„Na ja, so ganz seriös war das alles nicht“

 Im Gespräch erinnert sich Marcel Reich-Ranicki an die erste Rezension seines Lebens und die Musik im Warschauer Getto – und geht mit sich selbst hart ins Gericht

„Womit wollen Sie mich jetzt schon wieder langweilen?“ fragt Marcel Reich-Ranicki zu Begrüßung. Im Juni wird er 90 Jahre alt und sieht ein wenig müde aus. Aber nicht so, als würde er lange fackeln, falls man ihn tatsächlich langweilen sollte. „Das würde ich nie wagen“, behaupte ich also vorsichtshalber, und überreiche ihm die „Gazeta Zydowska“ vom 5. Dezember 1941. Es ist die Zeitung der polnischen Gettos, in denen die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs hunderttausende von Juden zusammentrieben, um sie schließlich zu ermorden. Nur sehr wenige sind wie Reich-Ranicki und seine Frau Tosia davongekommen. Die Nummer der „Gazeta Zydowska“ enthält die erste Rezension, die Reich-Ranicki, dieser Großmeister der Kritik, in seinem Leben veröffentliche. Es ist die Besprechung eines Konzertes mit Stücken von Tschaikowski, Weber und Beethoven, die er in Alter von 21 Jahren unter dem Pseudonym Wiktor Hart schrieb. Gerhard Gnauck, der Warschau Korrespondent der „Welt“ hat sie in einem polnischen Archiv entdeckt. Reich-Ranicki beugt sich über die alten Seiten der Zeitung. Er sitzt in einem hohen schwarzen Sessel vor einer Bücherwand, die halb Deutschland durch diverse Fernsehinterviews bestens bekannt ist. Er blättert, findet seinen Artikel und liest. Er nickt unregelmäßig mit dem Kopf, als würde er die Punkte hinter den Sätzen heute, fast 70 Jahre nach ihrer Publikation, nochmals setzen müssen. Einmal verzieht er sein Gesicht und ihm entfährt ein halblautes „Ach“. Er scheint nicht mit allem einverstanden zu sein, was er vor über zwei Menschenaltern schrieb. Dann schaut er auf, fährt sich mit der flachen Hand über den Stirn, wirft den Kopf in den Nacken und fragt herausfordernd: „Ja, und?“

Uwe Wittstock: Ist das tatsächlich die erste Kritik, die Sie veröffentlichten?
Marcel Reich-Ranicki: Nein und Ja. Ich hatte schon in meiner Berliner Schulzeit ein intensives Interesse für Kritik, für Theaterkritik vor allem. Meine Deutschaufsätze waren von der Ambition her als literarische Kritik gemeint (lacht). Eines Tages beschloss ich, in einem Schulheft Kritiken zu schreiben über Aufführungen des Renaissance-Theaters in Berlin. Als erstes rezensierte ich eine Aufführung von Ibsens „Hedda Gabler“. Nach zwei solchen Besprechungen kam ich von der Idee wieder ab und das Heft blieb halbleer liegen. Was Sie mir hier mitgebracht haben, ist also nicht die erste Rezension, die ich geschrieben habe, wohl aber die erste, die gedruckt wurde.
Wittstock: Was halten Sie heute davon?
Reich-Ranicki: Bevor man einen Text kritisiert, selbst wenn es nur eine kleine Rezension ist, muss man sich die historische Situation vor Augen stellen, in der er entstanden ist. Bevor ich in Warschau ins Getto kam, las ich viel und war in hohem Maße an Konzerten und Oper interessiert. Als meine Familie und ich dann ins Getto umziehen mussten, wollte ich von Literatur zunächst nichts mehr wissen. Die Musik spendete Momente des Vergessens und damit des Trosts. Das gelingt der Literatur nicht in der gleichen Intensität. Weshalb sollte ich beginnen, einen dicken Roman zu lesen, wenn ich mir nicht sicher sein konnte, ihn zu Ende lesen zu können, weil mich deutsche Soldaten vielleicht morgen schon oder in den nächsten Stunden ermorden würden? Wittstock: Wer organisierte diese Konzerte im Getto?
Reich-Ranicki: Natürlich die Musiker selbst. Es waren Berufsmusiker, sie wären verhungert, wenn sie nicht Auftrittsmöglichkeiten gefunden hätten. Wittstock: Wenn Sie Ihre Kritik heute lesen, was halten Sie davon? Reich-Ranicki: Na ja, so ganz seriös war das alles nicht. Wittstock: Weshalb?
Reich-Ranicki: Ich hätte das nicht schreiben sollen. Ich war noch so jung, gerade 21 Jahre alt. Ich hatte nicht die Ausbildung, nicht die notwendige Erfahrung. Wittstock: Aber der Artikel klingt doch sehr kompetent. Reich-Ranicki: Ja, er klingt kompetent. Das sind rhetorische Tricks, mit denen hier der Eindruck vermittelt wird, als sei der Autor dieses Artikels kompetent.
Wittstock: Sie sind zu kritisch mit sich selbst. Der Artikel ist kenntnisreich, genau in der Beobachtung und entschlossen im Urteil. In einem Satz wie „Die Ouvertüre zum ‚Oberon‘ ist eine außerordentlich gelungene Einleitung zu einer misslungenen Oper…“ zeigt sich schon die Pranke des späteren Meisterkritikers: prägnant, provokativ und sehr selbstbewusst angesichts eines so großen Komponisten Carl Maria von Webern.
Reich-Ranicki: Na, Pranke ist schon reichlich übertrieben (lacht). Dieser Satz, den sie zitieren, enthält doch nur eine Feststellung von großer Banalität. Das Webers ‚Oberon’ misslungen ist, weiß jeder Tankwart in Deutschland. Wittstock: Die Leute, bei denen Sie tanken, würde ich gern mal kennen lernen. Reich-Ranicki: Jeder, der an Musik interessiert ist, weiß, dass die Ouvertüren zu Webers Opern „Oberon“ und „Euryanthe“ erfolgreich und populär, die Opern selbst aber missraten sind. Es gibt nur eine Oper von Weber, die wirklich gut ist, den „Freischütz“. Wittstock: Sie hatten mit 21 Jahren offenbar bereits gute musikgeschichtliche Kenntnisse. Reich-Ranicki: Erstens: Wir hatten auf unserem Berliner Gymnasium einen sehr guten Musiklehrer. Der hat uns viel beigebracht. Zweitens: Ich habe das, was er uns im Unterricht über Konzerte und Opern erzählte, dann zu Hause in Lexika und anderen Büchern nachgeschlagen. Wir hatten zu Hause ganz gute, populär geschriebene Opernführer und Musiklehrbücher. Ich erinnere mich an die Titel nicht mehr, irgendwas wie „Frisch gesungen!“ oder so (lacht). Aber was in den Büchern stand über die Komponisten, war ganz vernünftig.
Wittstock: Wie viele Kritiken haben Sie damals geschrieben? Reich-Ranicki: Zehn oder fünfzehn vielleicht. Nicht viele. Aber wichtig waren sie nicht. Wichtig ist bis heute, dass die eingesperrten Juden in den Gettos trotz der Not und Angst, in der sie existieren mussten, so etwas wie ein kulturelles Leben aufrechterhalten haben. Das war indirekt auch ein Protest gegen die Deutschen und ihre Mordlust. Natürlich ging es den Musikern vor allem darum, Geld zu verdienen, um nicht zu verhungern. Aber dass es Konzerte im Getto gab und die Liebe zur klassischen Musik nicht aufhörte, war eine Art Widerstand gegen den Terror. Die Juden wollten sich ihre Würde nicht rauben lassen. Wittstock: In Ihrer Autobiographie ‚Mein Leben‘ erzählen Sie, die Redaktion der Getto-Zeitung habe Sie gedrängt, Kritiken zu schreiben: „Ich zögerte, denn ich hatte ja nie im Leben Kritiken publiziert. Ich hatte Angst. Aber die Aufgabe gefiel mir.“ Weshalb hatten Sie Angst und was reizte Sie an der Aufgabe?
Reich-Ranicki: Ein Journalist, den ich kannte, schrieb die Konzert-Rezensionen für die „Gazeta Zydowska“. Als er erkrankte, bat er mich, für ihn einzuspringen. Mich hat das gereizt, schließlich hatte ich als Schüler schon Theaterkritiken für mich selbst geschrieben. Also habe ich das gemacht. Als der Journalist wieder gesund war, sagte er, ich solle das weitermachen, er hätte andere Aufgaben. Einmal habe ich eine Freundin, eine erfahrene Journalistin gefragt, was sie von meinen Rezensionen hielt und sie gab mit Ratschläge.
Wittstock: Was würden Sie dem jungen Kritiker von 21 Jahren, der Sie damals waren, heute mit all Ihrer Erfahrung für Ratschläge geben?
Reich-Ranicki: Finger weg! Das wäre mein wichtigster Rat. Sie haben noch zu wenig Erfahrung, würde ich zu ihm sagen. Wenn unter solchen Umständen, wie im Warschauer Getto, Konzerte gegeben werden, ist es keine gute Idee, kompromisslose Kritiken über diese Aufführungen schreiben zu wollen. Gehen sie hin, hören sie die Musik und schreiben sie nichts darüber. Das würde ich ihm raten. Wittstock: Welche Probleme gab es beim Aufbau dieses Orchesters? Reich-Ranicki: Es gab im Getto viele Streicher. Man hätte mehrere Symphonieorchester mit den hervorragenden Geigern und Bratschisten bestücken können, die im Getto lebten. Aber es gab nur wenige Bläser. Also griff man bei der Zusammenstellung des Orchesters auf Jazzmusiker zurück, die dann Beethoven oder Brahms sehr gut von Blatt spielten. Ein anderes Problem war der Hunger: Wenn sie Trompete oder Posaune spielen, brauchen sie Kraft. Wer sich aber vor Hunger kaum auf den Beinen halten kann, schafft das nicht. Also musste für die Musiker vor einem Konzert Essen beschafft werden. Das war alles sehr riskant. Wittstock: Weshalb riskant? Reich-Ranicki: Allein schon über die Straße zu gehen, war im Getto riskant. Man könnte mit Fleckfieber oder Typhus angesteckt werden. Man konnte einer deutschen Streife in die Hände laufen, die einen aus Übermut zusammenschlug. Meine Familie und ich wohnten damals an der Holzbrücke über die Chlodna-Straße, die man als Jude passieren musste, um vom großen Getto in das kleine Getto zu kommen. Sie wurde von deutschen Soldaten bewacht. Ich habe oft gesehen, wie sie harmlose Leute gequält und geschlagen haben, nur weil die über die Brücke wollte. Schon der Weg zu einem Konzert war für alle Besucher voller Gefahren. Aber sie gingen trotzdem hin. Wittstock: Welche der Musiker sind Ihnen bis heute in Erinnerung geblieben? In Ihrer Autobiographie erwähnen Sie den Dirigenten Simon Pullmann, den Pianisten Richard Spira, die Sängerin Marysia Ajzensztadt. Reich-Ranicki: Ich sehe sie noch alle vor mir. Ich sehe, wie Pullmann vor dem Orchester stand und höre die Stimme der Marysia Ajzensztadt. Sie war eine sehr begabte Sopranistin. Sie wollte um jeden Preis ihren Vater retten. Er war Chor-Dirigent. Er wurde noch auf dem Umschlagplatz ermordet, von dem aus die Züge nach Treblinka abfuhren. Wittstock: Haben Sie einen dieser Musiker nach dem Krieg wiedergesehen? Reich-Ranicki: Keinen, sie wurden alle vergast. Später einmal hat mir ein Geiger mit den unglücklichen Namen Aftergut aus New York geschrieben, der das Getto überlebt hatte. Aber den hatte ich im Getto nie bei einem Auftritt gesehen.
Wittstock: Über das Schicksal des Musikers Wladyslaw Szpilman im Getto hat Roman Polanski seinen weltberühmten Film „Der Pianist“ gedreht. Haben Sie Szpilman je im Getto bei einem Konzert erlebt? Reich-Ranicki: Ja, den habe ich im Getto mehrfach gehört. Er war ein bekannter und sehr begabter Mann. Er hatte schon vor dem Krieg für den polnischen Rundfunk gespielt. Einmal war ich dabei, als er im Getto zusammen mit einem hervorragenden Geiger die Kreuzersonate von Beethoven und andere Sachen spielte. Großartig. Auch nach dem Krieg habe ich Konzerte mit ihm in Warschau gehört und mit ihm gesprochen. Noch ganz am Ende, kurz vor seinem Tod, habe ich mit ihm telefoniert. Ich schrieb damals an meiner Autobiographie „Mein Leben“ und wollte von ihm mehr erfahren über manche jüdischen Musiker und ihre Arbeit im Getto. Er war älter als ich – allerdings noch nicht so alt wie ich heute – und konnte sich leider nicht mehr an viele Einzelheiten erinnern. Wittstock: Marek Edelmann, einer der legendären Leiter des Getto-Aufstandes der Juden gegen die deutschen Truppen, erinnert sich in einem seiner Bücher an die Getto-Konzerte. Sie fanden in einem ehemaligen Kino, dem „Femina“ innerhalb des Gettos statt. Er schreibt, dieses zum Konzertsaal umgestaltete Kino sei am Schluss gar nicht von den Deutschen geschlossen worden, „sondern von der katholischen Kirche. Der Priester fand heraus, dass das Kino weniger als 50 Meter von der Kirche entfernt war, und in einem so geringen Abstand war eine Vergnügungsstätte nicht erlaubt.“ Reich-Ranicki: Ich habe keine Ahnung. Aber wenn Marek Edelman das so beschreibt, dann wird es schon so gewesen sein. Ich habe Edelman nie kennen gelernt, weder im Getto, noch danach. Sie dürfen sich das alles nicht so einfach vorstellen: Die Konzerte wurden mehrfach eingeschränkt oder verboten. Heinz Auerwald, der deutsche Kommissar für das Getto – er war, glaube ich, ein Rechtsanwalt aus Düsseldorf – der hat Konzerte im Getto verboten. Erst die Konzerte mit deutscher Musik. Daraufhin spielte man Verdi oder Tschaikowski. Dann konnte wieder eine Weile deutsche Musik gespielt werden, bis es plötzlich erneut untersagt wurde. Nur Chopin, der war im Getto immer verboten. Offenbar fürchteten die Deutschen, die Musik dieses größten polnischen Komponisten könnte zu sehr an die patriotischen Gefühle der Polen appellieren. Wenige Monate, nachdem sie in Warschau einmarschiert waren, hatten sie bereits das Denkmal Chopins gesprengt. Wittstock: Warum hörten Sie auf, im Getto Kritiken zu schreiben? Reich-Ranicki: Ich glaube, weil die Konzerte nicht mehr stattfanden. Das war alles. Wittstock: Wann haben Sie wieder begonnen, Kritiken zu schreiben? Reich-Ranicki: Knapp zehn Jahre später, 1951. Damals begann ich, Literaturkritiken zu schreiben für polnische Zeitungen und den polnischen Rundfunk. Aber in der Zwischenzeit war ich bereits Mitarbeiter des Außenministeriums gewesen und polnischer Konsul in London und nun arbeitete ich als Lektor in Warschau. Das war in einem anderen Leben, in einer anderen Welt. Lassen wir das. Kommen Sie, es ist gutes Wetter, lassen Sie uns an die Luft gehen.

Reich-Ranicki steht aus seinem Sessel auf, zögert vor der Garderobe, welche Jacke für das laue Frühlingswetter angemessen ist und nimmt mich mit in ein nahe gelegenes Café. Wir setzen uns an einen kleinen Marmortisch, er bestellt sich einen Espresso und Kirschsaft. Die Kellnerin kennt ihn und eilt in die Küche, um den prominenten Gast zufriedenzustellen. Reich-Ranicki schaut ihr nach. „Wissen Sie“, sagt er schließlich, „was seltsam ist, wenn man 90 Jahre alt wird? Jeden Abend, wenn man zu Bett geht, fragt man sich: Ob ich morgen wohl wieder aufwache?“ Er sagt das unaufgeregt, als spreche er von einer Alltagsbeobachtung. „Gewinnt man“, frage ich, „mit zunehmendem Alter eine größere Gelassenheit im Blick auf den eigenen Tod?“ Skeptisch kräuselt er das Kinn: „Nein.“ „Aber die Literatur“, entgegne ich, „die zahllosen Bücher über den Tod, die Sie gelesen haben? Hilft die Literatur, mit dem Gedanken an das eigene Sterben fertig zu werden?“ Reich-Ranicki schweigt, dann sagt er: „Wenn ich auf die Frage ernsthaft antworten soll: Nein.“

Das Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki erschien am 2. Mai 2010 in der „Welt am Sonntag“

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