John Updikes Hamlet-Roman – fast ohne Hamlet
Erstickt die Ehe alle Lust zwischen zwei Liebenden? Darf man wirklich hoffen, jahrzehntelang mit einem Menschen zusammenzuleben, in enger Vertrautheit, Treue und Intimität, und bei ihm trotzdem noch so etwas wie sexuelle Spannung, wie erotisches Fieber zu empfinden? Oder werden wir durch solche romantischen Erwartungen nur schmerzlich überfordert? Mündet also jede Liebe letztlich in den Verrat: entweder in den Verrat an der Lust durch die eheliche Treue, oder in den Verrat an der Treue durch Ehebruch? Werden wir folglich durch die Liebe, diese Himmelsmacht, und durch den Sex, diese sehr irdische Macht, unausweichlich zu Sündern gegen uns selbst oder gegen unsere Liebsten – und also, wenn man denn an ihn glaubt, auch zu Sündern vor Gott? Seit 40 Jahren hat John Updike Fragen wie diesen nachgespürt. Er ist darüber zu dem Chronisten der amerikanischen Gesellschaft geworden. Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie der Mittelstand zwischen New York und Arizona, zwischen Florida und Kansas lebt und liebt, wie man in den Kennedy-Jahren, der Vietnamzeit oder der Reagan-Ära, in der Epoche des New Age, der Yuppies oder Baby-Boomer begehrte, betrog und büßte, der kommt um die Lektüre von Updikes Büchern nicht herum. Ihn den Balzac unserer Jahre zu nennen, ist nicht übertrieben. Er hat die feinen Valeurs und oft unfeinen Fantasien, die nur eingebildeten oder lang verleugneten Krisen im Seelenleben eines Durchschnitts-Wohlstandsbürgers nicht einfach nur nachgezeichnet – er hat sie durch seine Kunst oft überhaupt erst sichtbar gemacht und ins allgemeine Bewusstsein gehoben. So darf man ihn, John Updike, getrost zu jenen Autoren zählen, die das 20. Jahrhundert literarisch erfunden haben. Was sucht ein solcher Schriftsteller im Dänemark des finsteren Frühfeudalismus? Was geschieht, wenn es sich ein solcher Autor in den Kopf setzt, nicht die Bungalows einer amerikanischen Suburb zum Schauplatz zu wählen, sondern den Königspalast von Helsingør, wenn er nicht von Autohändlern oder Werbefachleuten erzählt, sondern von brutalen Herrschern und alerten Thronräubern, von hinterhältigen Hofschranzen und lieblichen Prinzessinnen? An einen solchen Ausflug zu fernen literarischen Ufern wagt sich Updike in „Gertrude und Claudius“. Thema sind die Vorgeschichten von Shakespeares „Hamlet“, jene Geschehnisse und Intrigen also, die der ersten Szene des Stückes vorausgehen. Updike reiht sich damit ein unter jene namhaften Autoren, die – von Stendhal über Dumas und Turgenjew bis Gerhard Hauptmann und Döblin, Tom Stoppard und Heiner Müller -, gebannt durch das vielleicht größte Drama der Weltliteratur, den Hamlet-Stoff auf ihre je individuelle Weise bearbeiteten. Schon die Exposition der Geschichte zeigt, worauf sich Updike eingelassen hat. Nichts von dem, was zu diesem Auftakt gehört, wäre denkbar unter den bürgerlich geordneten Suburb-Verhältnissen, in denen sich seine Helden sonst bewegen: Die 16-jährige Gertrude wird von ihrem Vater, dem dänischen König, aus Staatsräson in die Ehe mit einem fast doppelt so alten Horwendil gezwungen, der sich durch diese Verbindung Hoffnungen machen darf, zum Thronfolger zu avancieren. Horwendils jüngerer Bruder Claudius, der aus ganz unpolitischen, romantischen Gründen ein Auge auf Gertrude geworden hat, verlässt das Land, um als Abenteurer durch Europa zu streunen. Erstaunlich ist, wie wenig Updike das fremde literarische Terrain ausmacht, auf dem er sich erzählerisch bewegen muss. Gelassen nimmt er die historischen Prämissen seines Stoffes in Kauf, die es gebieten, das Leben einer Prinzessin nur unter heiratspolitischen Gesichtspunkten zu betrachten, um dann mit seiner ganzen Erfahrung und psychologischen Kennerschaft die Strukturen einer kühlen, mitunter lieblosen, immer aber von gegenseitigen Respekt geprägten – bürgerlichen – Ehe nachzuzeichnen. Gertrudes Blick auf Claudius ist nie der einer Feudalherrin auf den König an ihrer Seite, sondern immer der einer Frau des 20. Jahrhunderts, die mit Verblüffung und ein wenig Mitleid registriert, wie sehr sich ihr Mann in seiner Arbeit verliert und emotional erschöpft. Natürlich könnte man Updike aus all dem einen Vorwurf machen, könnte ihm vorhalten, dass er seine Figuren letztlich ahistorisch zeichnet. Unter den altertümlichen Kostümen stecken Mittelstandsamerikaner, die auf die Zumutungen, die das Leben am Hof von Helsingør für sie bereit hält, reagieren, wie man heutzutage auf die Widrigkeiten des Lebens reagiert. Nie ist bei Gertrude etwas von den Denkformen ihres Jahrhunderts, nie aristokratischer Stolz oder auch Dünkel zu spüren, immer dagegen das aufgeklärte, zwar verständnisvolle, aber tief melancholische Verhältnis einer liebesbedürftigen Frau zu ihrem gefühlsarmen Mann. Doch wenn man sich darauf einlässt, in diesem Roman mehr über unsere Gegenwart zu erfahren als über die Menschen zur Zeit Hamlets, entdeckt man seine Qualitäten. Vor allem das ebenso behutsame wie besonnene Liebeswerben von Claudius, der nach Jahrzehnten an den dänischen Hof zurückkehrt, ohne seine Leidenschaft für Gertrude überwunden zu haben, sein gefühlssicherer Wechsel zwischen Bedrängen und Zögern, Schenken und Fordern, ist mit großem psychologischen Raffinement inszeniert. Updikes Roman ist ein eigenwilliges Kabinettstück, eine gekonnte Spielerei eines unbestreitbaren Meisters. Aber er ist kein unbestreitbares Meisterstück. Er zeigt, mit welch sparsamen Mitteln dieser Autor Atmosphäre schaffen, psychologisch spannende Geschichten erzählen und glaubwürdige Charaktere entwerfen kann – allerdings Charaktere unserer Gegenwart. Vielleicht war es deshalb auch klug von ihm, seine Geschichte vor dem großen, letztlich todbringenden Auftritt Hamlets zu beenden. Denn diese Figur und ihre Konflikte – noch dazu in literarischer Konkurrenz zum übermächtigen Shakespeare – ließen sich vermutlich kaum ohne schmerzlich spürbare Defizite einem seiner liebevoll gezeichneten Duchschnitts-Wohlstandsbürgern anverwandeln.
John Updike: „Gertrude und Claudius“. Roman Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001 240 Seinten, 39,92 Mark.