Thomas Hettche erzählt in „Die Liebe der Väter“ von einer Heimsuchung in Menschengestalt
Fast könnte man meinen, das Erstaunlichste an diesem Roman sei sein Titel: „Die Liebe der Väter“. Doch das stimmt nicht. Noch erstaunlicher ist eine merkwürdige Debatte, die das Buch bereits vor seinem Erscheinen auslöste. Thomas Hettche erzählt in „Die Liebe der Väter“ von einem Verlagsvertreter namens Peter, der mit einigen Freunden und seiner dreizehnjährigen Tochter Annika Urlaub auf Sylt macht. Sie verbringen die so genannten Rauhnächte, also der Zeit zwischen Weihnachten und Dreikönigstag, auf der Insel. An jene Tage „zwischen den Jahren“ heftet sich seit grauer Vorzeit allerlei Aberglaube. Folgerichtig ist im Roman gelegentlich von Spuk und Dämonen die Rede oder von der „Wilden Jagd“, die an Silvester losbreche, da dann das Geisterreich offen stehe. Zudem lässt Hettche – noch vor Silvester – einen handfesten Sturm gruselig ums Ferienhaus heulen. Zum Streit zwischen den Urlaubern kommt es, als Peter seine Tochter in der Silvesternacht in einem Restaurant kräftig ohrfeigt. Da er auch danach befremdliche Verhaltensweisen an den Tag legt, fordern ihn die anderen auf, vorzeitig abzureisen. Also macht er sich mit Annika früher als geplant auf die Rückfahrt. Ende der Geschichte. Zu Beginn des Romans werden mehrfach Übergangs- oder besser: Untergangsstimmungen heraufbeschworen. Es ist nicht nur der Jahreswechsel, der sich auf der Nordseeinsel sturmumtost ankündigt. Bekümmert spricht Peter auch davon, dass sein Beruf als Verlagsvertreter dem Verschwinden geweiht sei, ja dass die gesamte Buchkultur verloren zu gehen drohe. Sogar das allmähliche Heranwachsen seiner Tochter betrachtet er in erster Linie als Verlust, als Abschied von einer Unschuld, die er über die Maßen glorifiziert: „Mitten durch Annika hindurch, denke ich, verläuft jetzt die Grenze des Kinderreichs, also die der Wahrheit, bald wird sie ganz auf unserer Seite sein, und das Kind, das ich hatte, wird es nicht mehr geben.“ Selbst Sylt, den Schauplatz des Romans, kann man als Menetekel eines kommenden Untergangs verstehen, verliert die Insel doch unaufhaltsam Boden ans Meer. In der zweiten Hälfte des Romans werden diese Motive jedoch an den Rand gedrängt. Stattdessen nehmen Peters Rechtfertigungen für seine Ohrfeige umfangreichen Raum ein. Er war mit Annikas Mutter nie verheiratet, weshalb ihr nach bislang gültiger Gesetzeslage das alleinige Sorgerecht für das gemeinsame Kind zustand. Nachdem sich die beiden trennten, so erklärt Peter seinen Miturlaubern, habe die Mutter Annika oft vernachlässigt und das Sorgerecht dazu missbraucht, ihn zu schikanieren und seine Kontakte zur Tochter einzuschränken: „Du hast ein Kind, das du liebst, und man zwingt dich, bei allem, was ihm zustößt, hilflos zuzusehen. Das ist Folter.“ Das Bundesverfassungsgericht hat diese einseitige Rechtslage allerdings vor wenigen Wochen zugunsten der ledigen Väter korrigiert. Künftig fällt das Sorgerecht für gemeinsame Kinder bei unverheirateten Paaren nicht mehr automatisch der Mutter zu und also wird es jene unverschuldete „Folter“, über die Peter sich beklagt, bald nicht mehr geben. Seltsamerweise wurde daraufhin in einigen Artikeln der Gedanke erwogen, ob der Roman somit, noch bevor er auf dem Buchmarkt kam, überflüssig geworden sei. Eine abwegige Frage, denn selbstverständlich ist ein Roman kein bloßes Fallbeispiel zu irgendeinem aktuellen politischen oder juristischen Thema. Vielmehr entfaltet er je nach Qualität eine mehr oder minder große literarische Gültigkeit. Es würde ja auch niemand auf die Idee verfallen, Shakespeares Königsdramen für erledigt zu halten, nur weil wir heute in einer Demokratie leben, oder Fontanes „Effi Briest“ und Flauberts „Madame Bovary“ für passé, weil inzwischen das Scheidungsrecht liberalisiert wurde. Über diese erstaunlichen Überlegungen geriet ein anderer, literarisch wichtigerer Punkt in den Hintergrund. Peter, die Hauptfigur des Romans, ist ein ausgemachter Egozentriker und Widerling. Hettche erzählt konsequent aus dessen Perspektive, dennoch ist unübersehbar, wie gründlich Peter als Vater versagt. Als Annika davon spricht, sie alle könnten bei einem Sturm auf Sylt ertrinken, beruhigt er sie nicht, sondern heizt die Panik mit Erinnerungen an historische Flutkatastrophen erst recht an. Obwohl er immer wieder behauptet, nichts läge ihm so sehr am Herzen wie seine Tochter, hat er wieder einmal das Weihnachtsgeschenk für Annika vergessen und natürlich auch keine Ahnung davon, dass sie Vegetarierin ist. Über ihren achtzehnjährigen Freund macht er sich lustig und ihren Freundinnen starrt er auf die Brüste. Wenn er Streit mit Annika hat, ist er völlig unfähig zum Gespräch, lässt sie regelmäßig weglaufen und redet davon, sie am liebsten aus seinem Leben „herausoperieren“ zu lassen, um ihre Mutter endlich vergessen zu können. Wohl diesem Vergessen zuliebe genehmigt er sich schon vor dem Frühstück gerne mal ein Bier oder einen Schnaps. Kurz: Annika ist nicht zu beneiden. Ihre Mutter hat, wenn man Peters Berichten trauen darf, ihr Leben nicht im Griff und miese, ja gefährliche Erziehungsmethoden. Der Vater wiederum hat nur sich selbst im Kopf, seine Wehleidigkeit, seine Weltuntergangsahnungen und seinen Hass auf Annikas Mutter, dem er gern in Gewaltphantasien Luft macht. Natürlich ist niemand verpflichtet, eine sonderlich hohe Meinung von Vätern im Allgemeinen zu haben. Doch dass Hettche dem Buch über dieses sehr unerfreuliche Exemplar den pauschalen Titel „Die Liebe der Väter“ gegeben hat, darf man wohl als einen recht extravaganten Einfall betrachten. Bleibt die Frage, welcher künstlerische Impuls Hettche dazu gebracht haben kann, von diesen hässlichen Familienverhältnissen strikt aus der Perspektive von Peter und damit seltsam einseitig zu berichten. Am Beginn seiner Karriere rechnete sich Hettche jenen Autoren zu, die den traditionellen Erzählweisen misstrauen, und andere, neue literarische Wege suchen. Das machte seine ersten Bücher oft zu einer mühsamen Lektüre. In seinen jüngsten beiden Romanen „Der Fall Arbogast“ (2001) und „Woraus wir gemacht sind“ (2006) war dann nicht mehr viel von den Vorbehalten gegenüber dem traditionellen Erzählen zu spüren: Hettche lieferte im Rückgriff auf einen historischen Kriminalfall, bzw. auf das Krimi-Genre zwei nicht gerade brillante, aber doch solide gemachte Romane ab. In dem neuen Buch nun kommt er in gewisser Hinsicht auf seine Anfänge zurück. Zwar kann man es kaum eine ästhetische Revolution nennen, wenn eine Geschichte allein aus der Perspektive der Hauptfigur erzählt wird. Doch Hettche zwingt die Leser dazu, den Roman gleichsam gegen den Strich zu bürsten: Zu Anfang scheint er noch um Sympathie für seinen Helden Peter zu werben, indem er ihn als etwas weltfremden Büchernarren hinstellt, der unter dem Niedergang seiner Branche leidet. Doch schließlich häufen sich die Indizien, dass Peter schlicht ein unerfreulicher Zeitgenosse ist – und man sich beim Lesen von dessen Sichtweise der Dinge emanzipieren muss, wenn man begreifen will, was tatsächlich vor sich geht. Damit sät das Buch, wie Hettche es schon früher einmal propagierte, Misstrauen gegen die sonst so gern akzeptierte Einladung der Leser zur Identifikation mit dem Helden einer Geschichte. Aber auch das macht „Die Liebe der Väter“ letztlich nicht sonderlich reizvoll. Daniel Kehlmann hat vor ein paar Jahren in seinem Roman „Ich und Kaminski“ (2003) mit einem ähnlichen Kunstgriff gearbeitet: Auch hier ist der Ich-Erzähler ein ausgesprochener Kotzbrocken und der Leser merkt bald, dass er dessen Berichten auf keinen Fall naiv Glauben schenken darf. Doch Kehlmann bewies zugleich sein Talent zur Komik: „Ich und Kaminski“ ist nicht nur ein kluger Künstlerroman, sondern zugleich sehr witzig und unterhaltsam. Das lässt sich von Hettches Roman beim besten Willen nicht behaupten. Hettche zählt vielleicht nicht zu den humorlosesten, sicher aber zu den ernstesten Schriftstellern der deutschen Gegenwartsliteratur. So ist auch sein Roman über das, pardon, Arschloch Peter, der seine egozentrische Larmoyanz für „Die Liebe der Väter“ hält, von einem großen, fast andächtigen Ernst getragen. Doch obwohl Peter es nicht wahrhaben will, ja obwohl er es nicht einmal bemerkt: Der einzige Dämon, der in diesem Roman während der stürmischen Rauhnächte auf Sylt auftaucht, ist Peter selbst.
Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 28. August 2010
Thomas Hettche: „Die Liebe der Väter“. Roman
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2010 224 Seiten, 16,95 € ISBN 978-3-462-04187-9