Zum Tode von Teofila Reich-Ranicki

Manchmal sind es wenige Wochen, wenige Tage, die über ein Leben entscheiden. Im Sommer 1939 stand der jungen Polin Teofila Langnas die Welt offen. Sie hatte Abitur gemacht, war die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns in Lodz und sehr begabt. Die Eltern hatten nicht vor, an ihrer Ausbildung zu sparen und wollten sie nach Paris schicken, damit sie dort Graphik und Kunstgeschichte studiere. Was für eine Zukunft vor ihr lag, wie viele Versprechen das Leben bereitzuhalten schien. Doch der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1.September machte allen Plänen ein Ende. Was ihr blieb, war fünf endlose Jahre lang nichts als der Wunsch zu überleben. Von den Deutschen als Jüdin ins Warschauer Getto gezwungen, mußte sie mit ansehen, wie ihr Vater sich umbrachte und ihre Mutter ermordet wurde. Welches Talent damals in ihr darauf wartete, sich entfalten zu dürfen, lassen die Zeichnungen ahnen, mit denen sie als gerade Zwanzigjährige das Grauen des Gettos festhielt. Es sind schmucklose, nüchterne, registrierende Bilder, denen jede eitle Effekthascherei fremd ist und die doch, oder gerade deshalb dem Betrachter das Elend, die Hoffnungslosigkeit, das rasende Entsetzen der Abgebildeten ungemildert vor Augen stellen. Überlebt hat Teofila Langnas, genannt Tosia, den nationalsozialistischen Terror gemeinsam mit ihrem Mann Marcel Reich-Ranicki, der wegen seiner exzellenten Deutschkenntnisse zum Chefdolmetscher des Gettos ernannt wurde – und später, wegen seiner exzellenten Kenntnisse der deutschen Literatur zum einflußreichsten und populärsten Literaturkritiker des Landes aufstieg. Doch anders als er, der die quälenden Erinnerungen an die überstandenen Schrecken in Arbeitswut verwandelte, fand sie keinen Weg zurück zu ihrer Kunst. Nach dem Ende des Kriegs rührte sie keinen Pinsel, keinen Stift mehr an. In seiner so erfolgreichen Autobiographie „Mein Leben“ hat Marcel Reich-Ranicki beschrieben, wie und unter welchen Torturen das Paar nicht allein die Verfolgung durch die Nazis, sondern auch die durch die Stalinisten überstand. Es war diese zweite, die wiederkehrende Verfolgung, der seine Frau Ende der vierziger Jahre nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Sie erlitt, wie ihr Mann schrieb, einen „schweren, äußerst heftigen Nervenzusammenbruch“, von dem sie sich nur langsam erholte, und der sie bis zum Ende ihres Lebens immer wieder dazu zwang, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Leben einer Frau an der Seite eine großen Mannes ist üblicherweise nicht leicht, und es besteht kein Anlaß zu der Vermutung, daß Tosia Reich-Ranickis Leben eine Ausnahme von dieser Regel war. Aber sie ist immer eine sehr warmherzige, eine den Menschen zugewandte Frau gewesen. Wer Dinge erlitten hat wie sie, der kann seine Erfahrungen vielleicht mitteilen, doch tatsächlich teilen kann er sie mit niemanden – und so bleibt er unheilbar einsam. Daß sie nicht einfach überlebte, sondern gemeinsam mit ihrem Mann überlebte und alt werden durfte, empfand sie, wie sie oft sagte, als ein Wunder. So sehr Marcel Reich-Ranicki auch in der Öffentlichkeit steht und sie mit ihm nicht selten stand, so sehr bewohnte das Paar doch fast sieben Jahrzehnte lang zusammen eine Welt, in die ihnen kein anderer folgen konnte. Das Schicksal Tosia Reich-Ranickis zeigt auch, wie empörend alle Versuche waren – und bis heute sind –, hierzulande einen Schlußstrich unter die Verbrechen der Nationalsozialisten ziehen zu wollen. Denn es sind die Opfer, die zeitlebens keine Wahl zwischen Gedenken oder Vergessen hatten und haben, sondern festgezurrt bleiben im Gefängnis ihrer Erinnerungen und tagtäglich bis ins Alter, ja nicht selten im Alter mehr und mehr an den Folgen dessen zu leiden haben, was ihnen Deutsche im Namen Deutschlands antaten. Am 29. April 2011 starb Teofila Reich-Ranicki, sie war eine große, eine beeindruckende Persönlichkeit.

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Luise Rinsers Lebenslügen

Luise Rinsers Lebenslügen
Lange galt sie als Widerstandskämpferin gegen die Nazis. Eine neue Biographie zeigt jetzt, dass sie als junge Frau dem Hitler-Regime bereitwillig diente.   Eine würdige ältere Dame steht auf dem Friedhof des oberbayerischen Wessobrunn vor dem Grab ihres Sohnes. Neben ihr ein gut dreißig Jahre jüngerer Mann. Plötzlich glaubt der Begleiter seinen Ohren nicht trauen zu können. Etwas bricht aus der Greisin heraus, sie murmelt kaum artikulierte Worte, bittet den toten Sohn um Versöhnung und Verzeihung. Später, im Gespräch, berichtete sie, worüber sie ein Leben lang schwieg: Der Sohn, ihr zweites Kind, wurde außerehelich gezeugt. Schon früh ahnte er manches und fühlte sich von der Mutter, die ihn geraume Zeit in ein Heim gegeben hatte, schmerzhaft zurückgesetzt. Doch sie weigerte sich, mit ihm über seine Herkunft zu reden. So blieb der Namen des biologischen Vaters bis heute ein Geheimnis. Die trauernde Greisin am Grab des Sohns war Luise Rinser (1911-2002), eine der populärsten Schriftstellerin der deutschen Nachkriegsliteratur, prominente Vertreterin der katholischen Soziallehre und der Friedensbewegung, 1984 von den Grünen zur Wahl für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen. Seit ihrem Roman „Mitte des Lebens“ (1950), dessen Heldin wie eine zweite Luise Rinser wirkt und politisch Verfolgten beisteht, galt sie als weibliches role model eines alltäglichen Widerstands gegen das Hitler-Regime. Der Begleiter bei dem denkwürdigen Friedhofsbesuch in Wessobrunn Ende der neunziger Jahre war der spanische Philosoph und Rinser-Vetraute José Sánchez de Murillo. Er legt jetzt zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin die erste umfangreiche Biographie der Schriftstellerin vor und offenbart darin mehr als nur den lebenslangen Konflikt zwischen Luise Rinser und ihrem 1994 früh verstobenen Sohn, dem Regisseur Stephan Rinser. Brisanter sind politische Fakten aus ihrem Leben. Dass sie 1934 mit 23 Jahren hymnische Verse auf Adolf Hitler veröffentlicht hatte, war bereits in den achtziger Jahren bekannt geworden. Rinser stritt ab, die Autorin des mit ihrem Namen gezeichneten Gedichts gewesen zu sein. Aber der Versuch, ihren Gegnern verbieten zu lassen, sie eine „Nazi-Poetin“ zu nennen, scheiterte vor Gericht. Sánchez de Murillo berichtet nun von weiteren biographischen Fragwürdigkeiten. Nach der Machtübernahme Hitlers beschwerte sich Rinser als Junglehrerin über die angeblich schlampige Arbeit ihres Vorgesetzten. Der Mann war Jude und war wegen ihrer Vorwürfe ernster Gefahr ausgesetzt. Im Jahr darauf übernahm Rinser die Leitung eines Ausbildungslagers für Führerinnen der weiblichen Hitler-Jugend. Sie war zu dieser Zeit, sagt Sánchez de Murillo, „eine junge Nazi-Größe, die Karriere machte.“ Tatsächlich wurde, anders als Rinser später behauptete, gegen sie im Dritten Reich nie ein Schreibverbot verhängt. Nach ihrer Scheidung 1942, als allein für zwei Kinder zu sorgen hatte, übernahm sie Drehbuch-Aufträge von Goebbels Ufa, unter anderem für einen Propagandafilm über den weiblichen Arbeitsdienst. Doch offenbar weigerte sie sich, der NSDAP beizutreten – was trotz allem für Distanz zu Hitlers Staat spricht. Schon 1937 scheint sich Rinser von der Nazi-Ideologie entfernt zu haben, nachdem sie in München die Ausstellung „Entartete Kunst“ besuchte. Sie schrieb einen Solidaritätsbrief an Emil Nolde, der zwar selbst NSDAP-Mitglied war, aber von der NS-Kulturpolitik diffamiert und schließlich mit Malverbot belegt wurde. Als Rinser Ende 1944 der Frau eines Wehrmachtsoffiziers rät, ihr Mann solle doch desertieren, der Krieg sei ohnehin verloren, wird sie wegen Wehrkraftzersetzung verhaftet und angeklagt. Doch vor Weihnachten erhält sie Hafturlaub. In den Wirren der letzten Kriegsmonate wird die Klage nicht wieder aufgenommen. Später spricht Rinser davon, sie sei vor dem Volksgerichtshof wegen Hochverrat angeklagt gewesen – auch das eine Erfindung, die Sánchez de Murillo widerlegt. Nach Kriegsende begann Luise Rinser ihre Biographie nach Kräften zu beschönigen. Sie tat, schreibt der Schriftstellerkollege und Rinser-Kenner Michael Kleeberg, „was ein Schriftsteller gemeinhin mit einem Stoff tun: Sie hat gerafft, zusammengezogen und dramatisiert.“ In ihrer Autobiographie „Den Wolf umarmen“ (1981) geht ihr kreativer Umgang mit den Fakten nach Ansicht von Sánchez de Murillo so weit, dass man das Buch eher eine „Legende“ als eine Lebensbilanz nennen müsse. Lange galt Luise Rinser als moralische Instanz der Nation. Es wäre anmaßend, wollte man der Junglehrerin Rinser aus heutiger Sicht die politische Naivität vorwerfen, mit der sie sich vorübergehend Hitlers Partei andiente. Doch die Bedenkenlosigkeit, mit der sie ihre Biographie verfälschte und Probleme – auch ihrem Sohn gegenüber – leugnete, rauben ihr im Nachhinein die Glaubwürdigkeit. Sich selbst beraubte sie um die Chance, aus Irrtümern zu lernen. Nie überwandt sie ihre kritiklose Bewunderung für machtvolle Herrschergestalten. So wie sie als junge Frau Hitler lyrisch feierte, so begeisterte sie sich noch mit über Siebzig blindgläubig für den nordkoreanischen Diktator Kim Il-sung: „Eine Vaterfigur, mit einer starken und warmen Ausstrahlung, ganz in sich ruhend, heiter, freundlich, ohne Falschheit, mit gelassenen Bewegungen und ruhigem Blick, ganz einfach, ohne jedes Imponiergehabe, witzig und humorvoll“.

José Sánchez de Murillo: „Luise Rinser. Ein Leben in Widerspruchen“ S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011 464 Seiten, 22,95 Euro ISBN 978-3-10-071311-7

Die Rezension erschien im „Focus“ vom 23. April 2011

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„Der blanke Zynismus“

Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller protestiert gegen die Festnahme des chinesischen Künstlers Ai Weiwei – und gegen die deutsche Austellung „Kunst der Aufklärung“ in Peking  

Uwe Wittstock: Ai Weiwei wurde festgenommen, kurz nachdem die große deutsche Ausstellung „Kunst der Aufklärung“ in Peking eröffnet worden ist. Hat es Sinn, offiziellen Kulturaustausch mit einem autoritären Regime wie dem chinesischen zu pflegen, wenn es seine Künstler und Bürgerrechtler derart offen drangsaliert?
Herta Müller: Mit dieser Festnahme wurde der deutsche Außenminister und seine Delegation regelrecht vorgeführt: Kaum hatten sich die Flugzeugtüren hinter ihnen zum Rückflug geschlossen, wurden die Verhaftungen vorgenommen. Von einem wirklichen Dialog kann bei diesem Kulturaustausch keine Rede sein. Als in Peking von deutscher Seite gefragt wurde, weshalb der Schriftsteller und Sinologe Tilman Spengler nicht mit Westerwelles Delegation nach China einreisen dürfe, wurde kaltschnäuzig geantwortet, man sei nicht für die Visa-Vergabe des Landes zuständig. Das ist jenseits jeder Höflichkeit einem Gast gegenüber. Das ist eher eine Demütigung.
Uwe Wittstock: Halten Sie es für falsch, dass deutsche Museen die Ausstellung veranstaltet haben?
Herta Müller: Ich verstehe nicht, weshalb es die Deutschen sein müssen, die als allererste Werke für eine Ausstellung in diesem Museums-Klotz liefern, der doch nur ein Prestige-Objekt des Regimes ist. Es kommt mir vor, als würde die deutsche Kulturpolitik regelrecht winseln um Anerkennung durch China. Es wirkt wie eine Anbiederung. Dieser Wunsch, deutsche Kultur um jeden Preis in die weite Welt zu schicken, verrät letztlich eine provinzielle Haltung der deutschen Kulturpolitik.
Uwe Wittstock: 2009 empfing die Frankfurter Buchmesse China als Ehrengast. War auch das so eine Anbiederung an ein autoritäres Regime?
Herta Müller: Eine Anbiederung, die bis zur Selbstgeringschätzung ging. Nach Frankfurt kam damals eine große Delegation von Parteibonzen, die öffentlich hofiert wurde. Die kleine Gruppe von Schriftstellern, die auch nach Frankfurt reisen durfte, diente nur als Verzierung, war nur ein Alibi für den Parteiausflug der Funktionäre. Dahinter verbirgt sich eine seltsame Mischung aus zwei Dingen. Einerseits Selbstgeringschätzung, mit der die Deutschen vor den Machthabern buckeln und andererseits Überheblichkeit, mit der sie glauben, auf die Verhältnisse in China Einfluss nehmen zu können, indem sie den Wünschen des Regimes entgegenkommen.
Uwe Wittstock: Wäre es denn sinnvoller, nach der Verhaftungen von Regimekritikern und Bürgerrechtlern die Kontakte zu China einzufrieren?
Herta Müller: Ich glaube, das Regime würde dann eher etwas lernen, wenn es dafür isoliert wird, wie es mit seiner Bevölkerung umgeht. Diktaturen lernen nur durch Druck. Was Deutschland derzeit mit China macht, ist das Gegenteil von Druck. Uwe Wittstock: Was können westliche Künstler tun, um ihren verfolgten Kollegen in China beizustehen oder zu helfen? Herta Müller: Leider fast nichts. Sie können das Schicksal der Verfolgten nur immer wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen. Sie dürfen nicht aufhören, die Repressalien zu benennen. Ich weiß es aus meiner Erfahrung in Rumänien: Wenn der Name eines Verfolgten im Westen bekannt war und immer wieder öffentlich genannt wurde, gab ihm das einen gewissen Schutz. Auch die Machthaber in solchen Ländern haben eine Schmerzgrenze, obwohl sie sie überspielen durch Arroganz. Es lässt eine Diktatur nicht kalt, wenn man ihr vom Ausland aus, vom Westen aus auf die Finger schaut und zusieht, wie sie mit ihren Kritikern umspringt.
Uwe Wittstock: Was bedeutet das alles für die deutsche Ausstellung in Peking?
Herta Müller: Jetzt sollen dort Vorträge über die Aufklärung gehalten werden. Obwohl man weiß, dass in einem solchen Regime jedes öffentliche Wort streng gefiltert wird. Wer dort Vorträge halten darf, wurde vorher ausgesiebt und präpariert. Die Machthaber werden also letztlich darüber entscheiden, was über Aufklärung in ihrem Land gesagt werden darf und was nicht. Das ist der blanke Zynismus. Es wird Staatsprosa vorgetragen werden, Propaganda statt Aufklärung.
Uwe Wittstock: Wer sollte Ihrer Ansicht nach in China über Aufklärung sprechen?
Herta Müller: Ein Autor wie Liu Xiaobo, der Friedensnobelpreisträger, der hätte die Rechtfertigung in seinem Land über Aufklärung zu sprechen. Er hätte uns allen etwas zu sagen. Oder eben Ai Weiwei, er könnte über Kunst und Aufklärung sprechen. Aber die beiden sind im Gefängnis und ihre Frauen unter Hausarrest. Andere Autoren haben zwar noch „Freigang“ auf den Straßen, werden aber ständig „besucht“ und bedroht im Auftrag derer, die auch über die Rednerliste für diese Ausstellung entscheiden. Das ist eine Verhöhnung des Begriffs Aufklärung. Wie weit haben die deutschen Museen gedacht, als sie sich auf diese Ausstellung einließen? Wohin haben sie Kant, den großen Aufklärer, ausgeliehen? Sie haben Kant zur Staffage eines schlechten Staatstheaters gemacht. Kant kann sich nicht wehren. Die Bilder, die jetzt dort hängen, können sich nicht wehren. Sie dienen jetzt als Dekoration für eine eine Propagandashow eines autoritären Regimes.

Das Interview mit Herta Müller wurde am 11. April 2011 im „Focus“ veröffentlicht

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„Fahr zur Olympiade und hol Gold“

Gespräch mit Peter Frisch über seinen Vater Max Frisch am 28. März 2011 in München  

Uwe Wittstock:   Was ist ihre erste, früheste Erinnerung an Max Frisch?
Peter Frisch:   Das Klappern seiner Schreibmaschine oben in der Mansarde über unserer Wohnung. Und der Krahn, den er mit dem Märklin-Baukasten mit mir zusammen gebaut hat. Das konnte er sehr gut – da merke man den Architekten.
Uwe Wittstock:   Es heißt, Ihr Vater hat Ihnen das Segeln beigebracht. Stimmt das?
Peter Frisch:   Ja, aber er war kein großer Segler. Er nahm mich ab und zu mit dem Boot eines Freundes mit auf den Zürichsee. Erst hat er mir das Prinzip des Segelns an einem kleinen Modell erklärt. Das konnte er gut. Ich habe das später bei meinen Kindern auch so gemacht, das ist gar nicht so leicht. Aber beim praktischen Segeln, bei der Bedienung des Bootes war mein Vater nur mäßig.
Uwe Wittstock:   War das Segeln so etwas wie die verbindende Gemeinsamkeit zwischen Vater und Sohn?
Peter Frisch:   Nein, das nicht. Sicher, er hat mit mir bei einem Urlaub auf Sylt mal ein Boot gebastelt, ganz primitiv, aus einem Brett und einem Handtuch-Stange. Es kippte sofort um und war nicht zu gebrauchen. Am Segeln interessierte ihn das Meer, die Weite, das Offene. Verbunden hat uns das Segeln nicht, eher im Gegenteil: Er fand das seltsam, dass der Sohn so viel Segeln geht und nichts Gescheites macht. Als ich ihm erklärte, Segeln sei mein Sport, meinte er: Gut, dann fährst Du zur Olympiade und holst die Goldmedaille. Er hatte sehr hohe Ansprüche. Was man macht, musste man in seinem Augen ganz und gar machen.
Uwe Wittstock:   Sie wurden tatsächlich ein exzellenter Segler: 1976 Deutscher Meister im Flying Dutchman.
Peter Frisch:   Das ist immer die Frage nach den Maßstäben. Ich war ganz gut, aber nicht gut genug, um ein Leben, einen Beruf darauf aufzubauen. Eine Goldmedaille habe ich nicht gewonnen.
Uwe Wittstock:   Was sagte Ihr Vater, als Sie Deutscher Meister wurden?
Peter Frisch:   Ich bin mir nicht sicher, ob er dazu viel gesagt hat. Der Titel fiel in eine schwierige Zeit unseres Verhältnisses. Er war ja nicht der große Kinder-Vater. Seine Hauptsorge war: Macht der Junge was Vernünftiges, etwas, von dem er leben kann? Als ich dann Segelzubehör zu verkaufen begann, sah er das nur als kleines Zubrot. Das war es zu Anfang auch. Er hatte in seinem Beruf das höchste Niveau erreicht, und er wollte, dass ich in meinem genauso viel erreiche.
Uwe Wittstock:   Sie haben – wie ihr Vater und ihr Großvater – Architektur studiert.
Peter Frisch:   Und jetzt studiert mein Sohn ebenfalls Architektur: An der ETH Zürich, wie sein Großvater Max.
Uwe Wittstock:   Eine Architekten-Dynastie! Warum entschieden Sie sich für die Architektur?
Peter Frisch:   Meine Mutter war ja auch Architektin. Ich war oft im Büro meines Vaters, sah seine Entwürfe, ging mit ihm auf die Baustellen. Die Arbeit begann mich zu interessieren und sie hat ja auch etwas sehr Schönes: Man sitzt vor einem weißen Blatt Papier, man weiß, was entstehen soll und muss dafür die beste und attraktivste Form finden.  Uwe Wittstock:   Klingt wie die Arbeit eines Schriftstellers.
Peter Frisch:   Kreativität gibt es ja auf ganz verschiedenen Ebenen. Auf dem leeren Blatt kann ein Roman entstehen, ein Haus oder ein Marketing Konzept. Bei all dem geht es darum, sich etwas Komplexes auszudenken, das in sich stimmig und hoffentlich schön ist und das die Menschen überzeugt. Die Architektur ist dafür eine gute Schule.
Uwe Wittstock:   Was sagte Ihr Vater, als Sie sich entschieden, Ihren Beruf als Architekt aufzugeben?
Peter Frisch:   Das war eine ziemliche Enttäuschung für ihn. Er glaubte nicht, dass ich aus meiner kleinen Segelfirma etwas Richtiges machen könnte, etwas, das über das reine Geldverdienen hinausging. Eine Sache richtig zu machen, etwas Großes zu machen und deshalb etwas Besonderes zu sein, stand für ihn immer im Mittelpunkt. Geld war für ihn eher unwichtig. Wenn er mit seiner Arbeit Geld verdiente, dann hat er das gern genommen, aber das war nicht das Entscheidende. Seine Freude über meine Firma kam erst sehr spät. Er war schon sehr, sehr alt, als er sagte, es sei schon wahnsinnig gut, dass ich mit Erfolg in einem Beruf arbeite, der vor den Gesetzen der Realität standhalten muss, während alle anderen in der Familie sich damit selten beschäftigten.
Uwe Wittstock:   Warum haben Sie sich gegen die Architektur entschieden?
Peter Frisch:   Ich war gerade mit dem Studium fertig, als mir mein Professor einen ersten Auftrag vermittelte: Der Bildhauer Bernhard Heiliger hatte ein Grundstück im Tessin gekauft, nicht weit von dem Haus meines Vaters in Berzona. Heiliger wollte dort ein Haus bauen, ich sollte es ihm entwerfen. Ich war ein naiver Student und stolz, dass ich, Peter Frisch, diesen Auftrag erhielt. Doch dann las ich in einer Zeitung: Bernhard Heiliger baut im Tessin ein Atelierhaus und der Architekt ist der Sohn von Max Frisch. Das hat mich wahnsinnig geärgert. Ich wollte da lesen: Der Architekt ist Peter Frisch. Da wurde mir klar, dass ich in jedem künstlerischen Beruf immer der Sohn meines Vaters bleiben würde.
Uwe Wittstock:   Haben Sie sehr darunter gelitten?
Peter Frisch:   Gelitten nicht. Ich habe ein dickes Fell gehabt. Aber genervt hat es schon. In der Schule hat der Deutschlehrer was Besonderes erwartet, wenn er Aufsätze von mir las, oder der Französischlehrer hat mich als Grammatikübung den Titel „Mein Name sei Gantenbein“ übersetzen lassen. Konnte er sich nicht was anderes einfallen lassen?
Uwe Wittstock:   Haben Sie trotz allem ein Lieblingsbuch von Max Frisch?
Peter Frisch:   Natürlich, aber das wechselt. Zurzeit ist mir „Stiller“ das liebste. Überhaupt, die Romane mag ich sehr, weil sie seine Sprechweise einfangen, weil ich ihn beim Lesen reden höre. Wenn man im Tessin zusammengesessen hat am Abend, dann kam es immer zu Gesprächen, die an die Themen seiner Romane erinnerten. Wobei die Gespräche immer von meinen Geschichten weggingen hin zu seinen Geschichten. Das war schon interessant: Ich versuchte eine Geschichte zu erzählen und er nahm sie auf, drehte sie um, und es war seine Geschichte. Großartig und sehr lehrreich, aber es war nicht mehr meine Geschichte.
Uwe Wittstock:   So ist das oft bei Schriftstellern.
Peter Frisch:   Er ist eine dominante Ich-Person gewesen. Nicht nur mir gegenüber. Allen Freunden ging es so, wenn sie mit ihm zusammen waren.  Uwe Wittstock:   Ihre Schwester Ursula hat kürzlich ein Buch über ihr Verhältnis zum Vater geschrieben (Ursula Priess: „Sturz durch alle Spiegel“). Werden Sie irgendwann einmal ein Buch über Max Frisch schreiben?  Peter Frisch:   Nein, ganz sicher nicht. Das Schreiben ist nicht meine Stärke.  Uwe Wittstock:   Ihre Schwester war verletzt wegen eines Satzes Ihres Vaters: „…die schlichte Nachricht, daß ein Kind gezeugt worden ist, hat mich gefreut: der Frau zuliebe…“ Was denken Sie über den Satz Ihres Vaters?  Peter Frisch:   Das ist ein typischer Satz meines Vaters. Er lässt mich völlig unberührt. Das verletzt mich überhaupt nicht. Wir Kinder hatten oft Spaß mit ihm, aber er war nicht der Kinder-Papa. Ich kann das verstehen: Als ich jünger war, spielten Kinder für mich keine so große Rolle wie später. Mit dreißig Jahren war ich noch viel mehr mit mir selbst beschäftigt, ich wollte etwas aus mir machen. Das Kind war ja gut versorgt bei der Mutter. Es war nett, ein Kind zu haben, aber es hatte nicht diese Wichtigkeit. Als ich dreißig war, war es mir wichtiger Deutscher Meister als Vater einer einjährigen Tochter zu sein. So war das bei ihm auch: Ihm war wichtig, wie kommt der nächste Roman an, wie die nächste Theaterpremiere – und, ach ja, Kinder habe ich auch noch.  Uwe Wittstock:   Sind Sie Ihrem Vater ähnlich? Erkennen Sie an sich Züge, die Sie an ihn erinnern?  Peter Frisch:   Ja. Es gibt viele Ähnlichkeiten. Nur nicht das Schreiben. Aber zum Beispiel die Stimme: Am Telefon ist meine der seinen offenbar zum Verwechseln ähnlich. Dann meine Sehnsucht nach Großzügigkeit, nach offenen, freien Räumen. Er hat gerne und sehr gut gekocht. Ich koche auch gern. Und hoffentlich gut.  Uwe Wittstock:   Aber auch Ihre Direktheit und Klarheit erinnert an Ihren Vater. Zum Beispiel der Satz eben: Mit dreißig sei es für Sie wichtiger gewesen, Deutscher Meister als Vater zu sein  Peter Frisch:   Die Direktheit kreiden mir manche an. Manchmal finden sogar Freunde, ich sei zu direkt. Aber gerade unter Freunden muss man doch besonders genau sagen können, was man für richtig hält und wie man sich selbst fühlt. Ich glaube, es ist nicht egoistisch, wenn man mit dreißig unbedingt Deutscher Meister sein will. Es ist nur ehrlich, wenn man das zugibt und ausspricht. Man darf darüber aber nicht rücksichtslos werden anderen gegenüber.
Uwe Wittstock:   Hat Ihnen Ihr Vater nach der Scheidung von Ihrer Mutter und der Trennung der Familie sehr gefehlt?
Peter Frisch:   Ja. Ich habe immer gehofft, dass es einmal einen neuen Partner gibt für meine Mutter. Aber dazu ist es nicht gekommen. Nein, das war nicht wahnsinnig lustig: Ich bin mit zwei Schwestern und einer Mutter aufgewachsen, da fehlte schon ein Mann in der Familie.  Uwe Wittstock:   War Max Frisch trotz der Trennung oft für Sie da?  Peter Frisch:   Wir waren regelmäßig an Wochenenden bei ihm. Und dann hat er sich sehr um uns gekümmert. Dann waren wir in den Bergen und er hat Wasserräder am Bach mit uns gebaut, oder ähnliches. Einmal hat er eine kleine Modellbühne gebastelt, um sich Gedanken für das Bühnenbild seins nächsten Theaterstücks zu machen und ich habe ihm geholfen und kleine Stühle für die Bühne gemacht. Vielleicht habe ich auf diese Weise sogar mehr von meinem Vater gehabt als mancher andere. Denn wenn er in die Verantwortung genommen wurde, hat er sich sehr bemüht. Das war typisch für ihn: Wenn er etwas machte, dann machte er es richtig.  Uwe Wittstock:   In jedem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gibt es gelegentlich Streit. War das bei ihnen und ihrem Vater genauso, oder war es schlimmer, oder besser?  Peter Frisch:   Streit gab es eigentlich selten. Das lag sicher auch daran, dass wir uns nur jedes zweite Wochenende sahen. In dieser kurzen Zeit kann man Streit leichter vermeiden, als wenn man immerzu zusammenlebt. Zu Konflikten kam es, als er mir klar zu machen versuchte, ich müsse einen richtigen Beruf haben, nicht dieses bisschen Segeln da. Das war die Zeit, in der wir uns wenig gesehen haben. Ich habe ihn wohl zwei Jahre lang nicht besucht, er hat sowieso nie angerufen – bis er dann mal einen Brief geschrieben hat.
Uwe Wittstock:   Ist Ihr Vater ein Vorbild für Sie? Wenn ja, in welcher Hinsicht?
Peter Frisch:   In vielen Punkten ist er ein Vorbild. Ich will etwas ganz Banales sagen: Sein Auftreten zum Beispiel. Er wusste, wie man, ohne zu protzen, großzügig ist. Er konnte sehr gut umgehen mit Menschen, er hatte Charme. Er war ein Grandseigneur.  Uwe Wittstock:   Ihr Vater war ein Mann der Frauen. Er hatte viele Partnerinnen, viele Geliebte. Hat das Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater beeinflusst?  Peter Frisch:   Eher positiv. Natürlich war es schmerzhaft, dass er nicht mehr mit meiner Mutter zusammen war, aber daran hat man sich irgendwann gewöhnt. Und mit den späteren Partnerinnen meines Vaters bin ich durchweg gut zurecht gekommen. Vor allem mit Marianne, seiner zweiten Ehefrau, habe ich mich sehr gut verstanden, sie war nicht viel älter als ich. Das war eine tolle Frau. Auch als ich mich eine zeitlang nur schlecht mit meinem Vater verstand, hat eine seine Frauen dafür gesorgt, dass der Kontakt zwischen uns beiden wieder aufgenommen wurde.  Uwe Wittstock:   Die berühmteste Lebenspartnerin Ihres Vaters war Ingeborg Bachmann. Haben Sie sie kennengelernt?  Peter Frisch:   Ja, natürlich und ich mochte sie. Inzwischen geht mir der Automatismus ein wenig auf die Nerven: Immer wenn heute von Max Frisch die Rede ist, wird sofort auch von Ingeborg Bachmann gesprochen. Sie war sicher eine wichtige Person in seinem Leben. Aber sie war es für eine nicht allzulange Zeit. Ich habe sie schon deshalb gemocht, weil sie mit mir keineswegs über hochgeistige Themen sprach, sondern über Autos. Ich war damals 14 Jahre alt und Autos interessierten mich hundertmal mehr als Literatur.  Uwe Wittstock:   In der Literaturgeschichte wird Ingeborg Bachmann viel eher als intellektuelle, etwas ätherische Erscheinung beschrieben.  Peter Frisch:   So habe ich sie nicht erlebt. Ich habe sie als ganz normale, praktische Frau in Erinnerung, die mit mir sehr gut zurecht kam. Das passt vielleicht nicht in das Bild, das die Literaturgeschichte vermittelt, aber ich habe sie so im Gedächtnis.  Uwe Wittstock:   Sie haben mal gesagt, die Liebe zur Schönheit hätten Sie von Ihrem Vater geerbt? Ist diese Liebe Genuss oder Last für Sie?  Peter Frisch:   Last? Warum sollte das eine Last sein? Schöne Dinge anzuschauen, ist doch ein Genuss.  Uwe Wittstock:   Aber es gibt so wenig davon.  Peter Frisch:   Nein, das finde ich nicht. Das ist doch eine Frage des Blickwinkels: Schaue ich aus dem Fenster und suche nach den hässlichen Sachen, werde ich eine Menge finden. Schaue ich hinaus und konzentriere mich auf die schönen Dinge, die es auch gibt, habe ich die Möglichkeit, sie zu genießen. Zum Genussmenschen gehört halt, dass er sich die Dinge sucht, die er genießen kann.

Das Gespräch mit Peter Frisch wurde am 4. April 2011 im Nachrichtenmagazin „Focus“ veröffentlicht

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Hitlers gefälschte Vergangenheit

Zu Thomas Webers Studie „Hitlers erster Krieg“  
Das größte Rätsel der deutschen Geschichte ist Adolf Hitler. Die Frage, wie dieser nur mäßig begabte Mann sich zum mächtigsten und mörderischsten Herrscher des Landes machen konnte, bleibt jahrzehntelangen Forschungen zum Trotz bis heute unbeantwortet. Hitler selbst behauptete, der Erste Weltkrieg habe ihn verwandelt und radikalisiert. Sein bekanntester Biograph Joachim Fest folgte dieser Spur: Die Schlachten zwischen 1914 und 1918 seien für Hitler „eine überschwänglich bejahte Erfahrung von eigentlich metaphysischem Rang“ gewesen. Ian Kershaw, der andere großen Hitler-Forscher, sah es ähnlich: „Der Krieg weckte in Hitler den Fanatiker.“ Doch obwohl dieser Zeitraum im Leben des späteren Diktators eine entscheidende Rolle spielte, gingen die Historiker meist wortkarg über sie hinweg. Die Gründe dafür sind einfach: Neben wenigen Feldpostbriefen, spärlichen Fotos und zweifelhaften Aussagen von Zeitzeugen existieren kaum verlässliche Dokumente über Hitler als Soldat. Zu der wesentlichen Entwicklungs-Phase seines Lebens gab es bislang nur wenig gesicherte Erkenntnisse. Jetzt verspricht ein neues Buch Licht ins Dunkel zu bringen und erregt umgehend internationales Aufsehen. „Hitlers erster Krieg“ heißt die Studie des deutschen, im schottischen Aberdeen lehrenden Historikers Thomas Weber. Er hat die Geschichte des Regimentes, in dem Hitler als Gefreiter diente, gründlicher als alle Wissenschaftler zuvor erforscht. Weber nutzte dafür nicht nur alle erreichbaren deutschen Militärakten, sondern auch Unterlagen britischer Einheiten, die den Deutschen auf den Schlachtfeldern gegenüberstanden. Mit sensationellen Ergebnissen. Sobald Hitler Politiker wurde, begann er seine militärische Vergangenheit systematisch zu schönen und zu verfälschen. Vom Propagandaapparat seiner Partei ließ er sich als Frontsoldat präsentieren, der in den Kriegsjahren tagtäglich Kopf und Kragen risikierte. Obwohl er Österreicher war, hatte er sich als Freiwilliger zum 16. Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment gemeldet. Doch an vorderster Front war er nur elf Tage. Gleich nach der ersten Schlacht von Ypern, seiner „Feuertaufe“, ließ er sich am 9. November 1914 als Meldegänger zum Stab versetzen. Da auch die NS-Propaganda diesen Schritt später nicht totschweigen konnte, umgab sie diese Funktion mit der Aura, besonders gefährlich, ja geradezu ein Himmelfahrtskommando gewesen zu sein. Nach den Recherchen Webers sah die Wahrheit gründlich anders aus. Als Meldegänger war Hitler vor allem hinter der Front eingesetzt, wo er Befehle zwischen Regimentsstab und Bataillonsstäben zu übermitteln hatte. Die schlugen ihre Quatiere wohlweislich bis zu einer Fußmarschstunde von der Hauptkampflinie entfernt auf. Kein Wunder, dass Hitler von kämpfenden Kameraden nicht als Frontsoldat betrachtet, sondern zu den „Etappenschweinen“ gerechnet wurde, wie Weber schreibt. Hitler, ein Feigling? Ein Viertel aller Soldaten aus seinem Regiment starben im Krieg. Die Überlebensquote der Meldegänger, fand Weber heraus, belief sich dagegen auf 100 Prozent. Zu den großen Vorzügen von Webers Buch gehört, dass sie nicht nur zahllose neue Erkenntnisse enthält, sondern auch anschaulich geschrieben ist. Wie er die erste Schlacht schildert, an der Hitler teilnahm, hat literarische Qualität. „Am frühen Morgen des 29. Oktober erwachten 349 Männer des List-Regiments zum letzten Mal in ihrem Leben.“ Die Truppe hatte nur zehn Wochen Ausbildung hinter sich. Vier Stunden lang musste sie durch die Nacht zum Schlachtfeld marschieren. Als der Morgen graute, lag überall Nebel. Ohne Sicht, ohne Stahlhelme und mit einem Gewehrtyp, den die Männer nie zuvor in den Händen gehabt hatten, mussten sie zur Attacke antreten. Die Verluste der Angreifer waren enorm – aber nicht so hoch, wie Hitler sie später beschrieb. Er sei der einzige Überlebende seines Zuges gewesen, behauptete er. Doch die Regimentsakten halten fest, dass an jenem 29. Oktober in Hitlers 1. Kompanie exakt 13 Soldaten fielen. Wäre Hitler tatsächlich der einzige Überlebende seines Zuges gewesen, hätten alle übrigen Truppenteile fast keine Opfer zu beklagen gehabt, was extrem unwahrscheinlich ist. Aus britischen Akten weiß Weber, weshalb den Deutschen noch höhere Verluste erspart blieben: Den kampferprobten Briten auf der Gegenseite war die Munition ausgegangen. Einige der aufregendsten Forschungsergebnisse, die Weber zu Tage gefördert hat, betreffen die Regimentskameraden Hitlers. Historiker hatten bislang vermutet, das jahrelange Kämpfen und Töten an der Front habe unter ihnen eine brutale Landsknecht-Mentalität entstehen lassen, habe eine rechtradikale und antisemitische Haltung gezüchtet, von der Hitler geprägt wurde. Nichts davon ist wahr, schreibt Weber. Die Briefe der Männer in die Heimat lassen erkennen, wie sehr sie unter den unmenschlichen Schlachten litten, ohne durch sie zu Unmenschen zu werden. Ihr Umgang mit Gefangenen war fair, Übergriffe gab es kaum. Nie lässt sich unter ihnen auffälliger Judenhass nachweisen und bei der ersten Wahl zur Nationalversammlung 1919 stimmten sie mit der Bevölkerung ihrer Rekrutierungsgebiete zu 80 bis 85 Prozent für Parteien, die vorbehaltlos für die neue Demokratie der Weimarer Republik eintraten. Umso unerklärlicher, wieso dieser eine, unauffällige Gefreite namens Hitler kurz darauf derart extremistische Ansichten entwickelte. Wenige Jahre später wurden alte Regimentskameraden von der NS-Propaganda eingespannt, wider besseres Wissen die Legende vom Fronthelden Hitler fortzuspinnen: Man hat sie mit Vergünstigungen regelrecht bestochen. Aber nicht wenige widerstanden der Versuchung: Korbinian Rutz, einer der ehemaligem Kompaniechefs, war vermutlich der Autor eines 1932 erschienenen Artikels, in dem es heißt, Hitler sei „nicht mehr als zehn Tage in der vordersten Linie“ gewesen. Als Hitler 1933 an die Macht kam, wurde Rutz im KZ interniert und erst entlassen, nachdem er eine Schweigeverpflichtung unterschrieben hatte. Zu den schier unbegreiflichen Volten der Geschichte gehört, dass es ausgerechnet ein jüdischer Offizier war, der Hitler gegen Ende des Ersten Weltkriegs das Eiserne Kreuz I. Klasse verschaffte. Auch dies ein starkes Indiz, das Hitler als Soldat keine antisemitischen Neigungen erkennen ließ, denn weshalb hätte sich ein jüdischer Vorgesetzer für einen bekennenden Judenfeind einsetzen sollen? Was bleibt, ist das Rätsel Hitler: Weshalb er sich in den Nachkriegs- und Revolutionswirren 1919 zu einem ebenso aggressiven wie erfolgreichen Agitator und fanatischen Antisemiten entwickelte, lässt sich bis heute nicht schlüssig und überzeugend erklären.

Die Rezension erschien am 14. März 2011 im „Focus“.

Thomas Weber: „Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit“ Propyläen Verlag, Berlin 2011 ISBN 978-3-549-07405-3

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Vom Gewinn des Alters.

Siegfried Lenz wird 85.
Er ist heute Deutschlands dienstältester Großschriftsteller. Eine Begegnung mit ihm vor kolossaler Flusslandschaft   Das Erste, was an Siegfried Lenz auffällt, ist die Elbe. Als mächtiges graues Band schiebt sie sich hinter seinem Profil der Nordsee entgegen. Wir treffen uns tief im Westen Hamburgs, direkt am Elbufer, dort, wo der Strom das Labyrinth des Hafens hinter sich gelassen hat, nach getaner Arbeit durchzuatmen scheint und sich zu ganzer Größe streckt. Einladend winkt mich Lenz von Weitem schon an seinen kleinen Tisch. Es ist, als betrete man ein Kino, in dem nur noch ein zweiter Zuschauer sitzt: der Schattenriss eines schmächtigen Mannes mit großem Kopf und Pfeife vor dem überwältigenden Breitwandpanorama des Flusses. Ein Auftritt, wie ihn der Erzähler Siegfried Lenz effektvoll und sinnfällig für die Hauptfigur eines Romans erfunden haben könnte. Gleich das erste Bild enthält viel von dem, was den Helden charakterisiert: die Haltung des Beobachters, die Ruhe des Pfeifenrauchers und sein Blick auf den unaufhaltsam vorandrängenden Strom der Ereignisse. Lenz ist heute der dienstälteste Großautor des Landes. Seine erste Geschichte schrieb er 1949, im Gründungsjahr der Bundesrepublik. Es folgten 14 Romane, rund 170 Erzählungen und dazu Essays, Reden, Theaterstücke. In 35 Sprachen wurden seine Bücher übersetzt, 30 Millionen Mal verkauft. Der bescheidene Mann am Elbufer, der fragt, ob er weiterrauchen darf oder ob das stört, ist ein Weltautor, ist Schöpfer und Herr eines literarischen Universums namens Lenz. Worüber spricht man mit einem Weltautor? Übers Angeln. „Ich bin“, bekennt Lenz, „hoffnungslos in die Fischerei verliebt.“ Wohin auch immer er eingeladen wurde, bat er, sobald die Gastgeber nach seinen Wünschen fragten, um eine Angelrute. In Schottland, in Japan, in Neuseeland konnte er so sein Fischerglück versuchen. „Mein größter Fang? Ein Dorsch in Norwegen. 18 Pfund.“ Nachprüfbare 18 Pfund, sagt Lenz und hebt den Finger. Da ist kein Anglerlatein im Spiel: Die Beute wurde fotografiert, das Bild in einer Zeitung gedruckt. Sein Lieblingsthema bringt den Erzähler in Schwung: Mit Ulla, seiner zweiten Frau, war er vor nicht allzu langer Zeit zum ersten Mal beim Fischen. „Sie ist Dänin und immer dem Wasser nahe gewesen, stammt aber aus einer Försterfamilie und hat nie geangelt.“ Als sie ihren ersten Fisch fing, einen Plötz, haben sie ihn gemeinsam vorsichtig an Land geholt und vom Haken gelöst. „Aber dann hat Ulla ihn nicht nur ins Wasser zurückgesetzt, nein, sie hat ihn vorher noch gestreichelt.“ Mit seiner ersten Frau Liselotte war Lenz 57 Jahre verheiratet. Sie starb 2006. „Danach glaubte ich, es geht nicht mehr weiter. Ich hatte jede Arbeitskraft, jede Imaginationskraft verloren.“ Die Furcht, nie mehr schreiben zu können, war sehr konkret. Er wäre heute, sagt er, ohne seine neue Frau nicht mehr am Leben. „Ulla hat mir enorm geholfen. Sie hat mir insbesondere geholfen, mein Buch zu Ende zu bringen, die ‚Schweigeminute’.“ Mit der Novelle „Schweigeminute“ kehrte Lenz vor drei Jahren auf die Bestsellerlisten zurück. Das Buch ist kein blasses Alterswerk, sondern der Triumph eines reifen Schriftstellers, es zeigt Lenz im Vollbesitz seines Könnens. Er gehörte nie zu den Autoren, die über sich selbst oder das eigene Seelenleben schreiben. Er war immer ein Geschichtenerfinder, der spannende, dramatisch zugespitzte Stoffe liebt. Aber wenn Lenz in „Schweigeminute“ von der Liebe eines gerade Achtzehnjährigen zu seiner Englischlehrerin erzählt, die bei einem Bootsunfall stirbt, dann schimmert doch etwas durch von der Liebe zu seiner ersten Frau, die acht Jahre älter war als er. Wie jeder große Erzähler ist Lenz letztlich so etwas wie ein Verwandlungskünstler. Was immer ihm begegnet, was immer ihn beschäftigt: Er verwandelt es in eine Geschichte. Und seine Geschichten fangen die spezielle Atmosphäre, das besondere Aroma ihrer Zeit, so präzise ein, dass man beim Lesen glaubt, Kapitel für Kapitel der Vergangenheit der Bundesrepublik wiederzubegegnen. Er hat eine ungeheure Zärtlichkeit, wenn er Bilder oder Gesten beschreibt, die für dieses Land wichtig sind. Er war gemeinsam mit Günter Grass dabei, als Willy Brandt 1970 auf die Knie fiel vor dem Denkmal für das Warschauer Ghetto. „Der Ort hat Brandt einfach übermannt“, sagt Lenz, „das gibt es: Selbst ein Staatsmann wie Brandt kann übermannt werden.“ Oder er spricht von dem Händedruck, mit dem Helmut Kohl und François Mitterrand 1984 auf dem Soldatenfriedhof von Douaumont die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland bekräftigten. So sinnlich die Kraft seiner Worte ist, so wenig Wind macht er um seine Person. Seine Wohnung wirkt schlicht, fast ein wenig karg: weiße Wände, wenige Bilder, Möbel, die ihn sicher schon seit Jahrzehnten begleiten. Da ist nichts, was den Welterfolg seiner Bücher verrät – außer dem grandiosen Blick auf die Elbe. „Schauen Sie, dieses Container-Gebirge!“ Mit der Pfeife in der Hand deutet er auf einen Riesenfrachter, hochbepackt mit Containern, den die Elbe bedächtig an uns vorüberträgt. Lenz war immer ein Schriftsteller des Nordens und der Nautik. Das Wasser zog ihn an, seit er in der kleinen ostpreußischen Stadt Lyck an einem See aufwuchs. „Er bot mir alle Freuden, die ein See bieten kann: schwimmen, tauchen, im Winter Eishockey, angeln.“ Er bot ihm aber auch die Schrecken, die im Wasser auf einen warten können. Als Schüler brach Lenz an einem Wintertag durchs Eis. Mit viel Glück nur konnte er gerettet werden. Danach war das Leben wie einen Schritt von ihm zurückgetreten: „Ich hatte streng genommen keine Daseinsberechtigung, ich war überflüssig, entbehrlich, ein fahrlässiger Luxus.“ Vermutlich liegt hier eine Wurzel für die eigentümliche Fähigkeit des Schriftstellers Lenz, von sich selbst abzusehen. „Ich stelle mir vor“ lautet sein Arbeitsprinzip, nicht „Ich habe erlebt“. Auf dem Papier breitet er nicht seine persönlichen Befindlichkeiten aus, sondern erprobt nie gelebte Lebensmodelle. Ihm fehlt die Selbstverliebtheit, jene große Schwäche vieler anderer Autoren. Er ist ein Erzähler, der sich freimachen kann von der eigenen Person und der vielleicht deshalb seinen Lesern oft so nahe kommt. Die geplanten Feiern zu seinem 85. Geburtstag entlocken ihm nur ein geduldiges Lächeln. Prüfungen nennt er sie, die es zu bestehen gilt. Wichtig ist anderes. Er schreibt an einem neuen Buch, es soll bald fertig werden, wieder eine Novelle. Das Alter bringt, sagt Lenz zwischen zwei Zügen aus der Pfeife, neben vielen Verlusten und „körperlichen Miseren“ auch Gewinne mit sich: „Gelassenheit, Deutlichkeit.“ Und mit aller Deutlichkeit weiß er, dass ihm die Arbeit am meisten bedeutet, nicht das Gefeiertwerden. Als wolle sie das unterstreichen, trägt die Elbe in aller Ruhe noch ein zweites, diesmal viel kleineres Containerschiff an uns vorüber. Lenz folgt ihm mit den Augen, zuckt die Schultern und meint: „Das macht uns jetzt keinen Eindruck mehr.“

Das Porträt von Siegfried Lenz erschien im „Focus“ vom 21. Februar 2011

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Österreichische Kindheit um 1950

 Einführung zu einer Lesung Gerhard Roths aus seiner Autobiographie „Das Alphabet der Zeit“ im Kölner Literaturhaus am 3. Juni 2008

Die griechische Mythenwelt kannte neun Musen. Sie alle waren Töchter des Zeus. Um in dieser beeindruckend großen Schar den Überblick zu bewahren, welche der Musen für welche Kunstrichtung zuständig war, gaben ihnen die Griechen auf Abbildungen Gegenstände in die Hände, an denen sich ihre Aufgaben ablesen ließen. Thalia zum Beispiel, der Schutzgöttin der Komödie, eine lachende Theatermaske und Euterpe, der Schutzgöttin der Lyrik und des Flötenspiels naturgemäß eine Flöte. Bei zwei dieser Zeustöchter können allerdings selbst exzellente Kenner der Mythologie leicht mal ins Schwimmen kommen: Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, trägt als Erkennungszeichen eine Buchrolle und einen Schreibgriffel, Kalliope aber, die Muse der epischen Dichtung, deren schöne Stimme besonders gepriesen wurde, statteten die griechischen Malern oder Bildhauern mit exakt den gleichen Merkmalen aus, mit Buchrolle und Schreibgriffel. Ein Zufall ist das nicht. Für die Griechen waren Epos und Geschichtsbericht einander so nahe, dass sie zwischen beidem mitunter nur wenig oder schlicht keinen Unterschied machten. Wer heute Romane schreibt, wird schnell ein Erzähler genannt. Bei Gerhard Roth trifft diese Bezeichnung nicht genau. Seine schriftstellerischen Leidenschaften zielen aufs Epische, auf den großen, breiten, ungeheuere Materialmassen bewegenden Erzählstrom. Er formt seine Bücher gern zu umfangreichen Zyklen und betreibt mit ihnen immer auch das, was man literarische Geschichtsschreibung nennen kann. Um es im mythologischen Vokabular zu sagen: Wenn sich Gerhard Roth an ein Manuskript setzt, dann nehmen regelmäßig Klio und Kalliope neben ihm Platz. 1991 schloss Roth nach zehnjähriger Arbeit seinen Romanzyklus „Die Archive des Schweigens“ ab, der so etwas wie ein Bewusstseinspanorama Österreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwirft. „Die Welt“, hat Roth einmal in einem Gespräch gesagt, „in die meine Generation hineingeboren wurde, war bankrott. Alle Sinnsysteme sind am Boden gelegen. Der nationalsozialistische Staat wie der kommunistische, der christlich-soziale wie die katholische Kirche selbst. Auch wenn sie weiter bestanden oder bestehen, hat das nichts zu sagen. Man blickte in einen erloschenen Vulkan, der dastand wie eine ewige Erinnerung an das Grauen.“ Roths sieben Romane der „Archive des Schweigens“ machen sich auf die Suche nach den Gründen für diesen Vulkanausbruch. Wie konnte es zu der Katastrophe kommen? Aber sie deklinieren dabei nicht noch einmal die allgemein bekannten politischen Daten und Vorgänge durch, sondern fahnden nach einem verborgenen Schattenreich der Geschichte, das der offiziellen Historiographie entgeht, das aber die Mentalitäten der Menschen bereit machte für den Nationalsozialismus. Wie Michel Foucault in Frankreich mit philosophischen Mitteln, so erforschte Roth mit literarischen Mitteln am Beispiel Österreichs wie ein Staat mit den Ausgegrenzten, mit den Obdachlosen, den Geisteskranken oder Kriminellen umgeht. Wie Schule, Justiz, Medizin und vor allem Militär die Menschen zurechtstutzten und reif machten für den Gewaltausbruch des Nationalsozialismus. Und wie diese Institutionen auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihren alten Mechanismen noch immer nachwirkten. Was ihn literarisch reizt, ist das, was die traditionelle Geschichtswissenschaft lange Zeit als unbedeutend beiseite schob oder immer noch beiseite schiebt. In seinem folgenden Romanzyklus mit dem Titel „Orkus“, an dem Gerhard Roth seither arbeitet, hat er dieses Geschichtsprojekt behutsam ins Internationale erweitert. In den bislang fünf Bänden „Der See“, „Der Plan“, „Der Berg“, „Der Strom“ und „Das Labyrinth“ stehen zwar auch Österreicher und damit ihre österreichische Heimat im Mittelpunkt, die Schauplätze allerdings liegen oft genug in anderen, mitunter fernen Ländern und bringen so neue, andere Perspektiven in Roths Arbeit hinein. Doch hat er darüber das spezifisch österreichische Geschichtstrauma nicht aus den Augen verloren. Sein jüngstes Buch „Das Alphabet der Zeit“ ist zugleich sein persönlichstes geworden. Es sind seine autobiographischen Aufzeichnungen über Kindheit und Jugend, beginnend mit den frühesten Gedächtnisspuren rund um das Kriegsende 1945 bis hin zu den Erinnerungen des einundzwanzigjährigen Medizinstudenten Roth, der im November 1963 im Autoradio von der Ermordung John F. Kennedys hört. Aber auch wenn Roth hier zum ersten Mal überhaupt direkt und unverstellt von seinem Leben erzählt, dann ist in dem Buch dennoch zugleich von mehr die Rede als nur von der eigenen Biographie. Das „Alphabet der Zeit“ ist sein persönliches Epos – und dennoch gemäß seines fortgesetzten literarischen Geschichtserforschungsprogramms zugleich ein Werk der Historiographie. Auch bei der Arbeit zu diesem Buch haben Roth Klio und Kalliope schwesterlich vereint zur Seite gestanden. Die Methode, mit der Roth hier über seine frühen Jahren schreibt, ist bemerkenswert. Er erzählt keine kontinuierliche, in sich geschlossene Lebensgeschichte, sondern er legt so etwas wie ein Lebensmosaik aus. Die Bruchlinien zwischen den einzelnen Gedächtnissplittern sind ihm wichtig. Schließlich wissen wir alle sehr genau, wie leicht uns unsere Erinnerungen täuschen, wie schnell wir solche Splitter und Fragmente zu logischen, sinnvollen Geschichten zurechtkneten – weil wir es so gerne hätten, dass unser Leben logisch und sinnvoll verlaufen ist und wir rückblickend feststellen wollen, dass wir logisch und sinnvoll gehandelt haben. Doch wer ehrlich ist mit sich selbst, der gibt zu, wie wenig er über sich und seine Motive weiß und dass seine Erinnerungen, wie Gerhard Roth im Motto zu seinem „Alphabet der Zeit“ sagt, nur „eine Fata Morgana sind in der Wüste des Vergessens.“ Dieses literarische Verfahren eines Lebensmosaiks erinnert an ein großes autobiographisches Buch des 20. Jahrhunderts. 1932 reiste Walter Benjamin nach Nizza mit dem festen Vorsatz, sich dort in einem Hotel umzubringen. Er schieb Abschiedsbriefe, bestimmte einen Nachlassverwalter – und führte das Vorhaben dann doch nicht aus. Stattdessen begann er Prosaminiaturen über seine Kindheit im Berliner Großbürgermilieu zu schreiben, deren hoch entwickelte Lebenskultur mit dem Ersten Weltkrieg unwiederbringlich versunken war. Doch Benjamin erging sich nicht in naiver Nostalgie. Er versuchte vielmehr mit den Miniaturen einerseits die Welt seiner Kindheit in der Imagination wiederzubeleben, sie andererseits aber akribisch nach jenen Keimen der Zerstörung zu durchmustern, mit denen das Bürgertum schließlich zum Ersten Weltkrieg und damit zum eigenen Untergang beitrug und dem Nationalsozialismus den Weg bahnte. Eben die Nazis sorgten dann dafür, dass Benjamin dieses Erinnerungs-Buch, dem er den Titel „Berliner Kindheit um 1900“ gab, zu seinen Lebzeiten nie als Buch in Händen halten konnte. Es erschien erst lange nach seinem Tod, herausgegeben von seinem Freund Theodor W. Adorno. Gerhard Roth ist, wie es der Zufall oder die Musen wollten, bis auf wenige Tage genau 50 Jahre nach Walter Benjamin geboren. Seinem „Alphabet der Zeit“ darf man mit Seitenblick auf Benjamins Buch vielleicht den Nebentitel „Österreichische Kindheit um 1950“ beigeben. Denn Roth betreibt hier schreibend etwas, das den Absichten Benjamins sehr ähnlich ist und das doch zugleich das spiegelbildliche Gegenstück darstellt. Während Benjamin über das noch scheinbar intakte, kultivierte Großbürgertum schrieb, in dem aber schon die Weichen gestellt wurden hin zu jenem Vulkanausbruch der Gewalt, der dann nicht nur diese Großbürgerkultur unter sich begrub, schreibt Gerhard Roth über das Leben nach der kompletten politischen, moralischen, geistigen Zerstörung und sucht in dieser wüsten Zeit nach den ersten Keimen eines erwachenden aufklärerischen Bewusstsein, das begreifen will, wie es zu dieser umfassenden Katastrophe kommen konnte. Wie in einer Diashow führt Roth Erinnerungsbild um Erinnerungsbild vor und durchforscht sie nach zweierlei, nach den Spuren der Verrohung, die der gerade erst überstandene Nationalsozialismus und die Kriegjahre unter den Menschen hinterlassen haben, aber auch nach den ersten Anzeichen für den Wunsch des Kindes, hinter die Kulissen zu schauen, die dunklen Stellen seiner Umwelt auszuleuchten, das von den Erwachsenen gezielt oder auch unbewusst Verschwiegene endlich zu erforschen und zur Sprache zu bringen. In einem Erinnerungssplitter Gerhard Roths scheint mir diese literarische Technik recht exemplarisch zum Ausdruck zu kommen. Der kleine Gerhard ist gerade zur Schule gekommen, er hat zwei Brüder, den etwas älteren Paul und den zwei Jahre jüngeren Helmut. Es ist der Nikolaustag 1948 oder 49 und zu den drei Kindern kommt – den Vorweihnachts-Traditionen folgend – der Nikolaus mit Bischofsmütze und Krummstab und in seiner Begleitung der Gehilfe namens „Krampus“, gehüllt in ein schwarzes Fell, das Gesicht hinter einer Teufelsmaske mit Hörnern versteckt und mit einem Korb, österreichisch „Butte“ genannt, auf dem Rücken. „Wir rissen“ erinnert sich Roth in seinem Buch, „vor Schreck die Münder auf und hörten wortlos zu, was der Nikolaus sagte. Er las jedem von uns aus seinem dicken Buch vor, was wir falsch gemacht hatten und sprach so ausführlich über unsere Missetaten, als ob er dabei gewesen wäre. … Erschrocken fragten wir uns, wie das möglich war. Als er Helmut beschuldigte, nicht folgsam gewesen zu sein, streckte ihm dieser die Zunge heraus. Das Weitere geschah so schnell, dass wir starr vor Schreck waren. Der Krampus hob den verdutzten Helmut in seine Butte und lief mit ihm davon. Ich hörte meinen Bruder vor der Tür laut schreien und sprang ihm die Stiegen hinunter nach, um ihn zu retten. Draußen war es schon dunkel, und vor der Gartentür bekam ich die Butte zu fassen und zerrte an ihr, dadurch brachte ich die Gestalt aus dem Gleichgewicht und der weinende Helmut konnte herausspringen. Bevor noch Schlimmeres geschah, kam unsere Mutter angelaufen und beschwerte sich beim Krampus, dass er zu weit gegangen sei. Im selben Augenblick schob dieser sich die Maske aus dem Gesicht, und ich erkannte in der Dunkelheit, den lachenden Herrn Schlack“, einen Nachbarn. „Auch der Nikolaus war inzwischen herbeigeeilt und gab sich vor Charme sprühend als der verwitwete Schneider Pechstein zu erkennen. Das bestärkte nur meine Zweifel an dem, was ich vom Leben zu sehen bekam. Ich fühlte mich durch den Vorfall ebenso betrogen wie gedemütigt. Wurden wir nicht wie Narren behandelt?“ Bemerkenswert ist an dieser Erinnerungsminiatur Roths nicht nur, wie grundsätzlich der sechsjährige Gerhard die Demaskierung von Nikolaus und Krampus erlebte. Bemerkenswert ist auch die Leichtfertigkeit und der Mangel an Einfühlungsvermögen mit der die beiden maskierten Männer zuvor den vielleicht gerade mal vierjährigen Helmut ängstigten, die Bedenkenlosigkeit, mit der sie ihre Überlegenheit ausspielten und den an sich harmlosen Nikolaus-Brauch wie ein Strafgericht über die Kinder inszenierten. Mit solchen Gedächtnissplittern fügt Roth Fragment für Fragment eine Art mosaikartiges Porträt der Zeit um 1950 zusammen. Und er richtet dabei den Blick wieder besonders genau auf den Umgang mit Hilflosen oder Hilfsbedürftigen, weil der seinem Verständnis nach besonders verräterisch ist für den Zustand der Epoche. Er beschreibt das Verhältnis seines Vaters, dem Arzt, zu seinen Patienten, aber auch der Behörden zu seinem Vater, der als Rumäniendeutscher in Österreich staatenlos war und als nahezu rechtlos behandelt wurde. Er erzählt, wie die Nachbarn mit seiner Großmutter umsprangen, die an einem Tourette-Syndrom, einem eigentümlichen Gesichtszucken, litt und vor allem, wie erst die Schule, später die Universität ihn gefügig zu machen versuchte. Michel Foucault nennt das Zusammenspiel solcher Institutionen, die darauf zielen, die ihnen anvertrauten Menschen nach den Vorstellungen der Gesellschaft zurechtzubiegen, die „Mikrophysik der Macht“. Gerhard Roth breitet in seinem „Alphabet der Zeit“ ein Album von Erinnerungsbildern aus, auf denen diese Mikrophysik der Macht gleichsam bei ihrer Arbeit festgehalten wird – in dem aber auch der gar nicht so leise Triumph des jungen Mannes namens Gerhard Roth spürbar wird, sich der zurichtenden Gewalt dieser Mikrophysik nach und nach zu entziehen.

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„Ich verbrenne deine Stofftiere“

Die Amerikanerin Amy Chua hält die westliche Kuschelpädagogik für verweichlicht.

In ihrem Buch »Die Mutter des Erfolgs« erklärt sie, wie sie ihre Töchter mit chinesischem Drill das Siegen lehrte   Ihre Töchter haben die besten Noten, doch das reicht ihr nicht. Es müssen die allerbesten sein. Dazu Unterricht in Chinesisch und in einem klassischen Musikinstrument. Aber nicht als nette Bildungszutat. Vielmehr sollen die Kinder Chinesisch fließend und ihre Instrumente bis zur Konzertreife beherrschen. Amy Chuas Buch „Die Mutter des Erfolgs“ ist die maximale Provokation. So etwas wie eine Kampfansage. Gerichtet an alle Eltern, Pädagogen, Bildungspolitiker, die meinen, größtmögliche Unbeschwertheit und Selbstentfaltung der Kinder sei die Hauptaufgabe der Erziehung. Ihr Programm für jede Kindheit lautet: 1. Leistung, 2. Leistung, 3. Leistung. Chua, 49, Tochter chinesischer Einwanderer, lehrt als Juraprofessorin an der Elite-Universität Yale und ist mit einem Kollegen verheiratet. Doch ihr Buch „Die Mutter des Erfolgs“ hat sie nicht als Juristin, sondern als Mutter zweier Töchter geschrieben. Ihr Feindbild ist die Kuschelpädagogik westlicher Prägung, die den Kindern alle Wünsche von den Augen abliest und ihnen das Lernen als Spiel anzupreisen versucht. Sie setzt dagegen das Erziehungsmodell der „chinesischen Tigermutter“: rigoroser Leistungsdruck. Weder Freizeit noch Vergnügen spielen im Tigermutter-Konzept eine Rolle. Mehrere Stunden täglich müssen beide Töchter üben. Am Wochenende dann Einzelunterricht bei berühmten Musiklehrern. Auch die Mutter schont sich nicht: Als „Exerzierfeldwebel“ begleitet sie – neben ihrer Arbeit als Professorin – das volle Bildungsprogramm ihrer Töchter. Gute Eltern, schreibt Chua, fordern ihre Kinder brutal, um sie zu fördern. Die Kinder lernen so, dass sie selbst größtes Lernpensum bewältigen können und gewinnen an Selbstbewusstsein. Nicht Begabung allein, sondern Fleiß, fanatischer Arbeitswille und unermüdlicher Drill führen ihrer Ansicht nach zu Spitzenergebnissen: „Spaß macht gar nichts, solange man nicht gut darin ist; chinesische Eltern wissen das. Um auf irgendeinem Gebiet gut zu werden, muss man sich anstrengen, und von selbst haben Kinder grundsätzlich keine Lust, sich anzustrengen – deshalb ist es ja so immens wichtig, dass man sich über ihre natürlichen Tendenzen hinwegsetzt.“ Für Chua bedeutet das: permanentes Kräftemessen mit ihren Töchtern. Aber als Tigermutter kämpft sie gnadenlos, schimpft, schreit, tobt und erklärt das Haus zum „Kriegsgebiet“. Lernen die Mädchen zu langsam, kündigt sie ihnen als Motivationshilfe schon mal an, sämtliche Stofftiere zu verbrennen. Als eine Tochter energisch gegen die Erziehungsdiktatur rebelliert, droht die Mutter, sie werde ein drittes Kind aus China adoptieren, das widerspruchslos jederzeit übe, wann immer man es ihm befiehlt. Selbst solche Ausbrüche, die sich vom Tatbestand seelischer Grausamkeit kaum unterscheiden lassen, hält sie für gerechtfertigt: „Westliche Eltern sorgen sich oft um das Selbstwertgefühl ihrer Kinder. Dabei kann man doch nichts Destruktiveres für das Selbstwertgefühl eines Kindes tun, als zuzulassen, dass es aufgibt.“ In der eigenen Familie führen Chuas Methoden in einem Fall zum Erfolg: Die ältere Tochter tritt mit 14 als Pianistin in der Carnegie Hall auf. Im anderen Fall nicht: Die jüngere Tochter verweigert sich schließlich so konsequent, dass es die Familie zu zerreißen droht – bis sie mit 13 den Geigenunterricht aufgeben darf. Anfang Januar 2011 erschien das Buch in den USA und in Großbritannien, in dieser Woche liegt es auch in Deutschland vor. Das Interesse ist enorm. Gleich in der ersten Verkaufswoche sprang „Die Mutter des Erfolgs“ beim amerikanischen Internet-Versand Amazon auf die Liste der zehn meistverkauften Bücher. Doch die Kritik ist ebenso groß. Vor allem Psychologen betonen, wie viele Opfer solcher brachialer Erziehungsmethoden tagtäglich ihre Sprechzimmer füllen. Zum Erfolg von Chuas Buch trägt wohl auch dessen martialischer Originaltitel bei, der den Schlachtgesang der Tigermutter anstimmt: „Battle Hymn of the Tiger Mother“. Für amerikanische Leser liegt da die Assoziation zu den Tiger-Staaten Asiens und ihrem rapiden Wirtschaftswachstum nahe, die allmählich die USA in der Schatten zu stellen beginnen. Und etliche Amerikaner scheinen sich zu fragen, wie lange ein Land mit liberalen Erziehungsidealen dieser Konkurrenz noch gewachsen sein wird.

Der Artikel erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 24. Januar 2011

Amy Chua: „Die Mutter des Erfolgs“ Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte Verlag Nagel & Kimche, Zürich 256 Seiten, 19,90 Euro ISBN 978-3312004706

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Schriftsteller der Superlative

 Zum 100. Todestag von Leo Tolstoi: Daniel Kehlmann verrät, was er aus „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ gelernt hat

Uwe Wittstock: Tolstoi wird zu den größten Schriftstellern aller Zeiten gezählt. Was macht das Besondere seiner Bücher aus?
Daniel Kehlmann: Mit Superlativen muss man vorsichtig sein, sie machen kritische Leute zurecht misstrauisch. Aber hier ist der Superlativ angebracht. Es ist schwer zu sagen, was das Besondere seiner Bücher ausmacht. Denn zu jeder These, die man über ihn aufstellt, lässt sich eine Gegenthese formulieren, die genauso richtig ist. Elias Canetti schrieb, Tolstoi sei als Mensch vollständig gewesen: Er vereinigte in gewisser Weise alle denkbaren Eigenschaften in sich, auch die gegensätzlichsten. Das verschaffte ihm als Schriftsteller die Möglichkeit tatsächlich alles schildern zu können, was die menschliche Natur ausmacht. Er ist so der größte psychologische Realist geworden, den es bis heute gab. Zugleich experimentierte er aber auch mit immer neuen Formen: Bei ihm gibt es zum Beispiel inneren Monolog lange vor Joyce. Das Resultat ist überwältigend: Nachdem man „Krieg und Frieden“ gelesen hat, ist einem als hätte man zehn Jahre an Lebenserfahrung und Menschenkenntnis hinzugewonnen.
Wittstock: Die Figuren der Bücher Tolstois treten uns aus ihren Geschichten entgegen, wie lebendige Menschen, die wir lange schon zu kennen glauben. Wie kann ein Schriftstellen allein aus Worten auf dem Papier eine solche Wirkung erzeugen?
Kehlmann: Ja, das ist etwas Unglaubliches. Ich kenne das in diesem Ausmaß von keinem anderen Schriftsteller. Man beschäftigt sich wochenlang mit seinen Figuren, denkt über sie nach und versucht sie besser zu verstehen. Wie er das macht, ist ein Rätsel, das man wohl nie ganz durchschaut haben wird. Er ist einer der klarsten Schriftsteller, dennoch wird man mit seinen Figuren nie fertig. Die Erinnerung an sie verfolgt einen wie die Erinnerung an wichtige Begegnung mit realen Menschen.
Wittstock: Aber beruht diese psychologische Einfühlungskraft Tolstois nicht letztlich auf einer literarischen Illusion? In seiner Erzählung „Leinwandmesser“ beschreibt Tolstoi die Welt aus der Sicht eines Pferdes. Eine wunderbare Erzählung: Aber sie hat damit, wie ein Pferd die Welt erlebt, wohl nichts zu tun.
Kehlmann: Da bin ich nicht sicher. Vermutlich wird man nie wirklich wissen, wie ein Pferd denkt und fühlt. Aber wenn es je gelingen sollte, dann wird das Ergebnis vielleicht gar nicht so unähnlich zu dem sein, was Tolstoi uns in seiner Erzählung vorführt. Auch diese Geschichte ist beides zugleich: Ein gewagtes Experiment und ein Wunder an Einfühlungskraft.
Wittstock: Ist Tolstoi für Sie als Schriftsteller ein Vorbild?
Kehlmann: Ich würde mir nicht anmaßen zu behaupten, ich hätte jemals etwas geschrieben, dass Tolstoi als Vorbild gerecht wird. Aber man kann als Schriftsteller ungeheuer viel von ihm lernen. Vor allem Handwerkliches: Wie man möglichst knapp erzählt und Unwesentliches fortlässt. Wie man Metaphern einsetzt, ohne dass sie für den Leser aufdringlich werden. Wie man eine Szene aufbaut und jede Figur so sprechen lässt, wie es ihrem Charakter und ihrer sozialen Stellung entspricht. Viel wichtiger aber: Tolstoi erinnert einen daran, wie existentiell Literatur sein kann. Man bekommt noch in der kleinsten Erzählung Tolstois ein Gefühl für die Weite der Welt und den Reichtum der menschlichen Psyche. Man wird so unmittelbar in Berührung gesetzt mit existentiellen Grundtatsachen, mit dem Tod, mit der Unbeherrschbarkeit der Liebe, mit der Frage nach dem richtigen und falschen Leben, dass einem plötzlich der Großteil aller anderen Literatur – inklusive natürlich der eigenen – furchtbar unnotwendig vorkommt.
Wittstock: Hemingway sagte einmal, er habe Tolstoi gelesen, weil er ihn verehrte, aber auch, weil er wissen wollte, wen es für ihn zu „schlagen“, zu übertreffen galt. Ist das ein Ziel für einen Schriftsteller: Tolstoi übertreffen zu wollen?
Kehlmann: Es ist schon ein vermessenes Ziel, Tolstois Maßstäben gerecht zu werden. Selbst das wird man nie schaffen. Ich bewundere Hemingway, aber er hat Tolstoi nie in irgend etwas geschlagen.
Wittstock: Viele Klassiker der Moderne schreiben einen hochartifiziellen Stil. Der virtuosen Sprache wird in der modernen Literatur größte Bedeutung zugemessen. Tolstoi schreib dagegen eine ganz einfache, schlichte Sprache und erzielt dennoch atemberaubende Wirkung. War die Sprachfixiertheit der literarischen Moderne ein Irrweg?
Kehlmann: Das denke ich nicht. Nicht jede Literatur muss so sein wie die Tolstois. Das Schöne ist ja, dass die Literaturgeschichte immer wieder große Antipoden hervorbringt. Neben Tolstoi lebte eben auch Dostojewski, der viel irrationalere Vorstellungen verfolgte, viel ekstatischer schrieb, sich viel weniger um Perfektion und Ausgewogenheit scherte. Ähnlich die Klassiker der Moderne. Sie schrieben anders als Tolstoi, aber man kann sie nicht gegen ihn aufrechnen. Nebenbei: In Tolstois direkter, klarer Sprache steckt eine enorme Kunstleistung. Sein Stil kommt einem einfach vor, weil er bis in die feinsten Nuancen durchkomponiert ist. Tolstoi war ein sehr bewusster Stilist, „Anna Karenina“ ist eine der wenigen Romane der Weltliteratur, die einem fast ohne eine einzige stilistische Schwäche entgegentreten. Richtig ist: Er wollte von jedem verstanden werden und er hat so intensiv an jedem Satz gearbeitet, dass er dieses Ziel erreichte.
Wittstock: „Anna Karenina“ ist einer der schönsten Gesellschaftsromane aller Epochen. Lange hieß es, heute könnten keine Gesellschaftsromane mehr geschrieben werden, unsere Gesellschaft sei zu kompliziert und abstrakt für den Roman. Stimmt das? Kehlmann: Nein, das hat nie gestimmt. Tatsächlich gibt es aber wenige deutsche Gesellschaftsromane von hohem Rang. Das liegt auch daran, dass die deutsche Literatur, wie der Germanist Heinz Schlaffer einmal schrieb, nie sehr daran interessiert war, gesellschaftliche Realität einzufangen. Aus der protestantischen deutschen Tradition heraus richtete sich die Leidenschaft der deutschen Schriftsteller vor allem darauf, die Innenansicht, das Seelenleben einer einzelnen zentralen Haupfigur zu erforschen. Aber auch hier gilt wieder: Tolstoi macht beides zugleich. Er schildert uns die Gesellschaft um Anna Karenina, aber die Kapitel über ihren Antipoden Lewin sind voll von Intraspektion, moralischer Selbstbefragung und minutiöser Seelenerforschung.
Wittstock: Er war eben auch in diesem Punkt der „vollständige“ Schriftsteller.
Kehlmann: Ja, er vereinigte Eigenschaften, die sonst ganz unvereinbar sind. Er war ein Rationalist und ein religiöser Fanatiker. Er war ein großer Literat, der später die Literatur ablehnte. Er war ein Asket und zugleich eine barocke Natur mit ungeheuren Ausbrüchen von Leidenschaft. Er war ein Idealist und ein brutaler Egomane. Canetti schrieb, dass Tolstoi einen regelrecht entzwei reißt, weil jeder in ihm Dinge, die man bejaht, mit Dingen, die man radikal ablehnt, vereinigt findet. Die einzige Sache, die man sofort versteht, ist, warum Tolstoi unter diesen Voraussetzungen kein glücklicher Mensch sein konnte.
Wittstock: Wohl kein anderer Schriftsteller hat das Bild der Leser von Russland so geprägt wie Tolstoi. Millionen Menschen leben in der Vorstellung, durch ihn zu wissen, wie Russland war und vielleicht immer noch ist. Liegt in dieser ungeheuren Macht eines Schriftstellers nicht auch eine ungeheure Verantwortung?
Kehlmann: Ja, auf jeden Fall. Tolstoi war in seiner Zeit mehr als ein Romancier. Er hat seine Epoche geistig geprägt, wie vor ihm wohl nur Voltaire und nach ihm kein anderer Künstler mehr. Es gibt eine schöne Anekdote, die Erika Mann berichtet. Als 1914 die Nachricht vom Ausbruch des Krieges kam, sagte ihr Vater Thomas Mann: Wenn er noch leben würde – und es war klar, dass er damit Tolstoi meinte – wäre das nicht geschehen, „es hätte nicht gewagt zu geschehen“.
Wittstock: Zu der übergroßen Spannweite des Menschen Tolstoi gehört, dass nicht nur einer der großartigsten Schriftsteller war, sondern auch einer der anmaßendsten. Schon in seiner Jugend wollte Tolstoi so etwas wie ein Religionsstifter sein. Im Alter hat er Jünger um sich versammelt, die nach seinen 5 Geboten lebten und eine Art Sekte bildeten. Hatte Tolstoi jede Selbstkritik verloren und mit diesem missionarischen Eifer einen Teil seines Spätwerkes aus heutiger Sicht unlesbar gemacht?
Kehlmann: Unlesbar auf keinen Fall. Er hat seine Vorstellungen von Religion und moralischem Leben mit echtem Fanatismus betrieben und aus dieser Zeit stammen auch seine Verdammungsurteile gegen die Literatur. Aber sein später Roman „Auferstehung“ ist unglaublich gut. Er hat vielleicht nicht die gleiche Klasse wie „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“, aber welche Romane können denen schon das Wasser reichen. Das Buch hat grandiose satirische Passagen. Es gibt die Beschreibung einer orthodoxen Messfeier, die von solcher satirischen Schärfe ist, dass ihn die Kirche dafür exkommunizierte – völlig zurecht, denn wer das aufmerksam gelesen hat, kann kaum je wieder eine religiöse Kulthandlung ernst nehmen. Oder denken Sie an „Hadschi Murat“ eine Erzählung aus Tschetschenien, die plötzlich wieder so frei, offen und ohne jeden religiöse Besessenheit ist, wie seine besten frühen Geschichten. Auch das zeigt wieder die „Vollständigkeit“ dieses Künstlers: Selbst als er wie ein Ayatollah auftrat, konnte ihn noch sein literarisches Talent überwältigen.

Das Gespräch erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ am 15. November 2010

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Gefühlte Nähe

Harald Martenstein lässt in seinem Roman mehr als zwanzig Männer von derselben Frau erzählen

Zu niemandem ist unsere gefühlte Nähe so groß wie zu den Menschen, die wir lieben und die uns lieben. Wer also könnte genauer über uns Auskunft geben als sie? Man stelle sich vor: Eine Vollversammlung sämtlicher Liebhaber oder Liebhaberinnen, die je ein Stück Lebensweg mit uns gemeinsam gegangen sind oder mal mit uns unter einer Decke steckten – und einer nach dem anderen steht auf, erzählt von seinen Erfahrungen mit uns und versucht zu erklären, wer wir sind und wie wir sind. Ein Albtraum der Indiskretion? Sicher, kaum einem anderen Menschen gegenüber haben wir uns so schutzlos und verletzlich gezeigt wie ihnen. Aber Diskretion stand in der Literatur noch nie sonderlich hoch in Kurs. Ist dieses Szenario also ein literarischer Traum? Harald Martenstein hat es in seinem Roman „Gefühlte Nähe“ durchgespielt. Seine Heldin heißt N., sieht gut aus, ist intelligent und hat Spaß an Sex. Aber sie hat Pech mit den Männern: Der einzige, den sie je heiratete, noch sehr zu Anfang ihrer Liebeslaufbahn, hat während ihrer kurzen Ehe einer Musikerin zwei Kinder gemacht, bevor er beide Frauen sitzen ließ und unauffindbar verschwand. Davor und danach hat N. es nie länger als zwei, drei Jahre mit einem Liebhaber ausgehalten und es so auf eine stattliche Reihe von über zwanzig Ex-Freunden gebracht, die nun im Buch über die mit N. verbrachte Zeit Auskunft geben. Zu den Reizen des Romans gehört, dass es im Liebesleben heute – aber wohl nicht erst seit heute – recht kunterbunt und vielgestaltig zugehen kann. Martensteins Heldin hat da eine ganze Menge im Angebot: Einen One-Night-Stand mit einem Lehrer ein Jahr vor dem Abitur zum Beispiel oder auch mit einem über achtzigjährigen Schauspieler, dessen Autobiografie sie als Ghostwriterin schreiben soll. Als sie fürs Fernsehen zu arbeiten beginnt, kommen vor allem Affären mit Kollegen dazu, aber auch mit einem bisexuellen Fotograf oder einem Urlaubs-Gigolo. In jungen Jahren ist sie naiver, als man es ihr wünschen würde, später dann zynischer als es ihr gut tut. Mal spielen ihr die Männer übel mit, mal sie ihnen. Doch meist laufen ihr die Männer nach und trauern, wenn die Liebe wieder einmal nicht von Dauer war, noch lange um sie. Also, wer ist N.? Wie ist sie? Da alle ihre Affären scheitern, ist keiner ihrer Liebhaber sonderlich gut auf sie zu sprechen. Folglich erfahren wir nicht viel Herzwärmendes über sie. Schwierig, launisch und divenhaft wird sie genannt. Jede Form von Harmonie müsse sie zerstören, Machtproben mit dem jeweiligen Partner seien ihr Lebenselixier, Kritik könne sie nicht ertragen. Ihr Seelenleben ist offenbar so chaotisch wie die unaufgeräumten Wohnungen, in denen sie haust. Doch unterm Strich sind all diese abwertenden Urteile nicht recht glaubwürdig: Denn wäre N. tatsächlich so eine Nervensäge, wie ihre Ex-Freunde im Nachhinein behaupten – hätten sie sich dann nicht viel schneller und leichteren Herzens von ihr getrennt? Über irgendeine rätselhafte, nicht nur körperliche Anziehungskraft scheint sie zu verfügen, doch keiner versteht es, die überzeugend zu beschreiben. Nein, nüchtern betrachtet verraten die Männer in ihren Berichten mehr über sich selbst als über die Frau, die sie begehren. Im Scheitern ihrer Liebe lernen sie ihre Grenzen und damit sich selbst besser kennen, aber wenig über ihre Geliebte. Martenstein zeigt das mit beträchtlichem erzählerischem Geschick, auch wenn ein paar seiner Männer-Figuren etwas eindimensional geraten sind. Letztlich wird N. durch die Summe aller Indiskretionen nicht bloßgestellt, sondern nur noch geheimnisvoller. Kurz: Liebe ist ein schlechtes Mittel, andere kennen zu lernen, denn ihr ist zu viel Eigenliebe beigemengt. Schon deshalb macht sie blind. „Gefühlte Nähe“ ist eine schlechte Distanz, um Porträts zu zeichnen.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 4. September 2010

Harald Martenstein: „Gefühlte Nähe“. Roman
Verlag C. Bertelsmann, München 2010 222 S., 19,99 Euro. ISBN 978-3-570-10006-6

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