Christa Wolf denkt in Los Angeles nach über Christa Wolf Christa Wolf kann Jubiläum feiern. Seit jetzt fünfzig Jahren publiziert sie Romane, Erzählungen, Prosa. Sie ist eine der berühmtesten Autorinnen deutscher Sprache, man kennt ihre Stimme, man kennt ihren Ton. Ihr neues Buch „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ hält da wenig Überraschung bereit. Frei nach Amazon: Wer die früheren Bücher von Christa Wolf mochte, wird auch dieses Buch mögen. Und umgekehrt. Die Zahl ihrer Anhänger ist groß, die Zahl ihrer Gegner nicht minder. Was die Arbeit dieser Autorin angeht, scheinen alle Argumente ausgetauscht, seit sich Anfang der neunziger Jahre an ihrer Erzählung „Was bleibt“ die erste große Literaturdebatte des wiedervereinigten Deutschland entzündete. Von der Zeit kurz danach handelt „Stadt der Engel“. Im Mai 1992 hatte Christa Wolf in der Gauck-Behörde 42 Ordner eingesehen, die von der Stasi angelegt worden waren über die Versuche, sie in der DDR-Zeit auszuspionieren: ihre Opfer-Akten. Danach legte ihr die zuständige Mitarbeiterin, entgegen der Regeln der Behörde, einen schmalen Hefter mit Unterlagen vor, in der sie dreißig Jahre zuvor unter dem Decknamen „Margarete“ als Spitzel geführt worden war: ihre Täter-Akte. Eine Verpflichtungserklärung gab es nicht, ihre Berichte enthielten fast nur Banalitäten. Nach eigenen Auskünften war diese Entdeckung für sie ein Schock, sie hatte die kurze Affäre verdrängt. Schon nach ihrer Erzählung „Was bleibt“ hatte man sie für ihre Staatsnähe in den Jahren des DDR-Regimes angegriffen. Mit welchen Kommentaren sie zu rechnen hatte, sobald diese Täter-Akte bekannt wurde, lag auf der Hand. Wohl auch deshalb nahm sie im September 1992 die Einladung des Getty-Centers in Los Angeles zu einem neunmonatigen Aufenthalt an: Eine Flucht vor dem sich zusammenbrauenden publizistischen Sturm. Im Januar 1993, also lange nachdem man ihr ihre alten Spitzelberichte vertraulich vorgelegt hatte, machte sie von Kalifornien aus in einem Zeitungsartikel ihre Stasi-Episode öffentlich. Natürlich kann man mit einigem Recht die Frage stellen, ob es literarisch klug ist, einen solchen Stoff zu wählen. Ein Fall wie dieser schreit nach eine objektiven, faktenbetonten Darstellung durch einen neutralen Historiker oder Biographen. Aber neutral ist Christa Wolf in eigener Sache nicht. Also muss sich niemand wundern, wenn sich „Stadt der Engel“ über weite Strecken wie eine bemühte, mit vielen Zweifeln am eigenen Gedächtnis und mit mehr als nur einer Prise Selbstmitleid gewürzte Rechtfertigungsschrift liest. Doch auf Objektivität zielt Christa Wolf hier nicht. Schon seit Ende der sechziger Jahre verfolgt sie in etlichen ihrer Bücher ein Programm, das sie selbst „subjektive Authentizität“ getauft hat. Dabei geht es ihr nicht darum, Figuren und eine Fabel zu erfinden – wie sie es in „Kein Ort, nirgends“ oder „Kassandra“ tat – sondern um eine Art Selbstversuch mit erzählerischen Mitteln: Der Schriftsteller macht sich selbst zur Forschungsgegenstand mit all seinen Erfahrungen, Erinnerungen, Reflektionen, Träumen und bietet sich als öffentliches Fallbeispiel gesellschaftlicher Entwicklungen an. Wer kein großer Bewunderer Christa Wolfs ist, wird das eine ziemlich privatistische, innerlichkeitstrunkene Poetik nennen und Bücher wie „Störfall“ oder „Sommerstück“ als unerträglich selbstbezogene Belanglosigkeiten abtun. Andererseits hat sie, diesem Programm folgend, mit „Nachdenken über Christa T.“ oder „Leibhaftig“ auch sehr beeindruckende Arbeiten abgeliefert. Mit „Stadt der Engel“ variiert Christa Wolf diese Poetik. Dafür gibt es gleich zu Anfang zwei Hinweise. Zum einen die Erklärung, die Figuren des Buches seien, von historischen Persönlichkeiten abgesehen, frei erfunden. Zum anderen stellt sie ein Motto von E.L. Doctorow voran: „Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller einfangen.“ Zu den Tricks des Romanciers Doctorow gehört es nicht zuletzt, manche seiner Gesichten als Tatsachenberichte auszugeben, den Lesern zugleich aber anzudeuten, dass sie auf gefälschten Dokumenten beruhen, letztlich also ihre Glaubwürdigkeit nur vortäuschen. Wer Christa Wolfs jüngstes Werk als authentischen Bericht über ihre Krisen-Monate in Los Angeles, der Stadt der Engel, lesen möchte, tut das folglich auf eigene Gefahr. Das Buch hält sich alle Möglichkeiten der Fiktion offen und dennoch den Bekenntnis-Tonfall der „subjektiven Authentizität“ bei. Man kann das als reizvolles erzähltechnisches Verfahren mit spielerisch postmodernen Zügen betrachten. Doch macht das die Geschichte, die sich so eng an die Biographie Christa Wolfs anschmiegt, seltsam unverbindlich, da im Zweifelsfalle alles eben doch als literarische Erfindung ausgegeben werden kann. Sicher, Christa Wolfs Ton des emphatischen Nachsinnens und Beschwörens der Erinnerungen findet bereits seit vielen Jahren eine große Leser-Gemeinde. Doch ist es deshalb falsch, auf die fast vollständige Abwesenheit von Witz in der Prosa Christa Wolfs hinzuweisen? Gemeint ist damit nicht der Witz als unterhaltsame Pointe, sondern im Sinne vergangener Jahrhunderte als ein Esprit, der mit wenigen Worten überraschende, neue Einsichten vermittelt. Selbstverständlich hat Christa Wolf alles Recht der Welt, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die ihr seinerzeit wegen ihrer stark angestaubten „Margarete“-Akte gemacht wurden. Aber muss sie das mit derart absehbaren, abgegriffenen Argumenten tun? Auch was sie über ihren Zufluchtsort Kalifornien oder über die Wiedervereinigung zu sagen hat, war schon so oft zu lesen, dass die Frage gestattet sein muss, ob es wirklich nötig war, das noch einmal auf über 400 Seiten aufzuschreiben. Bei einem Thema allerdings läuft Christa Wolf zu großer Form auf: Mit Leidenschaft berichtet sie von der heroischen Frühzeit des Sozialismus auf deutschen Boden. Wohl nicht zuletzt weil sie derzeit in der deutschen Geschichtspolitik eine denkbar kleine Rolle spielen, erinnert sie an Menschen, die sich mit Idealismus und Selbstverleugnung für den Aufbau einer angeblich besseren Gesellschaftsordnung einsetzten – und dafür nicht nur vom Schicksal, sondern oft auch von ihrer eigenen Partei brutal bestraft wurden. Brecht ist hier einer ihrer meistzitierten Gewährsmänner. Vergleichbare Helden- und Märtyrer-Geschichten lassen sich aus unserer Gegenwart kaum erzählen. Wer opfert sich schon uneigennützig auf für das Gedeihen der kapitalistischen Gesellschaft? Doch wie heißt es im „Galilei“ von Brecht: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“
Die Rezension erschien in der „Welt am Sonntag“ vom 13. Juni 2010
Christa Wolf „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 415 Seiten, 24,80 € ISBN3-518-42050-8