Verpasste Chance, verlorenes Jahrzehnt

Als die Dichter auf die Straße gingen statt auf den Boulevard

Er muss gewirkt haben wie ein Mann aus einer anderen Welt. Es war im Juni 1968, dem legendären Jahr, das bis heute politische Wellen schlägt. Leslie A. Fiedler trat auf einem Freiburger Symposium vor deutsche Schriftsteller hin und hielt einen Stegreifvortrag. Wie ein fröhlicher Prediger oder ein Schamane, hieß es später, habe der Amerikaner sein Publikum zu begeistern versucht für eine Idee, die er aus den USA mitgebracht hatte. Aber nicht um eine sozialistische Revolte ging es Fiedler, obwohl der Pariser Mai 68 gerade erst vorüber war. Auch warb er nicht für einen Aufstand gegen die bürgerliche Gesellschaft oder eine Rebellion gegen die immer wieder gern gescholtene Kulturindustrie. Im Gegenteil: Der Marxismus spielte in seinen Überlegungen allenfalls die Rolle einer verschnarchten Trottelei, und der vollständige Sieg der bürgerlichen Demokratie und der Kulturindustrie waren in Fiedlers Augen beglückende zeitgeschichtliche Tatsachen. Fiedler wollte seine verblüfften Zuhörer dazu drängen, aus diesen unabweisbaren Tatsachen endlich literarische Konsequenzen zu ziehen und allen Glauben an die Ästhetik der Moderne fahren zu lassen. Denn längst sei an die Stelle des Modernismus etwas neues getreten: die Postmoderne. Selten dürfte die Verständnislosigkeit zwischen einem Redner und seinem Publikum so tief greifend gewesen sein. Glücklicherweise wurde sie dokumentiert. Die Wochenzeitung „Christ und Welt“ druckte Fiedlers Vortrag und ließ zwischen September und November 1968 sieben Schriftsteller auf ihn antworten. Sechs von ihnen konnten mit Fiedlers Jubel wenig anfangen. Sie warfen ihm eine Banalisierung der Kunst vor, weil die von ihm gefeierten Werke nicht so komplex seien wie die Homers (Holthusen), erklärten ihn zu einem politisch unzuverlässigen Mythomanen (Reinhard Baumgart), rügten seinen „Opportunismus“, der „nur marktgerechte Formalismen“ erzeuge, (Jürgen Becker) oder sahen in seinen Thesen einen weiteren Beweis dafür, dass „Amerika seit Jahren dabei ist, die westliche Lebensart und -chance zu verderben“ (Martin Walser). Lediglich ein gerade 28-jähriger Dichter aus Köln namens Rolf Dieter Brinkmann stellte sich auf Fiedlers Seite. Unter dem rasanten Titel „Ich hasse alte Dichter“ beschuldigte er den deutschen Literaturbetrieb, noch immer einem aus trüben politischen Quellen gespeisten Nationalismus anzuhängen: „Es herrscht eine generelle, tief verwurzelte Ignoranz und Abneigung gegen alles ‚Art-fremde‘.“ Brinkmann dagegen liebte die Pop-Literatur und war durch die USA gereist, um Material für seine Anthologie „Acid“ zu sammeln. Nicht um die traditionelle abendländische Kultur ginge es den Pop-Autoren, nicht um Homer oder um Formalismusdiskussionen, schrieb er, sondern um die „Reflexion auf zeitgenössisches Material“, um „Kinoplakate, Filmbilder, die täglichen Schlagzeilen, Apparate, Autounfälle, Comics, Schlager. . .“ Letztlich empfahl Brinkmann seinen Kollegen, nicht protestierend auf die Straße zu gehen, sondern beobachtend auf den Boulevard, wo sich die Wesenszüge unserer Zeit in tausendfältigen Oberflächenmutationen zeigen. Leslie A. Fiedler war nicht der Erste, der in Amerika den Begriff Postmoderne benutzte. Zurück in den USA, publizierte er sein Manifest „Cross the border. . .“ – und zwar im „Playboy“. Für ihn gab es keine Grenze zwischen hoher und niedriger Kultur mehr. Doch schon Jahre zuvor hatten Thomas Pynchon, Susan Sontag oder John Barth ähnliche Überlegungen veröffentlicht. Sie stießen sich an dem Exklusivitätsanspruch der Moderne, an ihrer immer hohler wirkenden geistesaristokratischen Ambition. Zudem hörten sie aus der modernen Literatur einen ständigen Unterton der Trauer heraus über den Verlust einer verbindlichen politischen, religiösen und kulturellen Gesellschaftsordnung. Auf all das mochten sich diese tief in den liberalen amerikanischen Traditionen verwurzelten Autoren nicht mehr einlassen. Sie wollten eine Literatur, die den Abschied von der einen großen Weltordnung begrüßte und das Entstehen einer Vielfalt von begrenzten Ordnungen feierte – da diese Vielfalt jedem Einzelnen größere individuelle Lebensspielräume eröffne. Sie wollten eine Literatur, die nicht über die Köpfe der Leser hinweg predigte, sich nicht hermetisch gerierte, sondern sich dem Publikum bereitwillig öffnete. Nicht zuletzt wollten sie den alten Gegensatz zwischen E- und U-Kultur beseitigen. Es ging ihnen um eine Literatur, die ihre Mythen nicht allein aus der Antike, sondern genauso aus dem Material der Gegenwart schöpfte, aus, wie Brinkmann sagte, Filmen, Comics, Schlagern und Schlagzeilen. All dies nahm das durch und durch politisierte Deutschland der sechziger Jahre zwar am Rande wahr – von Brinkmanns Anthologie „Acid“ zum Beispiel wurden 1969 in wenigen Monaten mehr als 10 000 Exemplare verkauft. Aber diskutiert wurden ganz andere Lehrsätze. Im Oktober 1968, also fast zeitgleich mit der Fiedler-Debatte in „Christ und Welt“ war das „Kursbuch 15“ erschienen, das vorzüglich geeignet ist, eine Ahnung von den damals üblichen Argumentationsmustern und Tonlagen im Kulturbetrieb zu vermitteln. Selbst der sonst so originelle und stilsichere Hans Magnus Enzensberger ließ sich hier zu einem eher hölzernen Essay hinreißen. Er frohlockte darüber, dass die Literatur durch die Studentenbewegung aus dem Gleichgewicht geraten sei, denn sie war „als die herrschende immer auch eine Literatur der herrschenden Klasse und hatte zugleich der Festigung dieser Klassenherrschaft und ihrer Verschleierung zu dienen“. Kurz, in diesen Jahren ging es fast allen deutschen Intellektuellen um eine radikale Politisierung der Lebensverhältnisse. Wenn sie überhaupt noch von Literatur sprachen, dann unter dem Blickwinkel, ob und inwieweit sie zur „politischen Alphabetisierung Deutschlands“ (Enzensberger) beitragen könne. Wie schnell dieses zunächst wohl notwendige Ringen der Studentenbewegung um eine zunehmende Demokratisierung des Landes in Ideologie umschlug, wie schnell sie antibürgerliche und antiamerikanische Affekte für sich mobilisierte, zählt inzwischen zu den Gemeinplätzen der Zeitgeschichte. Kein Wunder also, wenn in jenen Jahren in der Bundesrepublik von Fiedlers Postmoderne lange nicht mehr die Rede war. Stattdessen verstrickte sich manch ein Schriftsteller noch einmal für ein Gutteil seiner Lebenszeit in so grobschlächtige Kunstkonzepte wie Agitprop oder sozialistischen Realismus. Als dann in den siebziger Jahren den meisten Autoren klar wurde, wie sehr sie sich in ideologische Sackgassen verrannt hatten, zogen sie sich nach altdeutscher Tradition in weltferne Neue Innerlichkeiten zurück – und machten an Stelle der unbezweifelbaren politischen Wahrheit ihre unbestreitbare persönliche Authentizität zur Richtschnur ihrer Arbeit. Beides waren, nüchtern betrachtet, völlig kunstferne Kategorien. Doch es half nichts, das Pendel musste zunächst von einem Übermaß an gesellschaftlichem Engagement zur absurden Verabsolutierung privatester Sensibilitäten zurückschlagen. Unter literarischen Gesichtspunkten ist 1968 mithin alles falsch gelaufen. Im Windschatten einer zumindest Anfangs auf Demokratisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik zielenden politischen Bewegung wurden ästhetische Modelle diskutiert, hinter denen letztlich totalitäre Einheitsfantasien standen. Ein Irrweg, der die deutsche Literatur mehr als ein Jahrzehnt kostete, ein Jahrzehnt der Dürre und der Dürftigkeiten. In kunsttheoretischer Hinsicht wurde Deutschland so wieder einmal zu einer verspäteten Nation. Erst Anfang der achtziger Jahre lebte die Diskussion um die – inzwischen von dunkel raunenden französischen Philosophen dominierte – Postmoderne auch hier zu Lande auf. Allerdings mit negativem Vorzeichen, denn Jürgen Habermas belegte sie 1981 in seiner Adorno-Preisrede mit der Bannvokabel „konservativ“. Doch selbst an der stießen sich immer weniger Autoren, nachdem mit Umberto Ecos „Name der Rose“ und Patrick Süskinds „Parfum“ dezidiert postmoderne Romane die Bestsellerlisten eroberten. Es ist merkwürdig: Auf die Befreiung des bürgerlichen Individuums von allen zwangsweise verordneten politischen Wahrheiten, reagierte die Ästhetik der Moderne nicht mit Zustimmung und befreitem Aufatmen, sondern mit den Bildern der Entwurzelung, der Verlorenheit und Entfremdung. Heiner Müllers fragmentarische Gruselreigen und geschichtsphilosophische Schockrevuen sind hierfür ein geradezu paradigmatisches Beispiel. Die historische Wende von 1989, die Implosion der letzten politischen Erlösungsphilosophie zwingt dazu, diese Basis der ästhetischen Moderne zu überdenken. Doch Ansätze dazu gibt es bis heute kaum. „Es existiert keine ästhetische Theorie, die von der offenen Gesellschaft ausgeht, von ihrem Wahrheitsbegriff, ihrem Zeitverständnis, ihrem Begriff von Individualität“, schreibt der Lyriker Dirk von Petersdorff, einer der intelligentesten deutschen Autoren der jüngsten Generation. Kaum älter als das Schicksalsjahr 1968, wirft er in seinem Essayband „Verlorene Kämpfe“, der in diesen Tagen erscheint, kopfschüttelnd einen Blick zurück auf die sehr deutsche Vorstellung, die Kunst solle und müsse die sich immer stärker ausdifferenzierenden und auseinander driftenden Bezirke der Gesellschaft in übermenschlicher Anstrengung zusammenhalten: „So entstehen Werke, die religiöse Gesten nachahmen. Jene Begriffe, mit denen Karl Heinz Bohrer die Kunst der Moderne beschreibt, Gewalt und Plötzlichkeit, stellen Äquivalente für Donner und Blitz des sich offenbarenden Gottes dar.“ Die Entfernung zu dem, was 1968 die Diskussion bestimmte, könnte kaum größer sein. Vielleicht verbirgt sich in den klassizistischen Elementen der Postmoderne ein fruchtbarer Ansatz für eine Ästhetik, die unserer Zeit angemessen und zutiefst unangemessen zugleich wäre. Der Maler Carlo Maria Mariani hat diese Elemente in einigen Gemälden – die mit demonstrativer Ironie auf die keineswegs göttlichen, sondern von Menschen und Moden geformten klassischen Idealproportionen verweisen – ins Bild gebracht. Nichts könnte unserer auf ständige Innovation, auf Tempo, Schocks und rabiaten Traditionsbrüchen versessenen Industriegesellschaft stärker widersprechen als eine ruhige, nach dem rechten, humanen Maß suchende neue Klassik. Nichts aber wäre ihr vielleicht auch hilfreicher als eine Kunst, der es gelingt, die schrille, vergnügliche, bewusstlose Welt des Pop mit einer Ästhetik weiser klassischer Lebenskunst und Lebenshilfe zu versöhnen.

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