Jill und Jim

Philip Larkin und Kingsley Amis zeigen, wie tief die Kluft zwischen englischer und deutscher Literatur nach 1945 war   Oxford 1941: Zwei Studenten, beide 19 Jahre alt, begegnen sich zum ersten Mal. Nach einem mit dem Zeigefinger der rechten Hand angedeuteten Pistolenschuss greift sich der eine ohne Zögern an die Brust, verzerrt das Gesicht in Todesqualen, bricht zusammen, springt dann wieder auf und imitiert seinerseits Schussgeräusche, mal mit, mal ohne Querschläger. Der andere ist tief beeindruckt: „Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, mich in Gegenwart eines Talents zu befinden, das größer war als das meine.“ Eine etwas alberne Anekdote, zugegeben, aber sie gewinnt ihren Reiz durch die Tatsache, dass aus den beiden bald eng befreundeten Studenten die vielleicht einflussreichsten Schriftsteller der englischen Nachkriegsliteratur wurden: Philip Larkin (der Mann mit den ausgeprägten Empfinden für das eigene Talent) und Kingsley Amis (der Mann, mit der Begabung für Schussgeräusche). Philip Larkin (1922 – 1985) wollte Romancier werden und entwickelte sich zu einem der bedeutendsten und beliebtesten Lyriker des Landes. Kinsley Amis (1922 – 1995) begann mit Gedichten und wurde einer der wichtigsten und meistgelesenen Erzähler Englands. Auch wenn Larkin seinen Wohnort Hull später kaum je verließ, verloren sich die beiden zeitlebens nicht aus den Augen: Amis macht Larkin zum Paten seines ersten Sohnes Philip (der zweite Sohn Martin Amis gehört heute zu den prominentesten Schriftstellern des britischen Literaturbetriebs) und hielt 1985 die Grabrede auf Larkin. Ihre jeweils ersten Romane sind jetzt in deutscher Übersetzung erschienen und beide Bücher bieten nicht nur beträchtliches Lesevergnügen, sondern lassen zugleich erkennen, welche diametral entgegengesetzten Wege die Literatur in Deutschland und Großbritannien nach 1945 beschritt. Sowohl Larkin als auch Amis siedelten ihre Debüts im Universitäts-Milieu an. Die Hauptfigur aus Larkins Roman „Jill“ ist Student in Oxford und man spürt sofort die Atmosphäre der typisch englischen College- und Internatsgeschichten, von der noch heute J. K. Rowlings Harry-Potter-Bücher zehren. Der Held aus Amis’ Roman „Jim im Glück“ ist Assistent eines halb vertrottelten Professors an einer Provinz-Uni und man kann das Buch als einen der ersten Campus-Romane betrachten, wie sie bis heute David Lodge oder Alison Lurie schreiben und wie sie Dietrich Schwanitz in Deutschland heimisch zu machen versuchte. Larkin war das Opfer einer unerträglichen Kindheit: Sein Vater muss ein Monster an Pedanterie und seelischer Brutalität gewesen sein. Als hoher Beamter Coventrys sympathisierte er mit den Nazis (!). Zwar förderte er seinen Sohn Philip nach Kräften, verachtete aber Frau und Tochter offen und schuf in der Familie ein Klima von Kälte und Menschenfeindschaft. Wenn also Larkins erster Roman „Jill“ nicht gerade überbordet vor Lebenszuversicht, sollte das niemanden wundern. Sein Held Jack stammt aus einfachen Verhältnissen und kommt durch ein Stipendium an eine der traditionsreichen Schulen Oxfords. Dort bewundert er den sorglosen Snobismus seiner Mitschüler aus vermögendem Hause, doch die machen sich nur lustig über ihn. In seiner Not erfindet er sich eine Freundin, tauft sie Jill, schreibt sich selbst in ihrem Namen Briefe und führt für sie ein mädchenhaftes Tagebuch – bis ihm eine Schülerin namens Gillian begegnet, die der herbei phantasierten Jill bis aufs Haar gleicht. Das klingt zunächst wie der Entwurf zu einem Entwicklungsroman: Aus einem noch unsicheren jungen Mann wird nach Ablenkungen von außen (hochnäsige Mitschüler) und innen (ersehnter Geliebte) schließlich ein gefestigter Charakter mit Uni-Abschluss und Traumfrau Gillian. Doch so heiter und hoffnungsfroh geht es in Larkins literarischem Kosmos nicht zu: Sein anfangs so verzagter Hauptdarsteller ist auch am Ende verzagt und ob er sein Mädchen je bekommt, bleibt offen. 1947, nur ein Jahr nach „Jill“, veröffentlichte Larkin ein ähnlich gestrickten Roman „A Girl in Winter“: Hier ist es eine Bibliothekarin, die sich aus ihrem tristen Leben in die schwärmerische Erinnerung an einen Urlaubsflirt flüchtet, sich dadurch immer stärker isoliert und so in ihrem freudlosen Alltag steckenbleibt. Bei aller Ironie und erzählerischen Präzision Larkins, die seine Bücher zu einem intellektuellen Genuss machen, vermitteln sie einen recht skeptischen Blick auf die Glücksmöglichkeiten der unglücklich Geborenen. Schon der Titel „Jim im Glück“ verrät, dass es bei Kingsley Amis optimistischer zugeht. In England gilt sein Erstling als moderner Klassiker der komischen Romanliteratur. Amis hat ihn Larkin gewidmet und hatte Grund dazu: In den Briefen der beiden lässt sich nachlesen, mit welcher Sorgfalt und Ausdauer Larkin seinen Freund als – unbezahlter – Lektor bei der Arbeit an dem Manuskript beriet. Kingsley Amis stilisiert den Titelheld seines Buches nicht zum Waisenknabe: Jim hat spürbar mehr Interesse am Bier als an seiner wissenschaftlichen Arbeit und dazu ein beeindruckendes Talent, sich in sagenhaft peinliche Situationen zu bringen. Komisch wird die Geschichte nicht zuletzt deshalb, weil Amis das alte universitäre Machtgefälle zwischen Lehrstuhlinhabern und ihren Assistenten mit gnadenloser Offenheit beschreibt. Jim wird von seinem Professor rücksichtslos für dessen schrullige Hobbys eingespannt und Jim antwortet darauf mit einem mühsam verborgenen, flammenden Hass, dem er durch groteske Ersatzhandlungen heimlich Luft macht. In einem Punkt sind sich beide Romane auffällig ähnlich: Die Figuren orientieren sich in Liebesdingen nicht an ihren Leidenschaften, sondern an Konventionen: Sie tun, was ihnen – angeblich – die Situation diktiert, anstatt den eigenen Impulsen zu folgen. Larkins Held droht darüber seine große Liebe zu versäumen und Amis’ Held besinnt sich erst im letzten Moment eines besseren. Von derart wohlerzogenen Rücksichten hielten diese beiden Schriftsteller rein gar nichts, sie gaben keinen Pfifferling auf den so genannten Guten Ton: Larkin inszenierte sich lustvoll als verbohrter Einsiedler und Menschenfeind, Amis machte nie ein Geheimnis aus seinem ausgeprägten Bedürfnis nach Alkohol und Sex. Gleiches galt für sie ebenso in literarischen Fragen, auch hier gaben sie nicht viel auf den Guten Ton ihrer Zeit. Denn die stand ganz im Zeichen einer Moderne, wie sie von Avantgardisten wie Ezra Pound, James Joyce oder T. S. Eliot in der ersten Jahrhunderthälfte geprägt worden war. Die universitäre Welt, der auch Larkin und Amis entstammten, lag dieser hochgradig verschlüsselten und kommentierungsbedürftigen Literatur zu Füßen. Doch die beiden hatten nur Spott und Verachtung für sie übrig – und waren nicht nur beim Publikum, sondern auch bei vielen Kritikern erfolgreich damit. Larkin verkündete das „Pleasure Principle“, also das Spaß- und Genussprinzip der Poesie und gewann Zehn-, ja Hunderttausende von Lesern für seine keineswegs gefälligen, immer aber allgemeinverständlichen Gedichte. Amis wiederum war sich als anerkannter Romancier nicht zu schade, Science Fiction-Stories oder nach dem Tod von Ian Fleming einen Fortsetzungsband für dessen James-Bond-Serie zu schreiben. Schon weil die Nazis die literarische Moderne verfolgt und verboten hatten, war sie in Deutschland in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nahezu sakrosankt. In England dagegen wirkte sie eher wie ein angestaubtes Relikt der Vorkriegsjahre, wie ein kulturelles Highbrow-Überbleibsel der alten Klassengesellschaft, die mit dem Kriegsende endlich überwunden werden sollte. Larkin und Amis waren Orientierungsfiguren dieser Rebellion gegen ein allzu akademisches Verständnis von Literatur. Larkin schrieb damals: „Wenn ein Dichter das Publikum verliert, das aus Vergnügen liest, hat er das einzige Publikum verloren, das zählt.“ In Deutschland hätte sich ein Autor mit solchen Sätzen schnell ins Abseits manövriert. In England stiegen Larkin und Amis zu den höchsten Ehren ihres Landes auf.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 3. Juli 2010

Philip Larkin: „Jill“. Roman
Deutsch von Steffen Jacobs Haffmans Verlag bei 2001, Berlin 398 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-942048-11-1
Kingsley Amis: „Jim im Glück“. Roman
Deutsch von Steffen Jacobs Haffmans Verlag bei 2001, Berlin
416 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-942048-10-1
Beide Bände zusammen 36,80 €

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