Eine Biografie bringt alles über sein Leben – und doch zu wenig
Der beste Heiner-Müller-Biograf wäre natürlich Heiner Müller selbst gewesen. Nicht nur weil er sich vermutlich ganz gut auskannte in der eigenen Vergangenheit. Er besaß auch den nötigen Zynismus und die Freude an Absurditäten, die es braucht, um sein Leben effektvoll zu beschreiben. Müller, der Dialektiker, liebte Gegensätze, Widersprüche und Konflikte, sie seien es, die alle Entwicklungen vorantreiben. Schon deshalb müsste ein Biograf Müllers vor allem die inneren Widersprüche, die Absurditäten dieses Lebens in den Mittelpunkt stellen. In Jan-Christoph Hauschilds 600-seitiger Biografie klingen sie an. 1. Müllersche Merkwürdigkeit: Fast alle Zeugnisse aus der Zeit der Kindheit und Jugend Müllers beschreiben den kleinen Heiner als dünnhäutig und sanft. Er sei, berichten Schulfreunde, ein „zurückhaltender, nachdenklicher“ Junge gewesen, der „fast mädchenhafte Züge an den Tag legte“ und jeden Streit vermied. Aus diesem Kind wird jedoch ein Dramatiker, der nach eigenen Worten an nichts anderes glaubt als an Konflikte. Der vierzig Jahre im Dauerdissens mit den Kulturpolitikern der DDR lebt und nach 1989 seinen Widerwillen gegen die westliche Welt („die von der Deutschen Bank unterhaltene Demokratie der BRD“) lustvoll zelebriert. Der in seinen Stücken den denkbar kaltherzigsten Umgang mit Menschen ausstellt und vorzugsweise die inhumanen, mörderischen Züge einer auf Humanität zielenden Revolution beschwört. Muss man Müller also zu jenen Intellektuellen zählen, die, selbst überaus sensibel und zu Gewalt völlig unfähig, geistig von jeder Spielart der Gewalt angezogen werden und schon deshalb in ihrem politischen Denken kriegerisch-revolutionäre Lösungen weitaus faszinierender finden als friedlich evolutionäre? 2. Müllersche Merkwürdigkeit: Müller, der ehemals so empfindsame Junge, gibt sich zeitlebens wenig Mühe mit Menschen, von denen man annehmen könnte, sie stünden ihm nahe. Die Mutter seines ersten Kindes heiratet er in den fünfziger Jahren nach der Scheidung gleich noch einmal, doch vermutlich nicht aus Liebe, sondern aus finanziellen Gründen. Zumindest hält er sich Frau und Tochter sowohl in der ersten wie der zweiten Ehe möglichst vom Leib. Seine dritte Frau Inge Müller macht er zunächst zur Mitarbeiterin seiner Stücke, um ihre Beiträge zu den gemeinsamen Werken später in Interviews wortreich kleinzureden. Nach dem Selbstmord Inge Müllers bekommt deren neunzehnjähriger Sohn Bernd seinen Adoptivvater Heiner kaum noch einmal zu Gesicht. Immer wieder wendet sich Müller von Freunden oder Familienmitgliedern ab, vergisst sie über Jahre hinweg wie alte, abgelegte Hüte. Dagegen fliegen Müller, zumal im Theater, die Herzen anderer Menschen ohne weiteres zu. Oft schart er ausufernde Freundeskreise um sich, die ihn bewundern und verehren. Noch seine Beerdigung wurde zu einer eindrucksvollen Demonstration der Zuneigung, die ihm viele Prominente und Nicht-Prominente entgegenbrachten. Gehörte Müller also zu jenen Menschen, die sich, gerade weil sie selbst nur wenige emotionale Bindungen haben, als Projektionsfiguren für die Gefühle anderer vorzüglich eignen? 3. Müllersche Merkwürdigkeit: Müller war zweifellos ein ausgeprägter Skeptiker. Er hatte, wie er sagte, „großen Spaß daran, Illusionen zu zerstören“. Doch an einer Illusion hielt er konsequent fest: an der Idee der politischen Wirksamkeit des Theaters. Seine jahrzehntelange Arbeit an Produktionsdramen und Lehrstücken in Brechtscher Tradition ist ohne den festen Glauben, via Bühne in die Politik hineinwirken zu können, nicht zu begreifen. Zu Anfang seiner Karriere, als er in seiner Heimat mit Verboten überhäuft wurde, konnte er sich vielleicht noch in der Vorstellung bestätigt fühlen, die eigene Arbeit sei purer Sprengstoff für die geschlossene Gesellschaft der DDR. Doch wenn man sich vor Augen stellt, dass Müller Ende der achtziger Jahre, also im Zeitalter der elektronischen Massenmedien, wieder aufs Lehrstück zurückgriff, um mit Theaterarbeiten („Wolokolamsker Chaussee“) die inneren Reformen des erstarrten Sozialismus voranzutreiben, dann ist es schwer, sich ein leichtes Kopfschütteln zu verkneifen. War Müller also einer jener Schriftsteller, die, obwohl sie die Welt mit programmatischer Kälte und Nüchternheit beschreiben, sich mit Blick auf die eigene Arbeit den erstaunlichsten Täuschungen hingeben? 4. Müllersche Merkwürdigkeit: Nur wenige marxistische Schriftsteller haben nach der Implosion des Ostblocks so radikal wie Müller mit den sozialistischen Staaten abgerechnet, die ihren Bürgern immer neue Opfer für den Aufbau einer utopischen kommunistischen Zukunft abverlangten: „Die Opfer sind gebracht worden, aber sie haben sich nicht gelohnt. Es ist nur Lebenszeit verbraucht worden. Diese Generationen sind um ihr Leben betrogen worden, um die Erfüllung ihrer Wünsche. Für ein Ziel, das illusionär war.“ Dennoch hat sich Müller wie kaum ein anderer Schriftsteller oder Intellektueller nicht nur zu einem Nachlassverwalter der DDR-Kultur machen lassen, sondern zu einer Symbolfigur des geschichtsphilosophischen Schmollens: Nie brachte er es fertig, den Zugewinn an Freiheit, den die Wende für die Menschen im Ostblock mit sich brachte, als einen seltenen historischen Glücksfall zu preisen. Er war vielmehr immer darauf bedacht, die Auflösung der weltweiten Konfrontation zwischen Ost und West – und damit das geringer gewordene Risiko einer nuklearen Totalvernichtung – als Symptom des Verfalls und erst recht einer nahenden Katastrophe zu deuten. Kann man Müller also zu jenen Schriftstellern rechnen, die, obwohl sie immer wieder von der Utopie einer besseren, gerechteren Welt schreiben, im Grunde psychisch abhängig sind von der Vorstellung, in der übelsten aller denkbaren Welten zu leben? Die – wie Jean Genet einmal gesagt hat und wie Müller zitierte – möchten, dass die Welt so schlecht bleibt, wie sie ist, damit sie weiter gegen sie sein können? Natürlich lassen sich in Müllers Leben noch weit mehr Merkwürdigkeiten finden, und natürlich sind die hier vorgeschlagenen Deutungsversuche nicht die einzigen. Müller hatte noch weit mehr intellektuelle Spannungsherde oder bizarre Verhaltensmuster zu bieten. Fast alle kommen sie in der einen oder anderen Form in Hauschilds und materialreichen und schon deshalb verdienstvollen Biographie vor. Doch hat Hauschild diese Widersprüche, die doch wunderbaren Erzählstoff hergegeben hätten, unter einer Flut von Fakten und Daten begraben. Alles, was er schreibt, ist gut recherchiert und richtig, doch nur wenig ist plastisch herausgearbeitet oder zu einer einprägsamen biografischen These zugespitzt. Im vergangenen Jahr hat Jan-Christoph Hauschild bereits (als Rowohlt-Monografie) eine viel schmalere, konzentriertere Müller-Biografie vorgelegt. Sie liest sich in Hauschilds eher positivistischen als lebendigen Darstellungsweise wie ein angenehm knapper Lebensüberblick. Auf 530 Seiten samt Anhang wirkt seine sachliche Zurückhaltung jedoch ziemlich öde.
Jan-Christoph Hauschild: „Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel“. Biographie Aufbau Verlag, Berlin 2001 619 S., 59,90 Mark.