„Denkt“

David Lodge und das reizvolle Unglück des Seitensprungs

Einen neuen Roman von David Lodge aufzuschlagen, ist wie einen alten Freund zu besuchen. Einen klugen, höflichen Freund, der uns mit den Gedanken und Leseerfahrungen, die sich seit unserer letzten Begegnung bei ihm angesammelt haben, aufs Angenehmste zu unterhalten versteht. Ein solcher Besuch ähnelt mehr der Rückkehr zu einem Teil der eigenen Vergangenheit als der Expedition in unerforschte Weiten. Er ist eher Rast als Abenteuer. Begriffe wie diese klingen, werden sie auf einen Roman angewandt, nach vergifteten Komplimenten. Das Vokabular, in der sonst lobend über Literatur geredet wird, ist heroischer gestimmt. Da gibt es kaum ein Buch, das nicht verspräche, mit dem Leser zu wahren Höllenritten durch fremde, bizarre Sphären aufzubrechen. Aber, Hand aufs Herz, auch die Einladung zum permanenten Aufbruch ins Unbekannte nutzt sich ab und ermüdet. Nicht nur Expeditionen in ferne Welten können da zu einem intensiven Erlebnis werden, sondern genauso der Besuch bei einem vertrauten Freund. Wer wüsste nicht nach etlichen Abenteuern eine Rast zu schätzen. David Lodge liebt es, in seinen Büchern die unterschiedlichsten Milieus aufeinandertreffen zu lassen. In seinem Roman „Saubere Arbeit“ hat eine Literaturwissenschaftlerin mit Dekonstruktivismus-Fimmel eine Affäre mit einen rauhbeinigen Industriemanager. In „Neueste Paradies Nachrichten“ findet ein Theologe mit Glaubens- und Sexualnöten die Liebe seines Lebens ausgerechnet im Touristentrubel von Hawaii. In seinem neuen Roman „Denkt“ begegnet eine introvertierte, früh verwitwete Schriftstellerin einem dröhnenden Wissenschafts-Karrierist, dessen Gedanken ausschliesslich um seinen nächsten Fernsehauftritt und den nächsten one-night-stand zu kreisen scheinen. Bei vielen Schriftstellern wirken solche extravaganten Konstellationen wie sterile literarische Versuchsanordnungen. Doch Lodge ist ein überaus präziser Handwerker, der große Sorgfalt darauf verwendet, seine Figuren mit Leben zu erfüllen. Das merkt man auch diesem Buch an: Liebevoll hat er seine Geschöpfe mit charakteristischen Tonlagen, eigentümlichen Ticks und komplexen Biografien ausgestattet. So wird man von den beiden schnell hineingezogen in das älteste und verwickeltste Spiel, das Erwachsene miteinander spielen: den Flirt. Der erfahrene Lodge-Leser erkennt viel von dem wieder, was ihm schon in anderen Romanen dieses Autors begegnete: Lodges ironische, aber selten bissige Kritik am Dekonstruktivismus; seine Reminiszenzen an einen anfangs wie selbstverständlich gelebten katholischen Glauben, der plötzlich verlorenen ging; und die uferlosen Reflexionen über das banale Glück ehelicher Treue und das reizvolle Unglück wild bewegter Seitensprünge. Zudem liebt es Lodge, gelegentlich als ein demonstrativ traditionalistischer Autor aufzutreten. So will er in diesem Roman offensichtlich nicht nur eine Geschichte erzählen, sondern sein Publikum zudem über ein Sachthema informieren. Wie Melville seinen Lesern in „Moby Dick“ Kenntnisse über den Walfang vermittelt, so lässt Lodge in sein Buch einiges Wissen über Künstliche Intelligenz, Robotik und den aktuellen Stand der Erforschung des menschlichen Bewusstseins einfließen. Denn Ralph, jener nervtötend erfolgsverwöhnte Universitätscasanova, ist ein Kognitionswissenschaftler, der den letzten Geheimnissen des menschlichen Denkens auf die Spur kommen möchte, indem er es im Computer simuliert. Der Flirt zwischen ihm und Helen, der leidgeprüften Schriftstellerin, wird also angeheizt und manchmal überlagert durch eine Dauerdiskussion zwischen den beiden: Denn auch Helen versteht sich als Bewusstseinsforscherin. Nur dass sie mit den altbekannten Mitteln der Einfühlung, der Intuition und der literarischen Vergegenwärtigung arbeitet. Lodge hat den Roman selbst gleichsam als eine Art Seelenerforschung angelegt. Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt: Ralph vertraut seine Sicht der Dinge, seine Überlegungen und Einfälle einem Tonband oder einem sprachfähigen Computer an. Helen führt, wie es sich für eine traditionsbewusste Autorin gehört, ein Tagebuch. Manche Szenen wiederum werden dem Leser von einem auktorialen Erzähler berichtet, der mal wie ein kühl registrierendes Kameraauge über den Schauplätzen schwebt und mal allwissend tiefe Blicke in die Psyche der Figuren wirft. Das klingt kompliziert, doch Lodge ist es nicht nur gelungen, die Story trotz allem transparent und zugänglich zu halten, sondern aus dem Wechsel der Perspektiven immer neue Anreize für die Leserneugier zu gewinnen. Er erweist sich wieder einmal als ein mit allen erzähltechnischen Wassern gewaschener, souveräner Geschichtenkonstrukteur. Doch zumindest eine Leidenschaft quält diesen Autor, der er selbst und sein Roman letztlich nicht gewachsen ist. Seine beiden Helden, Helen und Ralph, sind vernünftige, diskrete Menschen. Sie halten ihre zunächst lange vermiedene und schließlich doch in vollen Zügen genossene Affäre im Verborgenen, um Ralphs Frau – die selbst kein Ausbund an ehelicher Treue ist – nicht zu verletzen. Gerade dieses alte Wechselspiel zwischen heimlich durchlebter Verliebtheit und öffentlicher Zurückhaltung macht einen großen Teil der Anziehungskraft dieses Buches aus. Es lenkt den Blick auf die feinen Unterschiede, die gerade noch zu ahnenden Nuancen des Verhaltens. Doch Lodge will letztlich mehr sein als genauer Beobachter der ebenso feigen wie heldenhaften Lebenslügen des Alltags. Er betrachtet sich zugleich als Aristoteliker, der seinen Lesern eine handfeste Peripetie samt Katharsis bieten möchte, also den plötzlichen Sturz seiner Hauptfiguren aus ihrer scheinbar so wohlgeordneten Welt in ein Chaos der Gefühle und Bedrohungen. Hier jedoch zeigen sich die Grenzen seines Buches. Lodge ist ein viel zu moderater Autor, als dass er seinen Lesern eine solch katastrophale Erfahrung mit allem Mitteln literarischer Suggestion zumuten würde. Statt dessen belässt er es bei der behutsamen Andeutung einer derart unglücklichen Wendung des Schicksals. Aber eine behutsame angedeutete Peripetie ist keine. So schlägt man das Buch schließlich mit dem Gefühl zu, dass Lodge sich am Ende ein wenig halbherzig an etwas versucht hat, was er nicht kann oder nicht will. Und was für seinen Roman letztlich nicht nötig ist. Denn genau betrachtet zielt die Geschichte nicht auf die traktathafte Warnung vor den schaurigen Folgen des Ehebruchs. David Lodge greift die Unaufrichtigkeit seiner Helden keineswegs im Namen einer absoluten Wahrhaftigkeit an. Er zeigt vielmehr, welche humane, zivilisierende Kraft in den gewöhnlichen Lebenslügen gewöhnlicher Leute liegen kann. Er feiert nicht ein abstraktes Treueideal, sondern die Fähigkeit der Menschen, sich mit diesem Ideal zu arrangieren. Und genau solche kleinen lebensklugen Einsichten sind es, die man sich von einem Besuch bei einem alten Freund erwartet.

David Lodge: „Denkt“. Roman Aus dem Englischen von Martin Ruf Haffmans Verlag, Zürich 2001 510 S., 44 Mark.

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