Mit Adorno bei Starbucks

In Philipp Tinglers Roman „Doktor Phil“ trifft der Teufel auf eine höllisch oberflächliche Gesellschaft

Wie geht es eigentlich den Reichen und Schönheitsoperierten? Was tut sich so in der Welt der Fashion Shows und Botox-Injektionen? In der deutschen Gegenwartsliteratur erfuhr man bislang ja so gut wie nichts über ein Milieu, das Donatella Versace zu seinen festen Referenzgrößen zählt. Doch wer auch hier auf dem Laufenden bleiben möchte, ist nun nicht mehr auf bilderreiche und textarme Fachorgane wie „Gala“ oder „Glamour“ angewiesen. Er kann sich vielmehr dem brillanten Roman „Doktor Phil“ des 1970 in Berlin geborenen und in Zürich lebenden Philipp Tingler anvertrauen. Ein sprachmächtiges, erfrischend lebendiges und dazu sehr komisches Meisterstück, das eine der großen Traditionslinien der deutschen Literatur intelligent fortschreibt. Der Held der Geschichte heißt Canow, lebt in Zürich und ist Schriftsteller. Allerdings hat er für den Literaturbetrieb wenig übrig. Er hasst Cordhosen, Rotweinnasen und das eifersüchtige Gerangel um die vergleichsweise dürftigen Plätzchen an der Sonne, die das Buchgewerbe zu bieten hat. Zu seinen bevorzugten gesellschaftlichen Weidegründen zählen stattdessen die Treffs der materiell Gesegneten und geistig völlig Uninteressierten. Über deren Oberflächlichkeit, Selbstsucht und Brutalität macht er sich keine Illusionen. Auch unter ihnen empfindet er sich als Außenseiter. Aber diese Rolle betrachtet er für sich als Schriftsteller als die angemessene, und sieht in der angeblich bessere Gesellschaft mit ihrem eklatanten Mangel an Moral und Verantwortungsgefühl ein vorzügliches künstlerisches Forschungsfeld: „Ich beobachte sie, ich schöpfe aus ihr. Ich studiere an ihr das Menschliche.“ Eines Abends, Canows Frau ist gerade aus dem Haus, klingelt es. Canow öffnet und der Teufel steht vor der Tür. Zunächst kommt es zu Verwirrungen, denn der Leibhaftige hat die Gestalt des reichlich verknitterten italienischen Modeschöpfers Roberto Cavalli angenommen. Doch gibt sich Satan schnell zu erkennen und schlägt Canow – wie einst einem Forscher namens Faust und später einem Tonsetzer namens Adrian Leverkühn – einen waschechten Teufelspakt vor: Er offeriert Canow ein angenehmes Auskommen, unbeschwerte Schaffenskraft ohne irgendwelche Selbstzweifel und alle literarische Anerkennung, die er sich wünscht. Im Gegenzug muss Canow nicht einmal seine Seele verpfänden (eine Zusage, an der allerdings bald Zweifel auftauchen), sondern soll sich lediglich das Datum seines Todes nennen lassen. Das klingt im ersten Moment nach einem höllisch günstigen Angebot. Aber Canow zögert und deshalb bietet ihm der Teufel bei einem zweiten Treffen, zu dem er in der Gestalt von Theodor W. Adorno erscheint, einen zeitlich begrenzten Probelauf an. Doch auch der kann Canow nicht verführen, denn er genießt ohnehin ein beneidenswert angenehmes Leben: „Ich bin ein Glückskind. Was brauche ich den Teufel?“ Tingler hat sich für sein alter ego eine Schriftstellerexistenz mit Villa, Privatsekretärin und Personal Trainer herbeigeträumt – in der allerdings auch permanent überzogene Kreditkarten eine wichtige Rolle spielen. Doch es ist nicht allein der Wohlstand, der Canows Widerwillen gegen den Teufel nährt, sondern ebenso der Stolz auf sein bislang selbst gestaltetes Leben: Die Vorstellung, jenseitige Mächte könnten in sein Schicksal eingreifen, verschreckt ihn eher, als dass sie ihn verlockt. Die Parallelen, aber auch die Gegensätze zu Thomas Manns „Doktor Faustus“ liegen auf der Hand. Tingler hat sie mit wörtlichen Übernahmen aus diesem und anderen Büchern Manns (aber auch von Goethe, Rilke oder Coco Chanel) noch unterstrichen. Doch selbst wenn er sich hier ohne Anführungszeichen und Fußnoten fremder Textbruchstücke bemächtigt hat, kann man zur Beruhigung der in diesen Fragen aktuell so erhitzten Gemüter gleich hinzufügen: Es handelt sich in diesem Fall nicht um Plagiate, sondern um verdeckte Zitate, also Anspielungen, mit denen Gedanken literarischer Vorgänger aufgenommen werden, um sie weiterzuführen. So zeigt auch in „Doktor Faustus“ der Teufel vorübergehend auffällige Ähnlichkeit mit Adorno – worin man eine ziemlich undankbare Neckerei Thomas Manns sehen muss, denn er ließ sich von Adorno für seinen Roman in musikalischen Fragen ausführlich beraten. Zur sarkastischen Pointe wird das gleiche Motiv, wenn Tingler in seinem Roman den Teufel aus Tarnungsgründen als Adorno auftreten lässt: Der Philosoph sei inzwischen derart „aus der Mode“, behauptet der Höllenfürst, dass ihn in dessen Gestalt garantiert niemand mehr erkenne – zumal bei Starbucks auf Zürichs Bahnhofstraße. Der Kontrast zwischen einer so pathetischen Erscheinung wie dem Leibhaftigen höchstpersönlich und dem betont trivialen Milieu, in dem sich Canow bewegt, sorgt für fabelhaft komische Effekte. Tingler schreibt Screwball-Dialoge von bewundernswerter Pointendichte und versteht zugleich, sie zwanglos mit kunsttheoretischen Erörterungen à la Thomas Mann zu verschmelzen. Er hat ein genaues Ohr für Party-Smalltalk und für das, was die Leute sagen, wenn sie eigentlich nichts zu sagen haben. Aber er hat auch einen sicheren Blick für die Hilflosigkeiten, die sich hinter solchem Gebrabbel verbergen. Leider setzt Tingler sein großartiges Talent zum spöttischen Aperçu auch gezielt ein gegen einige leicht erkennbare Akteure unseres Literaturbetriebs, die sich des unverzeihlichen Vergehens schuldig gemacht haben, frühere Bücher Tinglers nicht zu loben. Hier bekommt sein ansonsten so übermütig kluger Roman gelegentlich einen etwas kleinlichen, rachsüchtigen Zug. Die Pointe des Buches ist, dass der Teufel in einer Zeit, die ohnehin nicht mehr daran glaubt, irgendetwas könnte Welt oder Kunst im Innersten zusammenhalten, tatsächlich nur noch wenig zu bieten hat: Jede fundamentale Ordnungsidee, die für alle verpflichtend wäre, würde viel eher als diktatorische Zumutung denn als erlösende Weltformel empfunden. Thomas Manns Teufel konnte noch mit Adrian Leverkühns modernistischen Glauben an einen unerbittlichen künstlerischen Fortschritt (hin zur Zwölftontechnik) rechnen. Tinglers armer Teufel trifft dagegen auf einen abgebrühten postmodernen Schriftsteller, der solchen Fortschritts-Zwängen längst abgeschworen hat und unbekümmert auf seine persönlichen Vorlieben und Fähigkeiten vertraut. Doch es wäre falsch, den Eindruck zu erwecken, in diesem Buch würden vor allem Themen aus dem philosophischen Seminar verhandelt. Es ist vielmehr ein rasanter Gesellschafts- und Künstlerroman auf der Grenze zur Gesellschafts- und Künstlerkomödie. Tingler lässt seinen Helden dabei keineswegs ungeschoren davonkommen: Die Hohlheit des Milieus, in dem er sich bewegt, färbt durchaus auf ihn ab: „Canow war vertraut mit diesen Leuten und ihren Ansichten, sie nahmen ihn als einen der Ihren an, und er unterstellte ihnen, dass sie sich dabei irrten. Doch ohne Widerwillen meinte er zu spüren, wie sich die Ideen der Gesellschaft an ihn heranstahlen, verlockend und verpflichtend, wie er zur Akzeptanz ihrer Urteile neigte und zur Verneinung der Dinge, an die sie nicht glaubte, wie denn überhaupt die Negation eventuell die höchste Qualität dieser Menschen war: ihr Vermögen, Anderes, Fremdes durch schliche Nichtbeachtung inexistent werden zu lassen.“ Manch einer, der Manns „Doktor Faustus“ um seiner intellektuellen und formalen Geschlossenheit willen liebt, könnte über Tinglers „Doktor Phil“ möglicherweise enttäuscht sein. Denn dieser Roman gestattet sich kurze Abschweifungen, unverwobene Erzählfäden und dann und wann ein kleines blindes Motiv. Doch wäre es voreilig, das dem vermeintlich mangelnden Können dieses hochbegabten Autors anlasten zu wollen. „Denn die Sicherheit der Form“, sagt die bemerkenswerte Ehefrau Canows, „ist die Sicherheit des Todes.“ Statt in der Perfektion der Konstruktion schwelgt dieser Roman in der überwältigenden Vielfalt sehr gegenwärtiger Gesellschaftsphänomene. Ein sagenhaftes Vergnügen, und lehrreich obendrein.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 27. März 2010

Philipp Tingler: „Doktor Phil“. Roman Verlag Kein & Aber, Zürich 2010 351 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-0369-5557-5

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