Der Romancier Christoph Hein erzählt vom reichen Leben ohne Utopie. Ein Porträt
Wenn unter Männern ausnahmsweise doch von Frauen die Rede ist, behaupten manche, sie hätten einen bestimmten „Typ“. Gemeint ist damit, dass sie Frauen mit spezifischen körperlichen Eigenschaften bevorzugen: seien es blonde Haare, blaue Augen, lange Beine, schmale Taille oder was immer. Der Schriftsteller Christoph Hein hat ebenfalls einen bestimmten „Typ“. In seinen Büchern zeigt er eine scheinbar unbeirrbare Vorliebe für Figuren mit spezifischen charakterlichen Eigenschaften. Heins Herz schlägt für die Herzlosen, er ist vernarrt in die Kaltschnäuzigen und Zyniker, er hat ein Faible für Leute, die bis auf die Knochen ernüchtert sind, für Menschen, die den unerbittlichen Tatsachen des Lebens gelassen ins Gesicht sehen.Oder zumindest: diesen Tatsachen gelassen ins Gesicht sehen wollen. Denn zwischen „Wollen“ und „Können“ liegen hier ebensolche Welten wie zwischen der billigen Kaltschnäuzigkeit Fremden gegenüber und einer geradezu philosophischen Gelassenheit, um die wir mit Blick auf uns selbst gelegentlich ringen. Heins Helden bewegen sich in eben diesem Spannungsfeld zwischen der groben Herzlosigkeit gegen andere und einen bewunderungswürdigen Stoizismus angesichts der eigenen Befürchtungen und Begierden. In einer Gesellschaft, die sich regelmäßig als „Ellenbogengesellschaft“ kritisiert, die über wachsenden Egoismus und schwindende Zuwendung zum Nächsten klagt, zielt Hein so auf einen zentralen Punkt sozialer Selbstvergewisserung. Begriffe, die jedoch bei Heins Lesungen selten zu Wort kommen. Er sucht nicht die politische Diskussion mit seinem Publikum, weicht ihr aber auch nicht aus, wenn Fragen an ihn herangetragen werden. Hein war zunächst Autor an der Volksbühne in Berlin, in Ost-Berlin wie es damals noch hieß, und diese Arbeit hat ihm wohl vor allem zweierlei gelehrt: Erstens einen wachen Sinn für die handwerklichen Aspekte des Schreibens – denn kein anderer Schriftsteller erlebt so direkt und deutlich, ob sich seine Texte sprechen lassen, und ob sie über die Rampe kommen wie ein Theaterautor. Zweitens ein Gespür dafür, den Charakter einer Figur nicht schlicht zu beschreiben, sondern ihn aus der Art wie sie redet, sich verhält, für den Leser erkennbar, spürbar, miterlebbar zu machen. Zum ersten Mal ist ihm dies mit Claudia gelungen, der attraktiven, knapp 40-jährigen Ärztin und Hauptperson seiner Novelle „Der fremde Freund“ (1982), die Hein in einem langen Monolog zum Sprechen bringt in einer zunächst betont rationalen und kontrollierten, schließlich aber immer hoffnungsloseren Bekenntnisrede. Claudia ist ein Single und eingefleischter Menschenfeind. Seit ihrer Scheidung schläft sie zwar noch „manchmal mit einem Mann“, wie sie ihrer Mutter bereitwillig mitteilt, doch hat sie nicht mehr das geringste Interesse an einer Ehe oder einem dauerhaften Zusammenleben: „Ich will nicht mehr“, sagt sie, „Tag für Tag in fremde Gesichter starren, die nur deswegen zu mir gehören sollen, weil sie immer die gleichen sind“. Selbst enge Verwandte bedeutet ihr kaum etwas. Von einer kurzen Reise zu ihren Eltern behauptet sie, es sei ein „Höflichkeitsbesuch bei Leuten, mit denen mich nichts verbindet“. Doch diese eiserne Distanz zu allem und jedem geht nicht spurlos an Claudia vorüber. Die immer obsessiveren Beschwörungen ihrer persönlichen Unabhängigkeit und ein nur noch mühevoll zurückgehaltener Unterton der Verzweiflung in ihre lange Konfession machen unübersehbar, welche emotionale Selbstverstümmelung diese Frau betreibt. In einer ähnlichen Monologtechnik hat Hein auch seine späteren Romane „Horns Ende“ (1985) und „Das Napoleonspiel“ (1993) geschrieben. Im ersten Roman ist es ein Historiker, der sich wegen eines ihm angetanen offensichtlichen Unrechts erst in Weltekel und dann in den Selbstmord flüchtet. Im zweiten ist es ein Jurist und Spieler, der Menschen nur als Mittel zum Zweck betrachtet und aus Langeweile einen Mord begeht. Doch am „Napoleonspiel“ – das Hein trotz aller Kritik als eines der eigenen „Lieblingsbücher“ bezeichnet – lässt sich auch ablesen, welche Probleme diese spezifische Erzählweise mit sich bringt: Auf der Bühne kann der Schauspieler einen Monolog mit Leben erfüllen, kann ihm szenische ebenso wie emotionale Bewegung verleihen. In Romanform läuft der Monolog leicht Gefahr, unanschaulich und spröde zu werden, neigt zum bloßen Räsonnement. Nicht als Monologe, sondern als Geschichten mit traditionellen Erzählern hat Hein „Der Tangospieler“ (1989) und seinen jüngsten, schönsten und reifsten Roman „Willenbrock“ geschrieben. Auch der Tangospieler Dallow und der Autohändler Willenbrock sind keine Philanthropen. Beide haben in der DDR schmerzhafte Erfahrungen gesammelt. Dallow musste wegen einer politischen Lappalie für fast zwei Jahre ins Gefängnis, Willenbrock wird wegen angeblicher ideologischen Unzuverlässigkeit um seine Reise- und alle Karrierechancen gebracht. Beide reagieren, wie sie das für Heins Helden gehört, auf diesen Knick in ihrer Laufbahn mit heimlicher, sogar vor sich selbst verheimlichter Verbitterung und einer guten Portion Lebensekel. Doch Hein hält sich bewusst vor allzuviel Pathos fern. „Ich hoffe, das Ganze hat Witz. Mir liegt an den komischen Zügen meiner Figuren“, meint Hein, und die Reaktion des Publikums bei Lesungen ist ein überzeugender Beleg dafür, dass er sein Ziel nicht verfehlt. In „Willenbrock“ gelingt es Hein, das individuelle Schicksal seiner Hauptfigur auf ebenso dezente wie glaubwürdige Weise in ein Porträt der allgemeinen gesellschaftlichen Befindlichkeit einzubetten. Der Roman spielt nach der „Wende“, die DDR und damit Willenbrocks berufliche Benachteiligungen liegen also schon Jahre zurück – doch wirkt etwas von den Enttäuschungen aus dieser Vergangenheit in ihm weiter. Sein Leben ist geprägt von einem radikalen und tiefgreifenden „Utopieverlust“. Willenbrock glaubt schlicht an nichts und niemanden mehr, die religiöse Geborgenheit seines polnischen Angestellten Jurek betrachtet er mit sanfter Verwunderung, das politische Engagement ehemaliger Kollegen kommt ihm nur noch lächerlich vor. Das einzige, was für ihn zählt, ist handfester wirtschaftlicher Nutzen. Er ist ein ziemlich ruppiger Materialist geworden, und will sich von keiner altruistisch verbrämten Ideologie mehr etwas vormachen lassen. Doch ist Willenbrock – anders als die in der DDR lebenden Helden in Heins Romanen – nicht mit einem staatlich verordneten Sozialismus konfrontiert, sondern mit lauter anderen ebenso materialistischen, zutiefst skeptischen und gründlich ernüchterten Mitbürgern. Das soziale Panorama, das Hein hier entwirft, ist eines der Freizügigkeit und des Wohlstandes, aber zugleich auch des Zerfalls, der Auflösung aller traditionellen Bindungen und Sicherheiten. Willenbrocks Geschäft läuft gut, aber die Versicherungen versichern es nicht mehr. Willenbrock hat Zweitwohnung, Zweitwagen und zahlreiche Zweitfrauen, aber die Polizei kümmert sich nur notdürftig um die Einbrüche auf seinem Autohof. Selbst als Willenbrock akut bedroht wird und bei einem Polizeibeamten Hilfe erbittet, verweist der ihn weiter, weil „er dafür nicht zuständig sei“. In diesem Moment beginnt inmitten einer hochentwickelten Gesellschaftsordnung das elementare Schutzversprechen, das sonst jede Gemeinschaft für seine Mitglieder bereithält, beängstigend zu bröckeln. Christoph Hein geht es jedoch nicht darum, unsere soziale Situation in möglichst düsteren Farben zu malen, sondern vielmehr darum, die Reaktionen der Menschen auf diese Situation zu studieren. Er zeigt, wie sich Willenbrock mehr und mehr alleingelassen fühlt, wie Willenbock – gerade weil er (vielleicht zurecht) von seinen Mitmenschen das gleiche erwartet wie von sich selbst – kaum mehr mit Hilfe rechnet, und wie sich deshalb der Gedanke an Gewalt und Gegengewalt immer stärker in seinem Kopf festsetzt. Kurz: Hein führt vor, wie in eine rundum zivilisierte, sich immer stärker ausdifferenzierende und also um ihren inneren Zusammenhalt ringende Gesellschaft gleichsam durch die Hintertür archaische Verhaltensmuster mit beängstigendem Automatismus zurückkehren.