Die Haut ist klüger als der Kopf

Im „Streichelinstitut“ von Clemens Berger vergrößern Fingerspitzen das Glück der Welt

„Schön war die Welt, in der alle alles gern taten und dabei pfiffen und lächelten und sich artig verbeugten!“ Sebastian hat diese weichgespülte Utopie für sich persönlich wahr gemacht. Er studiert Philosophie in Wien, und zwar gern. Aber er achtet gewissenhaft darauf, diese Beschäftigung nicht in Mühsal oder gar Arbeit ausarten zu lassen, weil ihm dann das Pfeifen und Lächeln verginge. Also verbringt er den größten Teil seiner Zeit nicht am Schreibtisch, sondern beim Plaudern mit Freunden in Kneipen und Kaffeehäuser, oder noch lieber in Straßencafés, wo ihn der Sonnenschein verwöhnt. Aber dann kommt Anna. Anna ist Dozentin des Instituts, an dem Sebastian studiert, wenn er nicht gerade im Sonnenschein pfeift und lächelt. Die beiden verlieben sich, werden ein Paar und Sebastian, der Lebensgenießer, muss einsehen, wie sehr Anna zu seinem Glück beiträgt. Doch Anna macht ihm klar, dass er, wenn sie ein Paar bleiben sollen, sich etwas einfallen lassen muss, um seinen weiteren Lebensunterhalt zu finanzieren. Aber was? Sebastian macht sich über seine Chancen auf den Arbeitsmarkt keine Illusionen: „Die einen Philosophiestudenten wurden Taxifahrer, die anderen landeten in der Psychiatrie, manche gingen in die Marktforschung.“ Der Erzähler und Stückeschreiber Clemens Berger hat selbst einmal in Wien Philosophie studierte, aber inzwischen im Alter von nur 30 Jahren bereits drei Romane, zwei Theaterstücke und zwei Erzählungsbände vorzuweisen. Vermutlich sitzt er also seltener lächelnd in der Sonne als sein Held Sebastian. Er hat aus ihm einen sympathischen Taugenichts gemacht, der über die Weltrevolution räsoniert, aber im Grunde nicht Politik, sondern Frauen im Kopf hat. Und Sebastian ist klug genug, gerade in dieser Neigung das Talent zu erkennen, aus dem er einen Beruf machen kann: Er gründet das weltweit erste Streichelinstitut. Auf diese Idee ist Sebastian nicht zuletzt deshalb so stolz, weil er sie auch politisch präzise durchdacht hat: Jede Form traditioneller Lohnarbeit führt zu Entfremdung und Vereinzelung der Menschen und vermehrt so das Leid in der Welt. Ist es da nicht eine gute Tat, den unglücklichen Menschen Entlastung zu verschaffen, indem er sie – gegen Honorar versteht sich – stundenweise streichelt? Denn beim Streicheln, so bestätigen ihm die Frauen, ist er ein Genie. Freundin Anna freut sich über Sebastians neuen geschäftlichen Ehrgeiz, kann aber verständlicherweise diese spezifische Geschäftsidee nicht einschränkungslos gutheißen: „Die erste Regel wäre: Kein Sex, niemals“, entscheidet sie mit Blick auf seine künftigen Klientinnen. Clemens Berger hat merklich Freude an den komischen Aspekten seiner Geschichte. Aber er gibt ihr dazu ein paar ernstere Züge. Die Haut, predigt Sebastian, sei klüger als der Kopf, weshalb das Streicheln oft mehr Einfluss auf das Leben habe als das Denken. Doch diese Erkenntnis gilt auf vertrackte Weise auch für Sebastian selbst: Da ist zum Beispiel Észter, eine unvergessene Ex-Geliebte, die im fernen Paris studiert und mit der er deshalb nicht streichelnd, sondern nur per Internet in Verbindung bleiben kann. Gerade der Mangel an Hautkontakt zu ihr weckt in Sebastians ein solches Begehren, dass er Annas Liebe aufs Spiel setzt, um zu einem nicht mehr nur virtuellen Treffen mit Èszter zu eilen – das dann naturgemäß in Enttäuschung endet. Auch Anna kann der Versuchung nicht widerstehen, per Kamera ein paar Streichel-Sitzungen Sebastians zu überwachen – und erliegt der Ausstrahlung einer Klientin, die zuvor schon Sebastian verführte. Diese Klientin erweist sich zudem als so geschäftstüchtig, dass sie nicht nur Sebastians Institut publizistisch professionell vermarktet, sondern umgehend Streichel-Personal einstellt, um das Ein-Mann-Unternehmen zielstrebig zum Streichel-Imperium auszubauen. Aus Sebastian, dem entschieden Feind der Lohnarbeit, droht nun also ein Lohnherr zu werden, der seine Kaffeehaus-Aufenthalte künftig durch die Ausbeutung fremder Leute Fingerspitzen finanzieren kann. Clemens Berger erzählt das alles angenehm unbeschwert und lebendig. Allerdings neigt er dazu, manche seiner Einfälle etwas zu liebevoll auszubreiten: Wo ein oder zwei Sätze ausgereicht hätten, um begreiflich zu machen, um was es ihm geht, wird er auch nach fünf oder sechs Sätzen nicht müde, den jeweiligen Gedanken wieder und wieder zu variieren. Das kann ungeduldig machen. Doch Sebastian und all seine vielen Frauen sind so sympathisch, dass man ihnen nie wirklich böse sein kann, wenn sie wieder einmal nicht so richtig auf den Punkt kommen.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 29. Mai 2010

Clemens Berger: „Das Streichelinstitut“. Roman Wallstein Verlag, Göttingen 365 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-8353-0619-6

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