„Schuld“ – Ferdinand von Schirach vermisst mit seinen großartigen Stories den Abgrund zwischen Recht und Gerechtigkeit
Unser Vertrauen in das Rechtssystem ist immer dann am größten, wenn wir nichts mit ihm zu tun haben. Entspannt blättern wir im BGB oder im Strafgesetzbuch und bewundern die Umsicht, mit der dort alle erdenklichen Wechselfälle des Lebens berücksichtigt, bewertet und in eine einleuchtende Struktur gebracht werden. Beruhigt nehmen wir die Strafprozessordnung zur Hand mit dem Gefühl, in diesem Kompendium sei die juristische Weisheit von Jahrhunderten versammelt, um die Wahrheitsfindung vor Gericht und faire Verfahren zu garantieren. Aber wehe, wenn ein konkreter Fall uns beschäftigt, oder wenn wir, was Gott und unsere Besonnenheit verhüten mögen, in einen verwickelt werden. Dann brechen Recht und Rechtsempfinden nicht selten himmelweit auseinander, dann lassen sich die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und die Möglichkeiten irdischer Rechtsprechung fast nie ernsthaft zur Deckung bringen. Mit einem Mal spürt man, was für eine brüchige Institution das Gesetz ist, spürt, dass es kaum mehr sein kann als ein läppischer Regenschirm, mit dem wir uns vor Felsschlag zu schützen versuchen. Doch leider hat bislang noch niemand etwas Besseres gefunden gegen die verflucht dicht herabsausenden Felsbrocken als eben diesen Regenschirm. Das sind die Erfahrungen, aus denen Ferdinand von Schirach seine „Stories“ gemacht hat. Ein zweiter Band erscheint jetzt unter dem Titel „Schuld“. Der erste Band „Verbrechen“ stand lange auf den Bestsellerlisten, was von Schirach naturgemäß eine Menge öffentliche Aufmerksamkeit, leider aber auch manche der hierzulande üblichen intellektuellen Vorbehalte gegenüber erfolgreichen Autoren eintrug. Da er ein Strafverteidiger mit renommierter Kanzlei in Berlin ist, hielt man ihm gelegentlich vor, für seine Kurzgeschichten lediglich seine Mandanten-Kartei geplündert zu haben: Sein Talent beschränke sich darauf, kuriose Fälle unterhaltsam nachzuerzählen. Doch damit sitzt man, so scheint mir, dem literarischen Unterstatement dieser Stories auf. Es sind kleine Meisterwerke darunter von enormer sprachlicher Präzision und Darstellungskraft. Von Schirach prunkt nicht mit seinem erzählerischen Können, sondern stellt es so konsequent in den Dienst des Erzählten, dass es auf den ersten Blick dahinter zu verschwinden scheint. Vor allem aber gehen solche Vorwürfe an dem philosophischen Gehalt seiner Kurzgeschichten vorbei: Von Schirach erzählt sie nicht ihrer Kuriosität halber, sondern weil sie von jenem oft genug unauflöslichen Widerspruch zwischen Recht und Rechtsempfinden zeugen, von der Weisheit und Dummheit der Gesetze und der aussichtslosen Hoffnung, mit ihrer Hilfe so etwas wie Gerechtigkeit auf Erden zu schaffen. Es scheint so, als wolle von Schirach seine Kritiker in dem neuen Band mit der Nase auf diese Qualitäten seiner Geschichten stoßen. Gleich die erste führt die bittere Logik eines Verfahrens vor Augen, das sich streng an die Verfahrensordnung hält, aber gerade deshalb die Wahrheitsfindung unmöglich macht und eklatant gegen jedes Gerechtigkeitsempfinden verstößt: Auf einem Volksfest wird eine 17-jährige Kellnerin von einem neunköpfigen Blaskapelle vergewaltigt. Nur einer der Musiker beteiligt sich nicht und informierte anonym die Polizei. Da sie alle für ihren Auftritt verkleidet und geschminkt waren, kann das Opfer keinen der Täter identifizieren. Alle anderen Beweismittel werden durch unglückliche Umstände vernichtet. Also müssen die Anwälte den Verdächtigten raten, sich zur Tat nicht zu äußern, da sie sich sonst selbst belasten könnten. Und da es keine Zeugen gibt, bleibt dem Ermittlungsrichter nichts anderes übrig, als alle Verdächtigen freizulassen, weil er das eine anonym gebliebene unschuldige Kapellenmitglied nicht pauschal mitverurteilen kann. Keinem Krimi-Autor würde man einen solchen Fall abkaufen, zu viele Unwahrscheinlichkeiten und Zufälle sind für ihn nötig. Doch dieser hier stammt, das macht die Geschichte eindeutig klar, aus von Schirachs anwaltlicher Berufspraxis. Die Tatsache, dass die Erzählung zumindest in ihren wesentlichen Zügen authentisch ist (ein ansonsten eher unliterarisches Kriterium), wird damit zu einem besonderen Faktor dieser Geschichte: Die vorgeführten Unzulänglichkeiten der Rechtsprechung entspringen eben nicht der Phantasie des Autors, sondern dem Alltag und sind damit für jedes Gerechtigkeitsempfinden ein unaufhebbarer Skandal. Doch ist es andererseits allein dieses fehlerbehaftete Rechtssystem, das vor dem Rückfall in archaische Rachejustiz bewahrt, die auf Unrecht schnell mit neuem Unrecht antwortet. Kurz: Die Stories von Schirachs haben im Kern etwas Kleist’sches. Sie erzählen von der gebrechlichen Einrichtung unserer Rechts-Welt. Auch Kleist hat seine große Justiz-Novelle „Michael Kohlhaas“ einem authentischen historischen Vorbild, dem Schicksal des Berliners Hans Kohlhase, nachgestaltet und machte so klar, dass es ihm keineswegs um ein literarisches Denkmodell, sondern um ein nur allzu reales Dilemma ging. Von Schirach ist sich dieser literaturgeschichtlichen Verwandtschaft offenkundig bewusst: In einer seiner neuen Geschichten lässt er ein Paar, das sich gemeinsam aus großem Elend rettete, aber dann dennoch von jahrzehntealter Schuld eingeholt wird, in einer Senke am Wannsee Selbstmord begehen wie seinerzeit Kleist und Henriette Vogel. Das wichtigste stilistische Vorbild von Schirachs ist jedoch nicht Kleist, sondern Hemingway. Wie der amerikanische Großmeister der Short-Story liebt von Schirach die klaren, schnörkellosen und scheinbar nüchternen Hauptsätze. Er reiht sie hintereinander wie Blöcke, wuchtig und faktenschwer. Sie lesen sich als wurde man den Schritten eines Unheils lauschen, das unaufhaltsam vorwärts drängt. Daneben aber hat er einen fabelhaften Sinn für Details, die er wie im Vorbeigehen nur knapp benennt. Sie verleihen seinen Geschichten eine großartige atmosphärische Dichte. Alles in allem wirkt das oft so, als würden sich seine Stories wie von selbst erzählen, als seien sie nicht mehr als knappe Zusammenfassungen irgendwelcher Gerichtsakten. Doch steht dahinter eine bewundernswerte kompositorische Sicherheit und sprachliche Disziplin dieses Autors. Es ist in meinen Augen bedauerlich und zugleich bezeichnend, wie schnellfertig die Gegner von Schirachs über diese spezifisch ästhetischen Qualitäten seiner Geschichten hinweggehen und sie als simple Tatsachenberichte abzutun versuchen. Die alten Vorurteile hierzulande gegen eine unterhaltsame und spannend geschriebene Literatur scheinen noch immer so wirksam zu sein, dass sich nicht wenige Kritiker nach wie vor durch sie blenden lassen. Von Schirach schlägt fast immer ein ungeheures Erzähltempo an, er drängt seine Stoffe dabei auf engstem Raum zusammen. Doch das ist kein billiges Zugeständnis an die Unterhaltsamkeit, sondern steigert ihre literarische Wirkung: Wie von einem verhängnisvollen Sog werden die Figuren immer tiefer in ihre Lebens-Katastrophen hineingezogen. Der neue Band trägt den Titel „Schuld“ nicht aus Zufall. Die Frage, was Schuld ist, wie sie entsteht, ob und wie sie gebüßt werden kann, wird in den Geschichten in ihren verschiedenen Facetten durchgespielt. Die Mitglieder jener Blaskapelle zum Beispiel, die in der ersten Geschichte die junge Kellnerin vergewaltigen, waren vor und nach der Tat unauffällige gesetzestreue Bürger. Gerieten sie also während des sommerlichen Volksfests unter den fatalen Einfluss von Alkohol und Hitze in eine schwer steuerbare Situation? In wie weit hätte das ihre Schuld vor Gericht, wenn es zu einem Verfahren gekommen wäre, gemindert? Doch hätte das wiederum ihr Opfer trösten können? Und was ist mit der Schuld der Anwälte, die mit ihrem Verfahrenstrick einen Prozess verhinderten und so acht Täter straflos davonkommen ließen? Sie haben nach den Regeln ihres Berufs und unseres Rechtssystem alles richtig gemacht – aber haben sie nicht trotz allem Schuld auf sich geladen? Gleich in mehreren Beispielen führt von Schirach in seinem neuen Buch vor, wie durch juristische Verfahrensweisen Schuld erst hervorgebracht und einer Person zugeschrieben, oder aber wie sie durch ein paar Federstriche angeblich zum Verschwinden gebracht wird. In der letzten Geschichte geht er sogar so weit, die angeblich so logische und zwingende Beweisführung der Justiz den Wahnideen eines Geisteskranken gegenüber zu stellen und zwischen beiden Seiten einen Rollentausch anzudeuten. Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Spannweite der emotionalen Wirkungen, die von Schirach mit seinen Geschichten erzielt. So ernst der Stoffe auch ist, mit dem er als Schriftsteller hantiert, seine Stories sind keineswegs immer auf Moll gestimmt. Er hat einen ausgeprägten Sinn für das Komische im Tragischen und für das nicht nur dämonische, sondern gelegentlich auch clowneske Element, das zum Wesen des Gesetzes- und Regelbruchs gehört. Mit anderen Worten: Von Schirach ist ein Erzähler von beachtlichem Format. Neben Judith Hermann und Ingo Schulze hat er einige der eindrucksvollsten deutschen Kurzgeschichten der letzten Jahre geschrieben.
Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 31. Juli 2010
Ferdinand von Schirach: „Schuld“. Stories
Piper Verlag, München 2010 200 Seiten, 17,95 € ISBN 978-3-492-05422-5