Brigitta Eisenreich erzählt von ihrer geheimen Liebe mit dem Dichter und Verführer Paul Celan
Das Zentralgestirn dieses Buches heißt Paul Celan. Kaum ein Satz, der nicht auf ihn oder sein Werk zielte. Aber dennoch ist es nicht Celan, der den stärksten Eindruck hinterlässt, sondern der Trabant, der um das Gestirn kreist. Dieser Trabant trägt den Namen Brigitta Eisenreich und ist heute 81 Jahre alt. Von 1953 bis 1962 hatte Brigitta Eisenreich in Paris ein Verhältnis mit Celan und als ihr Jahrzehnte nach seinem Tod klar wurde, dass im Deutschen Literaturarchiv zusammen mit dem Nachlass Celans Briefe und Gedichte von ihr aus jener Zeit verwahrt werden, entschloss sie sich, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Sie selbst nennt ihr Buch nüchtern „Bericht“, doch es ist weit mehr als das: Es ist die Geschichte einer außerordentlichen Liebe und vor allem die Geschichte einer klugen, furchtlosen, großmütigen Geliebten. Damit kein falscher Eindruck entsteht: An keiner Stelle spielt sich Brigitta Eisenreich unangemessen in den Vordergrund, sie hat nahezu jeden Anflug von Eitelkeit aus ihren Erinnerungen getilgt. Wer sentimentale Plaudereien, wer wortreich beschworene Liebesstürme oder nachträgliche Klagelieder über das Los der verheimlichten Geliebten erwartet, wird in diesem Buch nicht auf seine Kosten kommen. Das Auf und Ab der eigenen Gefühle erwähnt Brigitta Eisenreich, die Celan konsequent in den Mittelpunkt stellt, allenfalls am Rande. Oft genug lässt es sich nur aus Andeutungen erschließen. Doch das macht ihre Rolle in diesen Erinnerungen umso eindrucksvoller und stellt Celan, auf den sie alle Aufmerksamkeit zu lenken sich bemüht, schließlich in den Schatten. In der Celan-Forschung, die jeden Stein im Leben ihres Dichters gleich mehrfach umdreht, war bislang wenig über Brigitta Eisenreich zu erfahren. Die Biographen erwähnen sie mit keiner Zeile. Ende 1960 hatte sie einen Leserbrief konzipiert, mit dem sie Celan gegen den hanebüchnen Vorwurf, er habe Verszeilen Ivan Golls in seinen Gedichten plagiiert, in Schutz nahm. Dieser Leserbrief wurde nie gedruckt, ging aber in die umfangreiche Dokumentation zur „Goll-Affäre“ von Barbara Wiedemann ein. Viel mehr war über diese Frau, die manches Geheimnis mit einem der wichtigsten Dichter der deutschen Nachkriegsliteratur teilte, bislang nicht bekannt. Es muss eine jener fabelhaft beschwingten Pariser Sommernächte gewesen sein, in der sich Brigitta Eisenreich und Paul Celan kennen lernten. Sie war 23 Jahre alt, Österreicherin, verdiente sich ihr Studium als Au-Pair-Mädchen und war oft einsam in der großen, fremden Stadt. Ihr Bruder, der Schriftsteller Herbert Eisenreich (1925 – 1986), besuchte sie im Juni 1952. Er war Celan kurz zuvor bei einer Tagung der Gruppe 47 begegnet und versprach ihr, sie „mit jemand durchaus Besonderem“ bekannt zu machen. Einen Abend lang führte Celan die beiden aus, zeigte ihnen seine Lieblingsplätze im Quartier latin und präsentierte sich von seiner charmantesten Seite. „Er war ein Dichter“, schreibt Brigitta Eisenreich heute, „aber auch, das steht außer Zweifel, zu jeder Zeit ein Verführer, mit einem feststehenden Repertorium an Zauberkünsten.“ Zunächst blieb es bei einem losen Kontakt, Celan, damals 32 Jahre alt, stellte ihr seine Verlobte Gisèle Lestrange vor, die er im Winter 1952 heiratete. Doch eines Abends im Herbst 1953 hörte Brigitta Eisenreich jemanden unter dem Fenster ihres Zimmers ein Motiv aus Schuberts „Unvollendeter“ pfeifen. Sie erkannte Celan, öffnete ihm und war sich sofort klar, „dass ich in etwas Schweres hineinging“. Der Beginn der Liaison zwischen beiden fiel in eine für Celan bittere Zeit: Sein erster Sohn François war wenige Stunden nach der Geburt gestorben. Die enorme Verständnisbereitschaft Brigitta Eisenreichs für den trauernden Dichter und den Mann verrät ihr illusionsloser Satz: „Auf Celans zu diesem Zeitpunkt zwangsläufig einsamen Wanderungen durch die Stadt lag ihm meine Wohnstätte, wenn ich so sagen darf, gewissermaßen als Trost- und Haltestelle am Weg.“ Zurückhaltender kann man die eigene Rolle im Leben eines Geliebten kaum beschreiben und mitfühlender die Tatsache, dass Celan seine Frau nur ein Jahr nach der Hochzeit und weniger Tage nach Tod des ersten Kinds hinterging, nicht akzeptieren. Brigitta Eisenreich hielt ihrer beider Liebe von Beginn an frei von Besitzansprüchen und engherzigen Moralvorstellungen. Sie schuf Celan so in ihrem Studentenzimmer eine Zuflucht von fast paradiesischer Unschuld, die unbeschwert blieb von allen Verpflichtungen. Nicht einmal an Liebesäußerungen kann sie sich aus dieser Anfangszeit erinnern, wohl aber an Celans Verwirrung über die Intensität seiner Lust: „Mir war bewusst, dass die starke physische Anziehung, die Celan für mich empfand, ihn beunruhigte.“ Ganz falsch wäre es, sich Brigitta Eisenreich als ein entsagungsvoll auf ihren Liebhaber wartendes Mauerblümchen vorzustellen. Sie war eine rotblonde Schönheit, lebte ein sehr selbstständiges Leben, arbeitete viel, reiste kreuz und quer durch Europa, trieb ihr Studium voran und übernahm später als Ethnologin im Wissenschaftsbetrieb Frankreichs wichtige Funktionen. Doch bei all dem reservierte sie Celan einen Platz in ihrem Herzen. „Du meine Weiße“ nannte er sie, „Du meine Freiheit“ und „Königin“. Wenn er sie besuchte, hörten sie Musik, sangen zusammen(!), sprachen über Literatur und nicht zuletzt über Celans Gedichte. Als Dichter deutscher Sprache fehlte Celan in Paris das alltägliche Bad im gesprochenen Deutsch. „Zu mir kam er wohl auch“, resümiert Brigitta Eisenreich, „und vielleicht sogar in erster Linie, um für dieses Fehlende einen Ersatz zu finden.“ Der Preis, den sie dafür zahlen musste, war nicht klein. Ende 1955 wurde sie schwanger. Da Celan verheiratet und sie beruflich völlig ungesichert war, blieb nur eine Abtreibung. Celan beschaffte das Geld, Brigitta Eisenreich fuhr allein nach Berlin in eine Klinik und nach dem Eingriff allein wieder zurück. Später zeigte sich Celan allerdings von einer wenig ritterlichen Seite und fragte sie, ob jenes nie geborene Kind tatsächlich von ihm gewesen sei. Doch selbst dafür setzt ihn Brigitta Eisenreich in ihrem Buch nicht auf die Anklagebank. Am deutlichsten wird die besondere Zuneigung, die sie sich für Celan bis heute bewahrt hat, wenn sie Indizien dafür anführt, dass er seiner Frau Gisèle innerlich auf seine Weise trotz allem die Treue gehalten habe. Brigitta Eisenreich war klar und sie akzeptierte, dass sie in Celans Leben nicht zu den Hauptpersonen gehörte, sondern eine – gern besuchte – Randfigur blieb. Ab einem bestimmten Zeitpunkt spielte Celan, dem als Dichter nichts so sehr verhasst war wie die Lüge, seiner Frau gegenüber mit offeneren Karten: Er gestand ihr das Wiederaufflammen seiner Affäre mit Ingeborg Bachmann 1957 ein und bald darauf offenbar auch die Beziehung zu Brigitta Eisenreich (was er der allerdings lange verschwieg). 1961 versuchte er sogar zwischen beiden ein Verhältnis wie zwischen „Schwestern“ zu stiften und arrangierte zwei Abendessen zu dritt – doch die beiden Frauen blieben distanziert. Hans-Georg Gadamer schrieb einmal, dass „uns manches Gedicht Celans erst dann aufgehen wird“, wenn uns „aus der Kenntnis von Freunden“ dieses Autors neue Informationen über ihn „zugeflossen sind“. Schon allein in diesem Sinne ist Brigitta Eisenreichs Buch eine unerhörte Fundgrube. Natürlich wird nicht jeder Celan-Leser einverstanden sein, wenn Brigitta Eisenreich in manchen Gedichten Hinweise auf ihre mit Celan verbrachte Zeit zu entdecken glaubt. Doch das macht nichts, der Celan-Interpret, mit dem die ganze Celan-Gemeinde einverstanden wäre, muss erst noch geboren werden. Abgesehen davon sind diese Aufzeichnungen ein unvergleichlicher Schatz für jeden, der sich ein Bild davon machen will, was für ein Mensch dieser Dichter war. Das betrifft keineswegs nur sein Liebesleben. Brigitta Eisenreichs Erinnerungen bestätigen noch einmal, welche katastrophale Wirkung die „Goll-Affäre“ auf Celan hatte. Die Verfolgungsängste aus der Nazi-Zeit, in der seine Eltern ermordet und er selbst in ein Arbeitslager verschleppt worden war, brachen wieder auf. Die Sprache war für den Heimatlosen nach dem Krieg zu einer letzten, innersten Freistatt geworden. Doch gerade aus ihr musste er sich durch die Behauptung, er sei ein Plagiator Ivan Golls, vertrieben fühlen. Er reagierte mit aggressivem Misstrauen auch gegen Freunde, auch gegen Brigitta Eisenreich. Was ihn für sie liebenswert machte, verschwand, er „wurde fordernd und fast gewalttätig“. Er ließ sie oft lange ohne Nachricht, stand dann „mit einer halbgeleerten Flasche Cognac“ vor ihrer Tür und machte ihr Eifersuchtsszenen. Nach ein, zwei ratlosen Jahren trennte sie sich 1962 von ihm. Celan fand aus seiner Krise nie wieder heraus, griff seine Frau mit einem Messer an und verbrachte viele Monate in psychiatrischen Kliniken. Im Jahr nach der Trennung heiratete Brigitta Eisenreich einen Österreicher und bekam eine Tochter. Sie blieben in Frankreich, doch in den ersten ruhelosen Jahren war die kleine Familie zu vielen Umzügen gezwungen. Als Brigitta Eisenreich im November 1969 Celan ein letztes Mal traf, aus Zufall, wohnte sie in Thiais im Süden von Paris. Einige Monate später schickte ihre Mutter ihr aus Österreich eine Zeitungsmeldung vom Selbstmord Paul Celans. Er war, ohne dass sie es ahnte, ganz in ihrer Nähe auf dem Friedhof von Thiais begraben worden.
Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 22. Mai 2010
Brigitta Eisenreich: „Celans Kreidestern.“ Ein Bericht
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 266 Seiten, 22,80 € ISBN 978-3-518-42147-5