Manchmal sind es wenige Wochen, wenige Tage, die über ein Leben entscheiden. Im Sommer 1939 stand der jungen Polin Teofila Langnas die Welt offen. Sie hatte Abitur gemacht, war die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns in Lodz und sehr begabt. Die Eltern hatten nicht vor, an ihrer Ausbildung zu sparen und wollten sie nach Paris schicken, damit sie dort Graphik und Kunstgeschichte studiere. Was für eine Zukunft vor ihr lag, wie viele Versprechen das Leben bereitzuhalten schien. Doch der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1.September machte allen Plänen ein Ende. Was ihr blieb, war fünf endlose Jahre lang nichts als der Wunsch zu überleben. Von den Deutschen als Jüdin ins Warschauer Getto gezwungen, mußte sie mit ansehen, wie ihr Vater sich umbrachte und ihre Mutter ermordet wurde. Welches Talent damals in ihr darauf wartete, sich entfalten zu dürfen, lassen die Zeichnungen ahnen, mit denen sie als gerade Zwanzigjährige das Grauen des Gettos festhielt. Es sind schmucklose, nüchterne, registrierende Bilder, denen jede eitle Effekthascherei fremd ist und die doch, oder gerade deshalb dem Betrachter das Elend, die Hoffnungslosigkeit, das rasende Entsetzen der Abgebildeten ungemildert vor Augen stellen. Überlebt hat Teofila Langnas, genannt Tosia, den nationalsozialistischen Terror gemeinsam mit ihrem Mann Marcel Reich-Ranicki, der wegen seiner exzellenten Deutschkenntnisse zum Chefdolmetscher des Gettos ernannt wurde – und später, wegen seiner exzellenten Kenntnisse der deutschen Literatur zum einflußreichsten und populärsten Literaturkritiker des Landes aufstieg. Doch anders als er, der die quälenden Erinnerungen an die überstandenen Schrecken in Arbeitswut verwandelte, fand sie keinen Weg zurück zu ihrer Kunst. Nach dem Ende des Kriegs rührte sie keinen Pinsel, keinen Stift mehr an. In seiner so erfolgreichen Autobiographie „Mein Leben“ hat Marcel Reich-Ranicki beschrieben, wie und unter welchen Torturen das Paar nicht allein die Verfolgung durch die Nazis, sondern auch die durch die Stalinisten überstand. Es war diese zweite, die wiederkehrende Verfolgung, der seine Frau Ende der vierziger Jahre nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Sie erlitt, wie ihr Mann schrieb, einen „schweren, äußerst heftigen Nervenzusammenbruch“, von dem sie sich nur langsam erholte, und der sie bis zum Ende ihres Lebens immer wieder dazu zwang, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Leben einer Frau an der Seite eine großen Mannes ist üblicherweise nicht leicht, und es besteht kein Anlaß zu der Vermutung, daß Tosia Reich-Ranickis Leben eine Ausnahme von dieser Regel war. Aber sie ist immer eine sehr warmherzige, eine den Menschen zugewandte Frau gewesen. Wer Dinge erlitten hat wie sie, der kann seine Erfahrungen vielleicht mitteilen, doch tatsächlich teilen kann er sie mit niemanden – und so bleibt er unheilbar einsam. Daß sie nicht einfach überlebte, sondern gemeinsam mit ihrem Mann überlebte und alt werden durfte, empfand sie, wie sie oft sagte, als ein Wunder. So sehr Marcel Reich-Ranicki auch in der Öffentlichkeit steht und sie mit ihm nicht selten stand, so sehr bewohnte das Paar doch fast sieben Jahrzehnte lang zusammen eine Welt, in die ihnen kein anderer folgen konnte. Das Schicksal Tosia Reich-Ranickis zeigt auch, wie empörend alle Versuche waren – und bis heute sind –, hierzulande einen Schlußstrich unter die Verbrechen der Nationalsozialisten ziehen zu wollen. Denn es sind die Opfer, die zeitlebens keine Wahl zwischen Gedenken oder Vergessen hatten und haben, sondern festgezurrt bleiben im Gefängnis ihrer Erinnerungen und tagtäglich bis ins Alter, ja nicht selten im Alter mehr und mehr an den Folgen dessen zu leiden haben, was ihnen Deutsche im Namen Deutschlands antaten. Am 29. April 2011 starb Teofila Reich-Ranicki, sie war eine große, eine beeindruckende Persönlichkeit.
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