein falscher Eindruck entsteht: An keiner Stelle spielt sich Brigitta Eisenreich unangemessen in den Vordergrund, sie hat nahezu jeden Anflug von Eitelkeit aus ihren Erinnerungen getilgt. Wer sentimentale Plaudereien, wer wortreich beschworene Liebesstürme oder nachträgliche Klagelieder über das Los der verheimlichten Geliebten erwartet, wird in diesem Buch nicht auf seine Kosten kommen. Das Auf und Ab der eigenen Gefühle erwähnt Brigitta Eisenreich, die Celan konsequent in den Mittelpunkt stellt, allenfalls am Rande. Oft genug lässt es sich nur aus Andeutungen erschließen. Doch das macht ihre Rolle in diesen Erinnerungen umso eindrucksvoller und stellt Celan, auf den sie alle Aufmerksamkeit zu lenken sich bemüht, schließlich in den Schatten. In der Celan-Forschung, die jeden Stein im Leben ihres Dichters gleich mehrfach umdreht, war bislang wenig über Brigitta Eisenreich zu erfahren. Die Biographen erwähnen sie mit keiner Zeile. Ende 1960 hatte sie einen Leserbrief konzipiert, mit dem sie Celan gegen den hanebüchnen Vorwurf, er habe Verszeilen Ivan Golls in seinen Gedichten plagiiert, in Schutz nahm. Dieser Leserbrief wurde nie gedruckt, ging aber in die umfangreiche Dokumentation zur „Goll-Affäre“ von Barbara Wiedemann ein. Viel mehr war über diese Frau, die manches Geheimnis mit einem der wichtigsten Dichter der deutschen Nachkriegsliteratur teilte, bislang nicht bekannt. Es muss eine jener fabelhaft beschwingten Pariser Sommernächte gewesen sein, in der sich Brigitta Eisenreich und Paul Celan kennen lernten. Sie war 23 Jahre alt, Österreicherin, verdiente sich ihr Studium als Au-Pair-Mädchen und war oft einsam in der großen, fremden Stadt. Ihr Bruder, der Schriftsteller Herbert Eisenreich (1925 – 1986), besuchte sie im Juni 1952. Er war Celan kurz zuvor bei einer Tagung der Gruppe 47 begegnet und versprach ihr, sie „mit jemand durchaus Besonderem“ bekannt zu machen. Einen Abend lang führte Celan die beiden aus, zeigte ihnen seine Lieblingsplätze im Quartier latin und präsentierte sich von seiner charmantesten Seite. „Er war ein Dichter“, schreibt Brigitta Eisenreich heute, „aber auch, das steht außer Zweifel, zu jeder Zeit ein Verführer, mit einem feststehenden Repertorium an Zauberkünsten.“ Zunächst blieb es bei einem losen Kontakt, Celan, damals 32 Jahre alt, stellte ihr seine Verlobte Gisèle Lestrange vor, die er im Winter 1952 heiratete. Doch eines Abends im Herbst 1953 hörte Brigitta Eisenreich jemanden unter dem Fenster ihres Zimmers ein Motiv aus Schuberts „Unvollendeter“ pfeifen. Sie erkannte Celan, öffnete ihm und war sich sofort klar, „dass ich in etwas Schweres hineinging“. Der Beginn der Liaison zwischen beiden fiel in eine für Celan bittere Zeit: Sein erster Sohn François war wenige Stunden nach der Geburt gestorben. Die enorme Verständnisbereitschaft Brigitta Eisenreichs für den trauernden Dichter und den Mann verrät ihr illusionsloser Satz: „Auf Celans zu diesem Zeitpunkt zwangsläufig einsamen Wanderungen durch die Stadt lag ihm meine Wohnstätte, wenn ich so sagen darf, gewissermaßen als Trost- und Haltestelle am Weg.“ Zurückhaltender kann man die eigene Rolle im Leben eines Geliebten kaum beschreiben und mitfühlender die Tatsache, dass Celan seine Frau nur ein Jahr nach der Hochzeit und weniger Tage nach Tod des ersten Kinds hinterging, nicht akzeptieren. Brigitta Eisenreich hielt ihrer beider Liebe von Beginn an frei von Besitzansprüchen und engherzigen Moralvorstellungen. Sie schuf Celan so in ihrem Studentenzimmer eine Zuflucht von fast paradiesischer Unschuld, die unbeschwert blieb von allen Verpflichtungen. Nicht einmal an Liebesäußerungen kann sie sich aus dieser Anfangszeit erinnern, wohl aber an Celans Verwirrung über die Intensität seiner Lust: „Mir war bewusst, dass die starke physische Anziehung, die Celan für mich empfand, ihn beunruhigte.“ Ganz falsch wäre es, sich Brigitta Eisenreich als ein entsagungsvoll auf ihren Liebhaber wartendes Mauerblümchen vorzustellen. Sie war eine rotblonde Schönheit, lebte ein sehr selbstständiges Leben, arbeitete viel, reiste kreuz und quer durch Europa, trieb ihr Studium voran und übernahm später als Ethnologin im Wissenschaftsbetrieb Frankreichs wichtige Funktionen. Doch bei all dem reservierte sie Celan einen Platz in ihrem Herzen. „Du meine Weiße“ nannte er sie, „Du meine Freiheit“ und „Königin“. Wenn er sie besuchte, hörten sie Musik, sangen zusammen(!), sprachen über Literatur und nicht zuletzt über Celans Gedichte. Als Dichter deutscher Sprache fehlte Celan in Paris das alltägliche Bad im gesprochenen Deutsch. „Zu mir kam er wohl auch“, resümiert Brigitta Eisenreich, „und vielleicht sogar in erster Linie, um für dieses Fehlende einen Ersatz zu finden.“ Der Preis, den sie dafür zahlen musste, war nicht klein. Ende 1955 wurde sie schwanger. Da Celan verheiratet und sie beruflich völlig ungesichert war, blieb nur eine Abtreibung. Celan beschaffte das Geld, Brigitta Eisenreich fuhr allein nach Berlin in eine Klinik und nach dem Eingriff allein wieder zurück. Später zeigte sich Celan allerdings von einer wenig ritterlichen Seite und fragte sie, ob jenes nie geborene Kind tatsächlich von ihm gewesen sei. Doch selbst dafür setzt ihn Brigitta Eisenreich in ihrem Buch nicht auf die Anklagebank. Am deutlichsten wird die besondere Zuneigung, die sie sich für Celan bis heute bewahrt hat, wenn sie Indizien dafür anführt, dass er seiner Frau Gisèle innerlich auf seine Weise trotz allem die Treue gehalten habe. Brigitta Eisenreich war klar und sie akzeptierte, dass sie in Celans Leben nicht zu den Hauptpersonen gehörte, sondern eine – gern besuchte – Randfigur blieb. Ab einem bestimmten Zeitpunkt spielte Celan, dem als Dichter nichts so sehr verhasst war wie die Lüge, seiner Frau gegenüber mit offeneren Karten: Er gestand ihr das Wiederaufflammen seiner Affäre mit Ingeborg Bachmann 1957 ein und bald darauf offenbar auch die Beziehung zu Brigitta Eisenreich (was er der allerdings lange verschwieg). 1961 versuchte er sogar zwischen beiden ein Verhältnis wie zwischen „Schwestern“ zu stiften und arrangierte zwei Abendessen zu dritt – doch die beiden Frauen blieben distanziert. Hans-Georg Gadamer schrieb einmal, dass „uns manches Gedicht Celans erst dann aufgehen wird“, wenn uns „aus der Kenntnis von Freunden“ dieses Autors neue Informationen über ihn „zugeflossen sind“. Schon allein in diesem Sinne ist Brigitta Eisenreichs Buch eine unerhörte Fundgrube. Natürlich wird nicht jeder Celan-Leser einverstanden sein, wenn Brigitta Eisenreich in manchen Gedichten Hinweise auf ihre mit Celan verbrachte Zeit zu entdecken glaubt. Doch das macht nichts, der Celan-Interpret, mit dem die ganze Celan-Gemeinde einverstanden wäre, muss erst noch geboren werden. Abgesehen davon sind diese Aufzeichnungen ein unvergleichlicher Schatz für jeden, der sich ein Bild davon machen will, was für ein Mensch dieser Dichter war. Das betrifft keineswegs nur sein Liebesleben. Brigitta Eisenreichs Erinnerungen bestätigen noch einmal, welche katastrophale Wirkung die „Goll-Affäre“ auf Celan hatte. Die Verfolgungsängste aus der Nazi-Zeit, in der seine Eltern ermordet und er selbst in ein Arbeitslager verschleppt worden war, brachen wieder auf. Die Sprache war für den Heimatlosen nach dem Krieg zu einer letzten, innersten Freistatt geworden. Doch gerade aus ihr musste er sich durch die Behauptung, er sei ein Plagiator Ivan Golls, vertrieben fühlen. Er reagierte mit aggressivem Misstrauen auch gegen Freunde, auch gegen Brigitta Eisenreich. Was ihn für sie liebenswert machte, verschwand, er „wurde fordernd und fast gewalttätig“. Er ließ sie oft lange ohne Nachricht, stand dann „mit einer halbgeleerten Flasche Cognac“ vor ihrer Tür und machte ihr Eifersuchtsszenen. Nach ein, zwei ratlosen Jahren trennte sie sich 1962 von ihm. Celan fand aus seiner Krise nie wieder heraus, griff seine Frau mit einem Messer an und verbrachte viele Monate in psychiatrischen Kliniken. Im Jahr nach der Trennung heiratete Brigitta Eisenreich einen Österreicher und bekam eine Tochter. Sie blieben in Frankreich, doch in den ersten ruhelosen Jahren war die kleine Familie zu vielen Umzügen gezwungen. Als Brigitta Eisenreich im November 1969 Celan ein letztes Mal traf, aus Zufall, wohnte sie in Thiais im Süden von Paris. Einige Monate später schickte ihre Mutter ihr aus Österreich eine Zeitungsmeldung vom Selbstmord Paul Celans. Er war, ohne dass sie es ahnte, ganz in ihrer Nähe auf dem Friedhof von Thiais begraben worden.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 22. Mai 2010

Brigitta Eisenreich: „Celans Kreidestern.“ Ein Bericht
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 266 Seiten, 22,80 € ISBN 978-3-518-42147-5

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„Na ja, so ganz seriös war das alles nicht“

 Im Gespräch erinnert sich Marcel Reich-Ranicki an die erste Rezension seines Lebens und die Musik im Warschauer Getto – und geht mit sich selbst hart ins Gericht

„Womit wollen Sie mich jetzt schon wieder langweilen?“ fragt Marcel Reich-Ranicki zu Begrüßung. Im Juni wird er 90 Jahre alt und sieht ein wenig müde aus. Aber nicht so, als würde er lange fackeln, falls man ihn tatsächlich langweilen sollte. „Das würde ich nie wagen“, behaupte ich also vorsichtshalber, und überreiche ihm die „Gazeta Zydowska“ vom 5. Dezember 1941. Es ist die Zeitung der polnischen Gettos, in denen die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs hunderttausende von Juden zusammentrieben, um sie schließlich zu ermorden. Nur sehr wenige sind wie Reich-Ranicki und seine Frau Tosia davongekommen. Die Nummer der „Gazeta Zydowska“ enthält die erste Rezension, die Reich-Ranicki, dieser Großmeister der Kritik, in seinem Leben veröffentliche. Es ist die Besprechung eines Konzertes mit Stücken von Tschaikowski, Weber und Beethoven, die er in Alter von 21 Jahren unter dem Pseudonym Wiktor Hart schrieb. Gerhard Gnauck, der Warschau Korrespondent der „Welt“ hat sie in einem polnischen Archiv entdeckt. Reich-Ranicki beugt sich über die alten Seiten der Zeitung. Er sitzt in einem hohen schwarzen Sessel vor einer Bücherwand, die halb Deutschland durch diverse Fernsehinterviews bestens bekannt ist. Er blättert, findet seinen Artikel und liest. Er nickt unregelmäßig mit dem Kopf, als würde er die Punkte hinter den Sätzen heute, fast 70 Jahre nach ihrer Publikation, nochmals setzen müssen. Einmal verzieht er sein Gesicht und ihm entfährt ein halblautes „Ach“. Er scheint nicht mit allem einverstanden zu sein, was er vor über zwei Menschenaltern schrieb. Dann schaut er auf, fährt sich mit der flachen Hand über den Stirn, wirft den Kopf in den Nacken und fragt herausfordernd: „Ja, und?“

Uwe Wittstock: Ist das tatsächlich die erste Kritik, die Sie veröffentlichten?
Marcel Reich-Ranicki: Nein und Ja. Ich hatte schon in meiner Berliner Schulzeit ein intensives Interesse für Kritik, für Theaterkritik vor allem. Meine Deutschaufsätze waren von der Ambition her als literarische Kritik gemeint (lacht). Eines Tages beschloss ich, in einem Schulheft Kritiken zu schreiben über Aufführungen des Renaissance-Theaters in Berlin. Als erstes rezensierte ich eine Aufführung von Ibsens „Hedda Gabler“. Nach zwei solchen Besprechungen kam ich von der Idee wieder ab und das Heft blieb halbleer liegen. Was Sie mir hier mitgebracht haben, ist also nicht die erste Rezension, die ich geschrieben habe, wohl aber die erste, die gedruckt wurde.
Wittstock: Was halten Sie heute davon?
Reich-Ranicki: Bevor man einen Text kritisiert, selbst wenn es nur eine kleine Rezension ist, muss man sich die historische Situation vor Augen stellen, in der er entstanden ist. Bevor ich in Warschau ins Getto kam, las ich viel und war in hohem Maße an Konzerten und Oper interessiert. Als meine Familie und ich dann ins Getto umziehen mussten, wollte ich von Literatur zunächst nichts mehr wissen. Die Musik spendete Momente des Vergessens und damit des Trosts. Das gelingt der Literatur nicht in der gleichen Intensität. Weshalb sollte ich beginnen, einen dicken Roman zu lesen, wenn ich mir nicht sicher sein konnte, ihn zu Ende lesen zu können, weil mich deutsche Soldaten vielleicht morgen schon oder in den nächsten Stunden ermorden würden? Wittstock: Wer organisierte diese Konzerte im Getto?
Reich-Ranicki: Natürlich die Musiker selbst. Es waren Berufsmusiker, sie wären verhungert, wenn sie nicht Auftrittsmöglichkeiten gefunden hätten. Wittstock: Wenn Sie Ihre Kritik heute lesen, was halten Sie davon? Reich-Ranicki: Na ja, so ganz seriös war das alles nicht. Wittstock: Weshalb?
Reich-Ranicki: Ich hätte das nicht schreiben sollen. Ich war noch so jung, gerade 21 Jahre alt. Ich hatte nicht die Ausbildung, nicht die notwendige Erfahrung. Wittstock: Aber der Artikel klingt doch sehr kompetent. Reich-Ranicki: Ja, er klingt kompetent. Das sind rhetorische Tricks, mit denen hier der Eindruck vermittelt wird, als sei der Autor dieses Artikels kompetent.
Wittstock: Sie sind zu kritisch mit sich selbst. Der Artikel ist kenntnisreich, genau in der Beobachtung und entschlossen im Urteil. In einem Satz wie „Die Ouvertüre zum ‚Oberon‘ ist eine außerordentlich gelungene Einleitung zu einer misslungenen Oper…“ zeigt sich schon die Pranke des späteren Meisterkritikers: prägnant, provokativ und sehr selbstbewusst angesichts eines so großen Komponisten Carl Maria von Webern.
Reich-Ranicki: Na, Pranke ist schon reichlich übertrieben (lacht). Dieser Satz, den sie zitieren, enthält doch nur eine Feststellung von großer Banalität. Das Webers ‚Oberon’ misslungen ist, weiß jeder Tankwart in Deutschland. Wittstock: Die Leute, bei denen Sie tanken, würde ich gern mal kennen lernen. Reich-Ranicki: Jeder, der an Musik interessiert ist, weiß, dass die Ouvertüren zu Webers Opern „Oberon“ und „Euryanthe“ erfolgreich und populär, die Opern selbst aber missraten sind. Es gibt nur eine Oper von Weber, die wirklich gut ist, den „Freischütz“. Wittstock: Sie hatten mit 21 Jahren offenbar bereits gute musikgeschichtliche Kenntnisse. Reich-Ranicki: Erstens: Wir hatten auf unserem Berliner Gymnasium einen sehr guten Musiklehrer. Der hat uns viel beigebracht. Zweitens: Ich habe das, was er uns im Unterricht über Konzerte und Opern erzählte, dann zu Hause in Lexika und anderen Büchern nachgeschlagen. Wir hatten zu Hause ganz gute, populär geschriebene Opernführer und Musiklehrbücher. Ich erinnere mich an die Titel nicht mehr, irgendwas wie „Frisch gesungen!“ oder so (lacht). Aber was in den Büchern stand über die Komponisten, war ganz vernünftig.
Wittstock: Wie viele Kritiken haben Sie damals geschrieben? Reich-Ranicki: Zehn oder fünfzehn vielleicht. Nicht viele. Aber wichtig waren sie nicht. Wichtig ist bis heute, dass die eingesperrten Juden in den Gettos trotz der Not und Angst, in der sie existieren mussten, so etwas wie ein kulturelles Leben aufrechterhalten haben. Das war indirekt auch ein Protest gegen die Deutschen und ihre Mordlust. Natürlich ging es den Musikern vor allem darum, Geld zu verdienen, um nicht zu verhungern. Aber dass es Konzerte im Getto gab und die Liebe zur klassischen Musik nicht aufhörte, war eine Art Widerstand gegen den Terror. Die Juden wollten sich ihre Würde nicht rauben lassen. Wittstock: In Ihrer Autobiographie ‚Mein Leben‘ erzählen Sie, die Redaktion der Getto-Zeitung habe Sie gedrängt, Kritiken zu schreiben: „Ich zögerte, denn ich hatte ja nie im Leben Kritiken publiziert. Ich hatte Angst. Aber die Aufgabe gefiel mir.“ Weshalb hatten Sie Angst und was reizte Sie an der Aufgabe?
Reich-Ranicki: Ein Journalist, den ich kannte, schrieb die Konzert-Rezensionen für die „Gazeta Zydowska“. Als er erkrankte, bat er mich, für ihn einzuspringen. Mich hat das gereizt, schließlich hatte ich als Schüler schon Theaterkritiken für mich selbst geschrieben. Also habe ich das gemacht. Als der Journalist wieder gesund war, sagte er, ich solle das weitermachen, er hätte andere Aufgaben. Einmal habe ich eine Freundin, eine erfahrene Journalistin gefragt, was sie von meinen Rezensionen hielt und sie gab mit Ratschläge.
Wittstock: Was würden Sie dem jungen Kritiker von 21 Jahren, der Sie damals waren, heute mit all Ihrer Erfahrung für Ratschläge geben?
Reich-Ranicki: Finger weg! Das wäre mein wichtigster Rat. Sie haben noch zu wenig Erfahrung, würde ich zu ihm sagen. Wenn unter solchen Umständen, wie im Warschauer Getto, Konzerte gegeben werden, ist es keine gute Idee, kompromisslose Kritiken über diese Aufführungen schreiben zu wollen. Gehen sie hin, hören sie die Musik und schreiben sie nichts darüber. Das würde ich ihm raten. Wittstock: Welche Probleme gab es beim Aufbau dieses Orchesters? Reich-Ranicki: Es gab im Getto viele Streicher. Man hätte mehrere Symphonieorchester mit den hervorragenden Geigern und Bratschisten bestücken können, die im Getto lebten. Aber es gab nur wenige Bläser. Also griff man bei der Zusammenstellung des Orchesters auf Jazzmusiker zurück, die dann Beethoven oder Brahms sehr gut von Blatt spielten. Ein anderes Problem war der Hunger: Wenn sie Trompete oder Posaune spielen, brauchen sie Kraft. Wer sich aber vor Hunger kaum auf den Beinen halten kann, schafft das nicht. Also musste für die Musiker vor einem Konzert Essen beschafft werden. Das war alles sehr riskant. Wittstock: Weshalb riskant? Reich-Ranicki: Allein schon über die Straße zu gehen, war im Getto riskant. Man könnte mit Fleckfieber oder Typhus angesteckt werden. Man konnte einer deutschen Streife in die Hände laufen, die einen aus Übermut zusammenschlug. Meine Familie und ich wohnten damals an der Holzbrücke über die Chlodna-Straße, die man als Jude passieren musste, um vom großen Getto in das kleine Getto zu kommen. Sie wurde von deutschen Soldaten bewacht. Ich habe oft gesehen, wie sie harmlose Leute gequält und geschlagen haben, nur weil die über die Brücke wollte. Schon der Weg zu einem Konzert war für alle Besucher voller Gefahren. Aber sie gingen trotzdem hin. Wittstock: Welche der Musiker sind Ihnen bis heute in Erinnerung geblieben? In Ihrer Autobiographie erwähnen Sie den Dirigenten Simon Pullmann, den Pianisten Richard Spira, die Sängerin Marysia Ajzensztadt. Reich-Ranicki: Ich sehe sie noch alle vor mir. Ich sehe, wie Pullmann vor dem Orchester stand und höre die Stimme der Marysia Ajzensztadt. Sie war eine sehr begabte Sopranistin. Sie wollte um jeden Preis ihren Vater retten. Er war Chor-Dirigent. Er wurde noch auf dem Umschlagplatz ermordet, von dem aus die Züge nach Treblinka abfuhren. Wittstock: Haben Sie einen dieser Musiker nach dem Krieg wiedergesehen? Reich-Ranicki: Keinen, sie wurden alle vergast. Später einmal hat mir ein Geiger mit den unglücklichen Namen Aftergut aus New York geschrieben, der das Getto überlebt hatte. Aber den hatte ich im Getto nie bei einem Auftritt gesehen.
Wittstock: Über das Schicksal des Musikers Wladyslaw Szpilman im Getto hat Roman Polanski seinen weltberühmten Film „Der Pianist“ gedreht. Haben Sie Szpilman je im Getto bei einem Konzert erlebt? Reich-Ranicki: Ja, den habe ich im Getto mehrfach gehört. Er war ein bekannter und sehr begabter Mann. Er hatte schon vor dem Krieg für den polnischen Rundfunk gespielt. Einmal war ich dabei, als er im Getto zusammen mit einem hervorragenden Geiger die Kreuzersonate von Beethoven und andere Sachen spielte. Großartig. Auch nach dem Krieg habe ich Konzerte mit ihm in Warschau gehört und mit ihm gesprochen. Noch ganz am Ende, kurz vor seinem Tod, habe ich mit ihm telefoniert. Ich schrieb damals an meiner Autobiographie „Mein Leben“ und wollte von ihm mehr erfahren über manche jüdischen Musiker und ihre Arbeit im Getto. Er war älter als ich – allerdings noch nicht so alt wie ich heute – und konnte sich leider nicht mehr an viele Einzelheiten erinnern. Wittstock: Marek Edelmann, einer der legendären Leiter des Getto-Aufstandes der Juden gegen die deutschen Truppen, erinnert sich in einem seiner Bücher an die Getto-Konzerte. Sie fanden in einem ehemaligen Kino, dem „Femina“ innerhalb des Gettos statt. Er schreibt, dieses zum Konzertsaal umgestaltete Kino sei am Schluss gar nicht von den Deutschen geschlossen worden, „sondern von der katholischen Kirche. Der Priester fand heraus, dass das Kino weniger als 50 Meter von der Kirche entfernt war, und in einem so geringen Abstand war eine Vergnügungsstätte nicht erlaubt.“ Reich-Ranicki: Ich habe keine Ahnung. Aber wenn Marek Edelman das so beschreibt, dann wird es schon so gewesen sein. Ich habe Edelman nie kennen gelernt, weder im Getto, noch danach. Sie dürfen sich das alles nicht so einfach vorstellen: Die Konzerte wurden mehrfach eingeschränkt oder verboten. Heinz Auerwald, der deutsche Kommissar für das Getto – er war, glaube ich, ein Rechtsanwalt aus Düsseldorf – der hat Konzerte im Getto verboten. Erst die Konzerte mit deutscher Musik. Daraufhin spielte man Verdi oder Tschaikowski. Dann konnte wieder eine Weile deutsche Musik gespielt werden, bis es plötzlich erneut untersagt wurde. Nur Chopin, der war im Getto immer verboten. Offenbar fürchteten die Deutschen, die Musik dieses größten polnischen Komponisten könnte zu sehr an die patriotischen Gefühle der Polen appellieren. Wenige Monate, nachdem sie in Warschau einmarschiert waren, hatten sie bereits das Denkmal Chopins gesprengt. Wittstock: Warum hörten Sie auf, im Getto Kritiken zu schreiben? Reich-Ranicki: Ich glaube, weil die Konzerte nicht mehr stattfanden. Das war alles. Wittstock: Wann haben Sie wieder begonnen, Kritiken zu schreiben? Reich-Ranicki: Knapp zehn Jahre später, 1951. Damals begann ich, Literaturkritiken zu schreiben für polnische Zeitungen und den polnischen Rundfunk. Aber in der Zwischenzeit war ich bereits Mitarbeiter des Außenministeriums gewesen und polnischer Konsul in London und nun arbeitete ich als Lektor in Warschau. Das war in einem anderen Leben, in einer anderen Welt. Lassen wir das. Kommen Sie, es ist gutes Wetter, lassen Sie uns an die Luft gehen.

Reich-Ranicki steht aus seinem Sessel auf, zögert vor der Garderobe, welche Jacke für das laue Frühlingswetter angemessen ist und nimmt mich mit in ein nahe gelegenes Café. Wir setzen uns an einen kleinen Marmortisch, er bestellt sich einen Espresso und Kirschsaft. Die Kellnerin kennt ihn und eilt in die Küche, um den prominenten Gast zufriedenzustellen. Reich-Ranicki schaut ihr nach. „Wissen Sie“, sagt er schließlich, „was seltsam ist, wenn man 90 Jahre alt wird? Jeden Abend, wenn man zu Bett geht, fragt man sich: Ob ich morgen wohl wieder aufwache?“ Er sagt das unaufgeregt, als spreche er von einer Alltagsbeobachtung. „Gewinnt man“, frage ich, „mit zunehmendem Alter eine größere Gelassenheit im Blick auf den eigenen Tod?“ Skeptisch kräuselt er das Kinn: „Nein.“ „Aber die Literatur“, entgegne ich, „die zahllosen Bücher über den Tod, die Sie gelesen haben? Hilft die Literatur, mit dem Gedanken an das eigene Sterben fertig zu werden?“ Reich-Ranicki schweigt, dann sagt er: „Wenn ich auf die Frage ernsthaft antworten soll: Nein.“

Das Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki erschien am 2. Mai 2010 in der „Welt am Sonntag“

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Mit Adorno bei Starbucks

In Philipp Tinglers Roman „Doktor Phil“ trifft der Teufel auf eine höllisch oberflächliche Gesellschaft

Wie geht es eigentlich den Reichen und Schönheitsoperierten? Was tut sich so in der Welt der Fashion Shows und Botox-Injektionen? In der deutschen Gegenwartsliteratur erfuhr man bislang ja so gut wie nichts über ein Milieu, das Donatella Versace zu seinen festen Referenzgrößen zählt. Doch wer auch hier auf dem Laufenden bleiben möchte, ist nun nicht mehr auf bilderreiche und textarme Fachorgane wie „Gala“ oder „Glamour“ angewiesen. Er kann sich vielmehr dem brillanten Roman „Doktor Phil“ des 1970 in Berlin geborenen und in Zürich lebenden Philipp Tingler anvertrauen. Ein sprachmächtiges, erfrischend lebendiges und dazu sehr komisches Meisterstück, das eine der großen Traditionslinien der deutschen Literatur intelligent fortschreibt. Der Held der Geschichte heißt Canow, lebt in Zürich und ist Schriftsteller. Allerdings hat er für den Literaturbetrieb wenig übrig. Er hasst Cordhosen, Rotweinnasen und das eifersüchtige Gerangel um die vergleichsweise dürftigen Plätzchen an der Sonne, die das Buchgewerbe zu bieten hat. Zu seinen bevorzugten gesellschaftlichen Weidegründen zählen stattdessen die Treffs der materiell Gesegneten und geistig völlig Uninteressierten. Über deren Oberflächlichkeit, Selbstsucht und Brutalität macht er sich keine Illusionen. Auch unter ihnen empfindet er sich als Außenseiter. Aber diese Rolle betrachtet er für sich als Schriftsteller als die angemessene, und sieht in der angeblich bessere Gesellschaft mit ihrem eklatanten Mangel an Moral und Verantwortungsgefühl ein vorzügliches künstlerisches Forschungsfeld: „Ich beobachte sie, ich schöpfe aus ihr. Ich studiere an ihr das Menschliche.“ Eines Abends, Canows Frau ist gerade aus dem Haus, klingelt es. Canow öffnet und der Teufel steht vor der Tür. Zunächst kommt es zu Verwirrungen, denn der Leibhaftige hat die Gestalt des reichlich verknitterten italienischen Modeschöpfers Roberto Cavalli angenommen. Doch gibt sich Satan schnell zu erkennen und schlägt Canow – wie einst einem Forscher namens Faust und später einem Tonsetzer namens Adrian Leverkühn – einen waschechten Teufelspakt vor: Er offeriert Canow ein angenehmes Auskommen, unbeschwerte Schaffenskraft ohne irgendwelche Selbstzweifel und alle literarische Anerkennung, die er sich wünscht. Im Gegenzug muss Canow nicht einmal seine Seele verpfänden (eine Zusage, an der allerdings bald Zweifel auftauchen), sondern soll sich lediglich das Datum seines Todes nennen lassen. Das klingt im ersten Moment nach einem höllisch günstigen Angebot. Aber Canow zögert und deshalb bietet ihm der Teufel bei einem zweiten Treffen, zu dem er in der Gestalt von Theodor W. Adorno erscheint, einen zeitlich begrenzten Probelauf an. Doch auch der kann Canow nicht verführen, denn er genießt ohnehin ein beneidenswert angenehmes Leben: „Ich bin ein Glückskind. Was brauche ich den Teufel?“ Tingler hat sich für sein alter ego eine Schriftstellerexistenz mit Villa, Privatsekretärin und Personal Trainer herbeigeträumt – in der allerdings auch permanent überzogene Kreditkarten eine wichtige Rolle spielen. Doch es ist nicht allein der Wohlstand, der Canows Widerwillen gegen den Teufel nährt, sondern ebenso der Stolz auf sein bislang selbst gestaltetes Leben: Die Vorstellung, jenseitige Mächte könnten in sein Schicksal eingreifen, verschreckt ihn eher, als dass sie ihn verlockt. Die Parallelen, aber auch die Gegensätze zu Thomas Manns „Doktor Faustus“ liegen auf der Hand. Tingler hat sie mit wörtlichen Übernahmen aus diesem und anderen Büchern Manns (aber auch von Goethe, Rilke oder Coco Chanel) noch unterstrichen. Doch selbst wenn er sich hier ohne Anführungszeichen und Fußnoten fremder Textbruchstücke bemächtigt hat, kann man zur Beruhigung der in diesen Fragen aktuell so erhitzten Gemüter gleich hinzufügen: Es handelt sich in diesem Fall nicht um Plagiate, sondern um verdeckte Zitate, also Anspielungen, mit denen Gedanken literarischer Vorgänger aufgenommen werden, um sie weiterzuführen. So zeigt auch in „Doktor Faustus“ der Teufel vorübergehend auffällige Ähnlichkeit mit Adorno – worin man eine ziemlich undankbare Neckerei Thomas Manns sehen muss, denn er ließ sich von Adorno für seinen Roman in musikalischen Fragen ausführlich beraten. Zur sarkastischen Pointe wird das gleiche Motiv, wenn Tingler in seinem Roman den Teufel aus Tarnungsgründen als Adorno auftreten lässt: Der Philosoph sei inzwischen derart „aus der Mode“, behauptet der Höllenfürst, dass ihn in dessen Gestalt garantiert niemand mehr erkenne – zumal bei Starbucks auf Zürichs Bahnhofstraße. Der Kontrast zwischen einer so pathetischen Erscheinung wie dem Leibhaftigen höchstpersönlich und dem betont trivialen Milieu, in dem sich Canow bewegt, sorgt für fabelhaft komische Effekte. Tingler schreibt Screwball-Dialoge von bewundernswerter Pointendichte und versteht zugleich, sie zwanglos mit kunsttheoretischen Erörterungen à la Thomas Mann zu verschmelzen. Er hat ein genaues Ohr für Party-Smalltalk und für das, was die Leute sagen, wenn sie eigentlich nichts zu sagen haben. Aber er hat auch einen sicheren Blick für die Hilflosigkeiten, die sich hinter solchem Gebrabbel verbergen. Leider setzt Tingler sein großartiges Talent zum spöttischen Aperçu auch gezielt ein gegen einige leicht erkennbare Akteure unseres Literaturbetriebs, die sich des unverzeihlichen Vergehens schuldig gemacht haben, frühere Bücher Tinglers nicht zu loben. Hier bekommt sein ansonsten so übermütig kluger Roman gelegentlich einen etwas kleinlichen, rachsüchtigen Zug. Die Pointe des Buches ist, dass der Teufel in einer Zeit, die ohnehin nicht mehr daran glaubt, irgendetwas könnte Welt oder Kunst im Innersten zusammenhalten, tatsächlich nur noch wenig zu bieten hat: Jede fundamentale Ordnungsidee, die für alle verpflichtend wäre, würde viel eher als diktatorische Zumutung denn als erlösende Weltformel empfunden. Thomas Manns Teufel konnte noch mit Adrian Leverkühns modernistischen Glauben an einen unerbittlichen künstlerischen Fortschritt (hin zur Zwölftontechnik) rechnen. Tinglers armer Teufel trifft dagegen auf einen abgebrühten postmodernen Schriftsteller, der solchen Fortschritts-Zwängen längst abgeschworen hat und unbekümmert auf seine persönlichen Vorlieben und Fähigkeiten vertraut. Doch es wäre falsch, den Eindruck zu erwecken, in diesem Buch würden vor allem Themen aus dem philosophischen Seminar verhandelt. Es ist vielmehr ein rasanter Gesellschafts- und Künstlerroman auf der Grenze zur Gesellschafts- und Künstlerkomödie. Tingler lässt seinen Helden dabei keineswegs ungeschoren davonkommen: Die Hohlheit des Milieus, in dem er sich bewegt, färbt durchaus auf ihn ab: „Canow war vertraut mit diesen Leuten und ihren Ansichten, sie nahmen ihn als einen der Ihren an, und er unterstellte ihnen, dass sie sich dabei irrten. Doch ohne Widerwillen meinte er zu spüren, wie sich die Ideen der Gesellschaft an ihn heranstahlen, verlockend und verpflichtend, wie er zur Akzeptanz ihrer Urteile neigte und zur Verneinung der Dinge, an die sie nicht glaubte, wie denn überhaupt die Negation eventuell die höchste Qualität dieser Menschen war: ihr Vermögen, Anderes, Fremdes durch schliche Nichtbeachtung inexistent werden zu lassen.“ Manch einer, der Manns „Doktor Faustus“ um seiner intellektuellen und formalen Geschlossenheit willen liebt, könnte über Tinglers „Doktor Phil“ möglicherweise enttäuscht sein. Denn dieser Roman gestattet sich kurze Abschweifungen, unverwobene Erzählfäden und dann und wann ein kleines blindes Motiv. Doch wäre es voreilig, das dem vermeintlich mangelnden Können dieses hochbegabten Autors anlasten zu wollen. „Denn die Sicherheit der Form“, sagt die bemerkenswerte Ehefrau Canows, „ist die Sicherheit des Todes.“ Statt in der Perfektion der Konstruktion schwelgt dieser Roman in der überwältigenden Vielfalt sehr gegenwärtiger Gesellschaftsphänomene. Ein sagenhaftes Vergnügen, und lehrreich obendrein.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 27. März 2010

Philipp Tingler: „Doktor Phil“. Roman Verlag Kein & Aber, Zürich 2010 351 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-0369-5557-5

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