Ein Star, dem bei der Wende die Sprache stehen blieb und der daraufhin 14 000 Seiten schrieb
Manche Autoren schreiben gern in kleinen Kammern, in Mönchszellen. Thomas Braschs Arbeitszimmer ist riesig, das größte einer staunenswert großen Berliner Wohnung. An den Wänden lehnen und hängen kolossale Spiegel, die den Raum vertiefen und – weil die Spiegel einander spiegeln – endlosen Spiegelschächte aufreißen, in denen unvorsichtige Betrachter den Kopf verlieren können. Manche Autoren schließen sich ein, um mit ihrer Arbeit ungestört allein zu sein. Bei Brasch stehen nicht nur die Türen offen, sondern auch die Fenster, hinter denen das nächtliche Berlin lärmt, sich Züge kreischend in den Bahnhof Friedrichstraße schieben und wunderbar romantische Lichterflecken über die Spree schaukeln. Die meisten Autoren setzen sich mit ihrem Text an einen Tisch. So können sie sich über ihn beugen, um ihm ganz nahe zu sein. Brasch steht. Er „hat’s am Rücken“, wie er sagt, und kann besser an Pulten schreiben. Also hat er zwei hohe Tische, zwei Werkbänke, L-förmig mitten in den Raum gerückt. An ihnen steht er bei der Arbeit wie ein Kapitän auf seiner Brücke. Doch manchmal, in einem unaufmerksamen Moment, wirkt Brasch hinter den hohen Tischen, in seiner Literaturwerkhalle, zwischen den grenzenlosen Spiegelwänden, inmitten des ungeheueren, ewig rauschenden Berlin sehr klein, sehr fern von allem. Aber Vorsicht, Brasch ist ein erfahrener Maskenspieler, ein Spezialist für Illusionen. Er kann aus so flüchtigem Material wie Worten lebendige Charaktere formen. Was bringt so einer dann erst mit handfesten Requisiten in der eigenen Wohnung zu Stande? Das Bühnenbild zu bereiten für den Auftritt eines mitten in die Welt gefallenen und doch verlorenen Dichters dürfte für ihn kein Problem sein. Also alles Theater? Sicher ist nur eins: dass sich hier einer präsentiert, der keinen Schritt unbedacht tut, der weiß, dass er Rollen spielt und dass sich jede Rolle plötzlich wandeln kann. Brasch ist gar nicht Brasch. Für jemanden mit seiner Gestaltungskraft wird auch die eigene Identität schnell zur Knetmasse. Kein Wunder, wenn Brasch gelegentlich selbst vor den bodenlosen Spiegelschächten der Selbstreflexion seinen Kopf verlöre. In einer der Rollen, die er für sich selbst entwirft, ist er gar kein echter Schriftsteller. „Heiner Müller“, sagt er, „hat den amerikanischen oder skandinavischen Germanisten, die ihn in den siebziger Jahren in der DDR besuchten, immer Thomas Brasch vorgestellt als literarischen Geheimtipp. Ich musste aber meine Fähigkeiten nicht unter Beweis stellen. Ich war ja verboten, zum Glück.“ So wurde Brasch zu einem Schriftsteller ohne Bücher, aber mit vorteilhaftem Image. „In der DDR gab es andere Gesetze für Schriftsteller. Man musste nur das Gerücht verbreiten, dass man Schriftsteller ist, dann war man schon für den Staat gefährlich – was einen erstens für die Frauen attraktiv machte, und zweitens musste man sein Talent nicht unter Beweis stellen, denn man wurde ja nicht veröffentlicht.“ Ganz so amüsant dürfte es für Brasch in der DDR nicht immer gewesen sein. Zwei Mal wurde er von Hochschulen exmatrikuliert, danach wegen des Verteilens von Flugblättern zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und nach der Haft zur Bewährung als Fräser in ein Transformatorenwerk geschickt. Sein Vater, stellvertretender Kulturminister der DDR, verlor wegen der Flugblattaktion des Sohnes sein Amt. Als Brasch 1976 in den Westen kam, hatte er ein ganzes Bündel mit Manuskripten unterm Arm. Die Behauptung, Schriftsteller zu sein, war offenbar doch mehr als Imagepflege gewesen. Sein Erzählungsband „Vor den Vätern sterben die Söhne“, die Theaterstücke „Lovely Rita“ und „Rotter“, die Lyriksammlung „Der schöne 27. September“ und der Film „Engel aus Eisen“ beförderten Brasch umgehend vom Geheimtipp zum literarischen Nachwuchsstar, der allen Sätteln gerecht war, der in jeder Disziplin brillierte. Aber seltsam, Erfolg ist Brasch offenbar nicht geheuer. Zugegeben, jeder zweite Schriftsteller behauptet, Starruhm nach Kräften zu meiden, und stimmt dann vollmundig das Lied vom scheuen, weltflüchtigen Poeten an, auch wenn’s nicht sehr glaubwürdig klingt. Doch Brasch erzählt – ganz untypisch für Schriftsteller – nur wenig und geradezu unwillig von der eigenen Arbeit. Viel lieber und leichtzüngiger schwärmt er von anderen Schriftstellern, von Beckett und Brecht, Joyce, Arno Schmidt und Fontane. Und für Shakespeare und Tschechow schwärmt er nicht nur, ihnen dient er seit fast 20 Jahren als Übersetzer – wozu die Stars des Literaturbetriebs im Allgemeinen nicht gern bereit sind. Ist hier also tatsächlich einer zu schüchtern für den Betrieb? Ist sein Maskenspiel, seine Selbstinszenierung als aufrecht arbeitender Dichter mitten auf dem Präsentierteller seines Arbeitssaals nur ein Ablenkungsmanöver? Nur ein Trick, mit dem er sich im Grunde besonders effektvoll verbirgt? Auf jeden Fall ist Brasch kein kaltblütiger Professional. Als 1989 der Staat von der historischen Bildfläche verschwand, der ihn so lange gequält hatte, wollten Journalisten nur zu gern seine Meinung zur Agonie der DDR hören. Doch Brasch fand mit einem Mal keine Worte mehr: „Plötzlich blieb mir die Sprache stehen.“ Zum Thema DDR ist sie bis heute nicht wieder in Gang gekommen. Was ihn nicht gleichgültig lässt – zumindest nimmt er diese Wendung des Gesprächs zum Anlass, eine erste Flasche Sekt aus dem Kühlschrank zu angeln. Seither, seit 1989 lebt Brasch größtenteils von seinen Übersetzungsaufträgen. Sicher, es sind auch in den neunziger Jahren Theaterarbeiten von ihm aufgeführt worden, doch an seine frühen, schnellen, Aufsehen erregenden Erfolge knüpfte all das nicht an. Um Abstand zu gewinnen von jeder Aktualität, stürzte er sich in ein gigantisches Prosaunternehmen über den Mädchenmörder Karl Brunke, eine historische Figur, die 1905 zwei junge Frauen auf deren Verlangen hin erschossen hatte. 14 000 Manuskriptseiten hat er über Brunke verfasst – doch nur rund 100 davon wollte sein Verlag drucken: Der Band „Mädchenmörder Brunke“, eine Novelle, erschienen im vergangenen Jahr bei Suhrkamp. Über den Rest des Materials geht Brasch mal großzügig hinweg, dann wieder glaubt man zu spüren, dass es ihn nicht ruhen lässt. Drei der elf Bände, in die er den enormen Papierberg namens „Brunke“ hat binden lassen, zeigt er vor und bringt bei dieser Gelegenheit – es ist spät und die erste Flasche leer geworden – aus der Küche einen zweiten Sekt mit. Brasch weiß alles über Brunke, zitiert Gerichtsakten aus dem Kopf, hat alle Daten, Fakten, Indizien präsent, kennt Brunkes Formulierungen bis in Detail. Vielleicht ist die zehnjährige Anstrengung, ein solches Romanmonster über eine einzige Person zu schreiben, letztlich nur als der Versuch eines Schriftstellers zu verstehen, es endlich einmal nicht beim üblichen Rollen- oder Maskenspiel zu lassen. Als Versuch, endlich einmal einer Figur ganz auf den Grund zu gehen – und so vielleicht einen festen Punkt in unser gründlich veränderten Welt zu erobern, auf dem er stehen kann. Ob es ihm gelungen ist, werden die Leser nicht erfahren, denn Suhrkamp will dieses Prosagebirge nicht publizieren und Brasch den Verlag nicht wechseln. Vielleicht waren die 14 000 Seiten nötig, um ihn von einer Obsession zu befreien: von der Hoffnung, die unauslotbaren Spiegelschächte der Reflexion und Selbstreflexion irgendwann hinter sich zu lassen. Zurzeit beschäftigt sich Brasch lieber mit den Gedichten, die während der Arbeit am „Mädchenmörder Brunke“ entstanden sind. Rund 500 sind zusammengekommen, viel zu viel für einen Lyrikband. Er wird eine Auswahl treffen müssen und hofft sie im kommenden Jahr in Buchform in Händen zu halten – wenn Suhrkamp diesmal mitspielt. Die Gedichte zeigen, wie präzise er arbeitet, wie wandlungsfähig, klar und anschaulich seine Sprache ist, wie er – darin Brecht verwandt – mit betont nüchternen Wendungen die Emotionen der Leser zu packen und sie mitzureißen versteht. Ein Poet, kein Zweifel. Brasch trinkt das letzte Glas leer. Draußen lärmt noch immer das nächtliche Berlin. Fenster und Türen stehen weiter offen. Vielleicht ist er endlich über Brunke hinweg – und über die Wende. Zu wünschen wäre es ihm. Der Literatur auch. Talente wie ihn gibt es nicht oft. Man muss sie pflegen.