Gespräch mit Hans Christoph Buch und Marcel Reich-Ranicki über Büchermoden, zu Recht oder zu Unrecht vergessene Romane und Autoren sowie einen Umschwung in der deutschen Gegenwartsliteratur
Uwe Wittstock: Kritiker rezensieren Bücher üblicherweise, sobald sie erschienen sind, also sobald sie in das öffentliche Bewusstsein eintreten. Doch wie, wann und warum treten Bücher aus dem öffentlichen Bewusstsein wieder heraus? Aus welchen Grund betrachtet man bestimmte Bucher schon sehr bald als veraltet oder uninteressant, andere dagegen noch nach Jahrhunderten als frisch und lebendig?
Marcel Reich-Ranicki: Die Vergänglichkeit literarischer Werke hängt keineswegs nur von ihrer Qualität ab, sondern wird auch von anderen Faktoren bestimmt, in Abhängigkeit von der Gattung. Sehr großen Einfluss hat natürlich das Theater, nur darf man nicht vergessen, dass heute wie vor hundert Jahren ein großer Teil des Repertoires (etwa 80 bis 90 Prozent) aus Stücken besteht, die keinen literarischen Wert haben und in der Regel nach wenigen Jahren verschwinden. Aber das Theater hält eine gar nicht so geringe Anzahl von klassischen Dramen am Leben. Das gilt für die drei großen Lessing-Dramen („Minna von Barnhelm“, „Nathan der Weise“ und „Emilia Galotti“), für einige Schiller-Stücke (vor allem die frühen: „Räuber“, „Kabale und Liebe“ und „Don Carlos“), für die Hauptwerke von Kleist und Büchner. Sie alle werden noch von Zeit zu Zeit gespielt, weil sie dankbare Aufgaben für das Theater bieten. Aber auch ein späterer Dramatiker wie Gerhart Hauptmann taucht nicht selten im Repertoire auf, wohl vor allem deshalb, weil sich in manchen seiner Stücke, auch in den schwächeren, sehr gute Rollen finden. Anders ist es um die Lyrik bestellt: Wenn ziemlich viele Gedichte von Goethe, Eichendorff oder Heine noch gelesen werden, so deshalb, weil sie in Anthologien und Schullesebüchern offeriert werden. Dann gibt es noch einen Faktor, der in der ausländischen Literatur kaum eine Rolle spielt: Ich meine die Vertonungen von Gedichten, kurz, das deutsche Lied. Die Vertonungen von Schubert, Schumann, Mendelssohn-Bartholdy, Hugo Wolf und anderen haben die Texte keineswegs abgetötet, sie haben ihnen genutzt. Weit größer ist die Vergänglichkeit des Romans. Ein guter, ein hervorragender Roman lebt dreißig, vierzig Jahre – nicht länger. Gewiss gibt es Ausnahmen: Das sind die Meisterwerke, die wenigen genialen Bücher. Aus der ganzen Zeit vor Theodor Fontane wird bestenfalls Goethes „Werther“ noch gelesen. Wittstock: Jenseits der deutschen Literatur gibt es aber noch eine ganze Menge Romane aus dem 19. Jahrhundert, die bis heute sehr wohl viel gelesen werden: die Bücher von Dostojewski, von Tolstoi, Flaubert, Balzac, Dickens, Austen. Hans Christoph Buch: Es gibt auch viel ältere Romane, die den Leuten sehr wohl noch geläufig sind, wie „Don Quichotte“ zum Beispiel oder der „Simplicissimus“. Reich-Ranicki: Beim „Simplicissimus“ bin ich (aus sprachlichen Gründen) nicht ganz sicher. Aber die Germanisten machen sich gern Illusionen. Es geht doch nicht um Studenten, die dies und jenes der Prüfungen wegen lesen müssen. Ansonsten liest niemand heute die Romane von Wieland oder Jean Paul, von Tieck, Gutzkow oder Immermann. Das sind nur noch Museumsstücke, womit noch nichts gegen die Qualitäten der Romane etwa von Jean Paul gesagt werden soll. Auch ein Zeitgenosse Fontanes wie Wilhelm Raabe hat sich schon überlebt. Buch: Ich stimme Ihnen zu, ein großer Teil der Literatur der Vergangenheit ist heute nur noch Pflichtlektüre für Germanistikstudenten. Doch gerade die Lyrik ließe sich, wenn sie stärker in die Musik, auch die populäre Musik einbezogen würde, leicht unters Leservolk bringen. Die Vertonung spielte ja im Mittelalter schon eine große Rolle. Lyrik, das waren nicht nur Gedichte, sondern vor allem Lieder. Musik sorgt immer dafür, dass Texte sich besser einprägen. Aber nicht nur die Vertonung von Gedichten, auch die Kunst der Deklamation ist im deutschen Sprachraum in Vergessenheit geraten. Mein früh verstorbener Freund Joseph Brodsky zum Beispiel, der aus der UdSSR ausgebürgerte Dichter und spätere Nobelpreisträger, konnte sein gesamtes Werk auswendig und trug seine Gedichte mit einem Pathos vor, wie es der deutschen Lyrik nach Rilke abhanden kam. Brecht und Benn pflegten das Unterstatement und lasen, aus unterschiedlichen Gründen, Poesie wie Prosa vor. Bei Brodsky hatte das Auswendiglernen aber nicht nur eine ästhetische Dimension – er glaubte an die Existenz der Musen fast im leibhaftigen Sinn -, sondern ganz praktische Gründe: Auf diese Weise verhinderte er die Beschlagnahmung seiner Manuskripte durch den KGB und schmuggelte seine Werke in den Westen, nicht in einem Koffer, sondern im Kopf – das englische „by heart“ ist das passende Wort dafür. Ich denke, es ist kein Wunder, dass Romane recht bald wieder aus dem Bewusstsein der breiten Leserschaft verschwinden. Romane sind ja vielmehr ihrer Zeit verhaftet, müssen vielmehr von der Atmosphäre einer bestimmten Epoche enthalten als etwa Dramen, die sozusagen zeitlose Geschichten erzählen. Romane liefern dagegen die „Prosa des Alltags“, wie Hegel es einmal formulierte. Dass solche Bücher dann auch leicht mit der Zeit sterben, die sie beschrieben haben, liegt auf der Hand. Ein Roman wird oft zum Erfolg, weil seine Zeit sich in ihm wiedererkennt. Ist diese Zeit dann vorüber, ist der Reiz des Buches für einen großen Teil der Leserschaft auch schon wieder erloschen. Für nachwachsende Generationen ist das Buch dann nur noch von dokumentarischem Interesse. Reich-Ranicki: Was Sie eben sagten, Herr Buch, trifft mit Sicherheit zu, nur hätte ich da zwei Ergänzungen. Erstens, kleinere epische Formen, zumal die Novelle, sind doch dauerhafter als Romane. Ich glaube, dass Gottfried Kellers Novellen immer noch etwas gelesen werden und nicht nur in der Schweiz – und einige Novellen von Storm liest man heute nicht nur in Schleswig-Holstein. Zweitens, dass Romane, die den Zeitgeist einfangen und bewusst machen, zusammen mit der dargestellten Epoche absterben, ist richtig, trifft aber in noch höherem Maße auf das Drama zu. Das expressionistische Drama, also Ernst Toller, Georg Kaiser, Walter Hasenclever – hat von 1910 bis etwa 1920 ein enormes Echo gehabt. Schon um 1930 empfand man diese Stücke als hysterisch, niemand wollte sie sehen. Ähnlich war es nach dem Zweiten Weltkrieg. Borcherts „Draußen vor der Tür“ war ein großes deutsches Ereignis – und zu Recht. Das Stück hat moralische und gesellschaftliche Fragen der ersten Nachkriegszeit ausgedrückt und damit das deutsche Publikum erschüttert. Zwanzig Jahre später war es beinahe vergessen – und das sollte man weder dem Theater noch dem Publikum vorwerfen.
Buch: Ich war in den Jahren, als Reich-Ranicki gerade in der Bundesrepublik anlangte, also Ende der fünfziger Jahre, Schüler am Beethoven Gymnasium in Bonn. Dort haben wir bis zum Abitur keineswegs das gelesen, was heute als die große Literatur dieser Jahre gilt. Selbst Kafka galt noch nicht als moderner Klassiker, sondern als umstritten. Sartre und Camus waren ebenfalls heftig umstritten. Man war damals mehr oder weniger der Überzeugung, Gegenwartsliteratur habe in der Schule nichts zu suchen, die las man unter der Bank. Selbst Brecht war noch nicht kanonisiert. Benno von Wiese benotete in meinem ersten Semester als Student eine Seminararbeit sehr schlecht, weil ich nachzuweisen versuchte, dass Brechts Parteinahme für den Kommunismus sehr wohl mit der spezifischen Poesie seines Werks zusammenhängt und dass man beides nicht so säuberlich trennen kann, wie das Benno von Wiese gern gehabt hätte. In dieser Zeit las man in der Schule, aber auch weit darüber hinaus Autoren, die heute vergessen sind. Werner Bergengruen zum Beispiel, Stefan Andres, Albrecht Goes. Die konservative Literatur der fünfziger Jahre, Reinhold Schneider gehört auch dazu, wird heute zu Unrecht vernachlässigt. Nicht nur die im Ausland lebenden oder nach Deutschland zurückgekehrten Autoren des Exils wurden damals durch den Erfolg der Gruppe 47 an die Wand gedrängt: Auch die Literatur der inneren Emigration und der konservativen Opposition gegen Hitler geriet nach dem Erscheinen der „Blechtrommel“ in Vergessenheit. Ein Buch wie Reinhold Schneiders Novelle „Las Casas vor Karl V.“ ist aber nach wie vor lesenswert, und es ist interessant, dass hier, ähnlich wie bei Andres und Bergengruen, der spanische Katholizismus als Vergleichs- und Bezugspunkt dient.
Reich-Ranicki: Ja, ja, es stimmt schon, nur habe ich den Verdacht, dass man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Werke der Autoren der „Inneren Emigration“ damals aus verständlichen Gründen stark überschätzt hat. Wenn sich heute jemand über diese Literatur äußert, was ja nur ganz selten passiert, dann in der Regel auf Grund einer mindestens zwanzig oder dreißig Jahre zurückliegenden Lektüre. Ich bin sicher, dass die abermalige Lektüre diesen Lesern eine herbe Enttäuschung bereiten würde. Ich glaube nicht, dass man diese historischen Romane, die eine mehr oder weniger deutlich erkennbare Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ enthalten, jetzt unbedingt wiederentdecken sollte.
Wittstock: Natürlich ist es ein wichtiger Grund für Leser, zu Büchern zu greifen, weil in diesen Büchern Dinge verhandelt werden, die sie persönlich bewegen. Es ist dies das Prinzip des tua res agitur, ein ganz wichtiger, respektabler und guter Grund, der das Interesse von Lesern an Literatur weckt. Doch gibt es andererseits auch Literatur, die dem Leser nicht seine eigene Welt, sondern ganz andere fremde Welten und Probleme vor Augen stellen will. Eine Literatur, die das Publikum für ferne, fremde oder vergessene Fragen zu interessieren versucht. Wäre es in diesem Sinne nicht doch möglich, oder wünschenswert, ein paar der vergessenen Bücher aus den fünfziger Jahren wieder hervorzuholen und dem Publikum erneut ans Herz zu legen?
Reich-Ranicki: Ich sehe da nur geringe Möglichkeiten. Die Verdienste Bölls sollen nicht geschmälert werden. „Wo warst du, Adam“ sowie „Und sagte kein einziges Wort“ sind ganz wichtige Bücher der fünfziger Jahre. Aber es hätte doch wohl keinen Sinn, für diese mittlerweile nun ganz historischen Romane die Trommel zu rühren – es würde nichts ergeben.
Buch: Ich habe die erwähnten Autoren auch damals schon im Deutschunterricht nur als Pflichtpensum, also ohne Vergnügen, gelesen. Wenn ich sagte, manches aus dieser Zeit sei zu Unrecht vergessen, meinte ich nicht, die gesamte Literatur der fünfziger Jahre müsse dringend wieder entdeckt werden. Aber um einzelne Bücher tut es mir schon leid: Ich las als Schüler mit roten Ohren die autobiografischen Romane von Peter Weiss, die heute auch weitgehend vergessen sind. Ich habe alles verschlungen, was Weiss schrieb, ich bin dann sogar nach Stockholm gefahren, um ihn kennen zu lernen. Dass er heute nur von wenigen noch gelesen wird, schmerzt mich schon. Wittstock: Kann man von Lesern verlangen, sich mit Büchern zu beschäftigen, die von Problemen handeln, die sie persönlich nichts oder nur wenig angehen? Reich-Ranicki: Wenn es sich um wirklich gute Literatur handelt, stellt sich diese Frage nicht. Natürlich sind auch bedeutende Romane zeitgebunden, aber es können sich auch Leser späterer Epochen in ihnen sehr wohl wiedererkennen. Das gilt, um hier nur ein Beispiel zu geben, für einen Roman aus den fünfziger Jahren, den ich für einen der schönsten nach 1945 halte – für Wolfgang Koeppens immer noch unterschätztes Buch „Tauben im Gras“.
Wittstock: Mitunter verschwinden Epochen aber auch schnell von der Bühne: Große Teile der osteuropäischen Literatur, auch der DDR-Literatur, handeln vom Leben im realen Sozialismus. Nun gehört der Ostblock der Vergangenheit an, und wir könnten uns auf den Standpunkt stellen, diese Literatur geht uns nichts mehr an, weil wir in einer anderen Welt leben. Reich-Ranicki: Viele unserer Rezensenten meinten in den sechziger- und siebziger Jahren, es sei angebracht, den Büchern aus der DDR einen besonderen Preisnachlass einzuräumen, sie wurden nach einem ermäßigten literarkritischen Tarif beurteilt. Was aus der DDR importiert wurde, hat man also meist gerühmt – vorausgesetzt, dass man in diesen Büchern Anzeichen der gewünschten politischen Gesinnung fand oder zu finden glaubte. Ich kann mir diesen Vorwurf nicht machen: Ich habe die Arbeiten der DDR-Autoren nicht nur als Zeitdokumente betrachtet, sondern sie immer auch nach ihrem literarischen Wert befragt. Aber ich fürchte, dass auch ich manche dieser Bücher überschätzt habe. Es ist ja sehr wenig, beinahe nichts geblieben. Wittstock: Aber ein paar Ausnahmen werden Sie doch wohl gelten lassen? Können Sie nicht wenigstens ein paar heute noch lesenswerte Bücher der Literatur der DDR nennen? Wie sehen Ihre Top Five der DDR-Literatur aus? Buch: Ganz oben steht für mich die „Unvollendete Geschichte“ von Volker Braun. Eine Novelle, die beeindruckend und spannend ist und heute noch mit Gewinn lesbar, wenn man wissen will, wie das Leben in der Stasi-durchsetzten DDR war. Dann die „Neuen Leiden des jungen W.“ von Plenzdorf, ein Buch, das nicht umsonst von Schülern zusammen mit „Werthers Leiden“ gelesen wird – auch wenn wir uns jetzt nicht darüber zu streiten brauchen, welches der beiden Bücher letztlich das bessere ist. Weiter: Die frühen Stücke von Heiner Müller, gerade die Aufbaustücke, in denen er den Parateiauftrag ernst nimmt. Diese Stücke sind von einer Bitterkeit, einem Zynismus, einer Vielschichtigkeit, dass man sie sehr wohl noch lesen kann. Viertens natürlich auch Franz Fühmann. Schließlich Christa Wolf, obwohl sich in der Tat einige ihrer Bücher mit den Zeitläuften erledigt haben. So was wie ihren „Geteilten Himmel“, das kann man heutzutage wirklich nicht mehr lesen.
Reich-Ranicki: In der Diktatur hat die Lyrik die größten Chancen. Von Peter Huchel wird einiges bleiben, auch das eine oder andere Gedicht von Bobrowski, ferner manche noch in der DDR entstandenen Gedichte von Sarah Kirsch, Günter Kunert und Wolf Biermann. Von der Prosa wohl Jurek Beckers „Jakob der Lügner“, aber auch Franz Fühmann, auf den ich übrigens schon 1958, als kein Mensch im Westen diesen Namen kannte, in der F.A.Z. nachdrücklich hingewiesen habe. An Christa Wolf habe ich nie recht glauben können. Ihr „Nachdenken über Christa T.“ hat mich damals, 1969, sehr beeindruckt, ich habe dieses Buch gelobt und gerühmt. Ich fürchte, es ist heute schwer lesbar. Buch: Es gibt noch viele andere wichtige Romane der DDR-Literatur. Die Romane von Christoph Hein zum Beispiel. Wir dürfen heute nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, nur weil es früher bei einigen Rezensenten einen Bonus für Texte gab, die aus der DDR kamen, dürfen wir diese Bücher jetzt nicht gleich alle auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Natürlich gab es zur Zeit der deutschen Teilung eine gewisse Verlogenheit unter den westlichen Kritikern der Literatur der DDR gegenüber, aber unter diesen Büchern gab es ja auch sehr respektable Leistungen – auch wenn es nicht gleich Geniestreiche waren. Ich denke da an Kurzgeschichten wie „Das Ende der Kindheit“ von Klaus Schlesinger, eine Geschichte über den Tag des Mauerbaus, die sogar in der DDR erscheinen durfte und keine Konzessionen macht, gleichzeitig aber auch nicht den westlichen Standpunkt vertritt. Ähnliches hat ja auch Uwe Johnson versucht. Wittstock: Um mit der Gegenwart zu enden: Die junge deutsche Literatur findet zurzeit sehr viel mehr Anerkennung bei Kritikern und Publikum als die entsprechende junge Literatur der siebziger, achtziger und frühen neunziger Jahre. Es scheint sich während der neunziger Jahre ein regelrechter Umschwung vollzogen zu haben. Woran liegt das?
Reich-Ranicki: Die jetzige Situation hat verschiedene Ursachen. Zunächst: Die Konkurrenz ist schwächer geworden, in der englischen, französischen oder italienischen Literatur findet sich jetzt nur wenig Nennenswertes. Andererseits sind zu unserer Literatur Autoren aus dem Osten hinzugekommen, die sich dort früher nicht recht artikulieren konnten und auch solche, die noch sehr jung sind und also erst in den letzten zehn Jahren zu schreiben begonnen haben. Wittstock: Müssen wir nicht außerdem erwähnen, dass Deutschland während der neunziger Jahre die Wiedervereinigung erlebt hat? Die jüngere Autorengeneration hat also hautnah ein wichtiges, hochinteressantes Stück Geschichte erlebt. Ist es da ein Wunder, dass sie auch wieder mit mehr Freude Geschichten erzählen möchte? Gibt es schon deshalb so etwas wie einen Mentalitätswechsel? Reich-Ranicki: Ja natürlich! Wittstock: Und wie würden Sie ihn beschreiben? Reich-Ranicki: Es ist eine Banalität, wenn man sagt, dass heute niemand die Schriftsteller hindert, alles Sexuelle darzustellen. Auch die Hemmungen der Autoren (übrigens beiderlei Geschlechts) sind in dieser Hinsicht geringer geworden oder sogar ganz verschwunden. Niemand imponiert den Lesern, wenn er das, was sich im Bett abspielt, genauestens beschreibt. Es gibt bei der jungen Generation häufig Überdruss an Sexualität ohne emotionalen Hintergrund. Der Slogan der 68-er Generation: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ ist heute undenkbar. Damit hängt es gewiss zusammen, dass in der Literatur der Gegenwart häufiger von der Liebe die Rede ist und noch häufiger von der Sehnsucht nach der Liebe. Buch: Die Resonanz der jungen deutschen Literatur – vor allem der Erzählerinnen – bei einer neuen Leserschicht lässt aufhorchen. Hier wirkt ein Denkanstoß nach, den Sie, Herr Wittstock, wenn ich mich recht erinnere, Anfang der neunziger Jahre gaben: eine neue Leserfreundlichkeit, nachdem die Autoren der damals mittleren Generation, vor allem die Nach-Achtundsechziger, sich ins Getto der Theorielastigkeit, der Schwerverständlichkeit oder formaler Experimente zurückgezogen hatten, die – bis hin zum „nouveau roman“ – schon anderswo ausprobiert worden waren. Als tragfähige und begehbare Brücke hin zum Leser dient heute oft die Kurzgeschichte, die jahrzehntelang vernachlässigt worden war. Interessanterweise knüpfen die jungen Autoren nicht an den von Hemingway oder Kafka verkörperten Typus von Kurzprosa an – einerseits die Parabel mit philosophischem Tiefgang, andererseits die atmosphärisch dichte Story, die mit Aussparungen und knappen Dialogen arbeitet und heute in den Journalismus oder die Werbung abgewandert ist, sondern an ältere Erzählmodelle: Ambrose Bierce, O’Henry, Carson McCullers, oder in der Gegenwart: Raymond Carver und John Updike. Kein Wunder, denn mit den Stilmitteln von Kafka oder Hemingway ließen sich zeitgenössische Themen wie die erotische Suche einer jungen Frau oder das Coming-out eines Homosexuellen kaum darstellen.
Das Interview erschien in der „Welt“ vom 14. Oktober 2000