„Der menschliche Makel“

Philip Roth erzählt von einem Schwarzen, der das Leben eines Weißen lebt

Was für ein Roman! Was für ein ungeheurer, großartiger, menschenkluger Roman! Philip Roth, diese hoch empfindsame Kämpfernatur unter den amerikanischen Erzählern, hat für vier seiner jüngsten Bücher vier der wichtigsten Literaturpreise seines Landes bekommen. Für ihn scheint es kein Halten mehr zu geben beim Aufstieg auf der nach oben offenen Skala schriftstellerischer Meisterschaft. Roth, der mit „Goodbye, Columbus“ und „Portnoys Beschwerden“ als junger Mann bereits zum Weltstar wurde, der sich zwischendurch immer wieder mal in Spiegellabyrinthe literarischer Selbstreflexion zurückzog, legt seit einem knappen Jahrzehnt ein Spätwerk hin, das seine Kollegen vor Neid erblassen und seine Leser vor Glück erröten lässt. Wer ist Coleman Silk? Im Grunde versucht Roths neuer Roman „Der menschliche Makel“ nichts anderes, als eine Antwort auf diese Frage zu finden. Silk ist ein gut 70-jähriger jüdischer Professor, der sein halbes Leben lang an einem Ostküsten-College Altphilologie lehrte. Als Dekan hat er für das College eine Menge Kastanien aus dem Feuer geholt, sich aber auch eine Menge Feinde gemacht. Einige dieser Feinde blasen eine harmlose Bemerkung Silks, von der sich zwei farbige Studenten diskriminiert fühlen, zum Skandal auf. Silk verteidigt sich aggressiv und bissig. Doch als seine Frau überraschend stirbt, zieht er sich verbittert von dem College zurück. Ist Coleman Silk also ein Rassist? Oder ein Opfer engstirniger Anschuldigungen? Dieser Auftakt von Roths neuem Roman klingt noch nicht sehr originell: Ein weiteres Campusdrama, ein weiteres Trauerspiel um die absurden Folgen der political correctness, des Lieblingsfetischs öffentlicher amerikanischer Debatten. Doch dieser leicht konventionelle Beginn ist letztlich nur das formale Pendant zu dem konventionellen Eindruck, den Coleman Silk und sein Leben auf den ersten Blick machen. Auf den zweiten Blick ist alles ganz anders. Denn Coleman Silk ist weder ein Jude noch ein Weißer. Er ist ein Schwarzer mit ungewöhnlich heller Haut. Als Sohn schwarzer Eltern wuchs er in den Zeiten der Rassentrennung unter Schwarzen auf. Doch sobald er die Demütigungen und beruflichen Nachteile, denen ein Schwarzer seines Jahrgangs ausgesetzt war, zu spüren bekommt, trifft er eine rabiate Entscheidung: Beim Eintritt in die U.S. Navy gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verleugnet er seine Herkunft, bricht mit seiner schwarzen Familie und lebt fortan das Leben eines Weißen. Da er in seiner Jugend im Boxclub viel Zeit mit jüdischen Altersgenossen verbrachte und er sich in eine Jüdin verliebt, gibt er sich zudem als Jude aus, studiert Altphilologie – das denkbar „weißeste“ Fach – und macht eine von Rassenressentiments nicht weiter beeinträchtigte Karriere. Wer also ist Coleman Silk? Ein Mensch, der darauf besteht, nicht nach seiner Hautfarbe beurteilt zu werden, sondern nach seiner Persönlichkeit? Zu seiner Zeit hätte er schwerlich eine Chance gehabt, Professor zu werden, ja kaum Gelegenheit, das Fach zu studieren, an dem sein Herz hing. Oder ist er ein Mensch, der – als sich in den USA die großen Konflikte zwischen Schwarzen und Weißen anbahnten – schlicht den bequemeren, persönlich vorteilhafteren Weg eingeschlagen hat? Was ist das für ein Mensch, der seine Vergangenheit hinter sich lässt wie einen ausgelutschten Kaugummi, der seiner Mutter ins Gesicht sagt, dass er sie nie wieder sehen will, weil er durch sie als Schwarzer erkennbar wird? Was ist das für ein Leben, in dem Silk – einem alten amerikanischen Traum folgend – sich vollkommen neu und ganz aus eigener Kraft selbst zu erfinden versucht? Gründlicher und ernster lässt sich die Frage, was Identität ist und wie sie konstruiert wird, wohl kaum stellen. Dennoch wirkt Roths Romanhandlung nie künstlich oder an den Haaren herbeigezogen. Schicksale wie die Silks hat es in Amerika tatsächlich gegeben, nicht zuletzt im Literaturbetrieb. 1990 starb der Kritiker Anatole Broyard – als Rezensent der „New York Times“ einer der bekannten Literaturjournalisten des Landes -, der zeitlebens als Weißer auftrat, aber schwarze Eltern hatte. Selbst in seiner Autobiografie („Verrückt nach Kafka“. Berlin Verlag, Berlin 2001, 189 Seiten 18 Euro) und selbst den eigenen Kindern gegenüber versuchte er, sein Geheimnis zu wahren. Es gibt einen Haufen Hinweise, dass sich Roth für seinen Roman durch Anatole Broyards Leben hat anregen lassen. Der deutlichste ist, dass Coleman (im Namen schwingt „coal“ mit, „Kohle“, das schwärzeste Schwarz) Silk ebenso wie Broyard seine kulturellen Prägungen im New Yorker Greenwich Village der späten vierziger, frühen fünfziger Jahre erlebt. Die Zeit der Beat-Poeten, des Jazz, der frühen, noch zaghaften Jugendrebellionen und des forcierten Individualismus bestärken Silk in der Idee, sich zum alleinigen Herren seines Geschicks zu machen und keinerlei Einschränkungen durch seine Geburt zu akzeptieren. Doch trotz seiner perfekten Mimikry ans weiße akademische Milieu kann Silk die Spuren seiner Herkunft nicht abschütteln. Seine Aggressivität, seine Kompromisslosigkeit, seine Rothsche Kämpfernatur lässt noch immer spüren, dass er einst einer diskriminierten Minderheit angehörte, der nichts geschenkt wurde. Als Dekan verleiht ihm dies das nötige Durchsetzungsvermögen, um das College in Schwung zu bringen. Doch als man ihm, einem heimlichen Schwarzen, vorwirft, Schwarze abfällig zu behandeln, ist es gerade seine Boxermentalität, die es ihm unmöglich macht, die Vorwürfe still zu entkräften. Stattdessen steigt er in den Ring, verteidigt sich lautstark und herausfordernd und schürt so den Skandal immer mehr. Wer also ist Coleman Silk? Was macht einen Menschen aus? Das Bild, das der Menschenkenner Philip Roth entwirft, hält sich fern von allen modischen Einseitigkeiten, die unsere Persönlichkeit allein als Ergebnis sozialer Konstruktion ausgeben oder allein als Produkt der Gene betrachten – mit deren Entschlüsselung das Buch des Lebens ohnehin enträtselt sei. Doch damit gibt sich Roth nicht zufrieden, sein Roman versucht, noch tiefer „in das Leben in all seiner schamlosen Schlüpfrigkeit“ einzudringen: So, als wolle er den Skandal selbst nach seinem Ausscheiden aus dem College weiter anheizen, lässt sich der gut 70-jährige Altphilologe Silk auf eine Affäre mit einer gerade 34-jährigen Putzfrau ein, die angeblich weder lesen noch schreiben kann. Eine Konstellation, die Roth Gelegenheit gibt, seinem ganzen jugendfrischen Hass auf die Prüderie und Selbstgerechtigkeit großer Teile der amerikanischen Bevölkerung freien Lauf zu lassen. In seinen Augen hat sich seit Hawthornes Zeiten an der amerikanischen Neigung zur Bigotterie und Hexenjagd kaum etwas geändert. Nicht zufällig siedelt er die Romanhandlung im Sommer 1998 an, als Bill Clinton wegen seines gänzlich unpolitischen Fehltrittes mit Monica Lewinsky um ein Haar sein Präsidentenamt verloren hätte. Die ganze Wahrheit über Coleman Silk kennt nämlich nicht einmal Coleman Silk. Ein Teil davon wird ihm erst von der unstandesgemäßen Putzfrau Faunia (in ihrem Namen schwingt „Fauna“, die Welt der Tiere, mit) ins Bewusstsein gerückt. Nicht zarte Liebe ist es, die diese beiden aneinander kettet. Auch nicht der Trost, den sich zwei soziale Außenseiter – der stigmatisierte Professor und die Analphabetin – gegenseitig spenden. Es ist der Sex, der sie wider jede Klugheit aneinander festhalten lässt, es ist die bloße, nackte Kraft animalischer Triebe. Und dieser Grund ist, so macht Roth unmissverständlich klar, nicht schlechter als andere Gründe, denn Sex ist ein vitaler, unersetzbarer Teil des Menschen. Der Roman „Der menschliche Makel“ erweist sich damit auch als eine groß angelegte Verteidigungsrede des Körpers gegen die angeblich guten Sitten, eine Apologie der Lust gegen die Vernunft, des anarchischen Eros gegen jede soziale Ordnung. Zur Größe und Schönheit dieses Romans gehört nicht zuletzt, dass es Roth gelingt, nicht nur den beiden Helden Coleman und Faunia, sondern auch deren Feinden gerecht zu werden. Er vermag dem Leser die Seele einer gehemmten akademischen Karrieristin ebenso plausibel aufzuschließen wie die eines paranoiden, gewalttätigen Vietnam-Veteranen. Aber er verurteilt seine Figuren nicht und raubt ihnen nicht jedes Geheimnis. Gegen Ende des Buches erfährt der Erzähler beispielsweise, dass Faunia, die Analphabetin, ein Tagebuch geschrieben hat, das er nur zu gern lesen würde, das er aber nicht in seinen Besitz bringen kann. Mit diesem Kunstgriff erreicht Roth zwei gegensätzliche Ziele zugleich: Er lässt seine Geschichte noch realistischer wirken und sät beim Leser zugleich gezielt Zweifel an ihrer Authentizität: „Ich kann nur tun“, schreibt Roth, „was jeder tut, der zu wissen glaubt. Ich stelle mir etwas vor. Ich bin gezwungen, mir etwas vorzustellen. Das ist zufällig das, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Es ist mein Beruf.“ „Der menschliche Makel“ zeigt mithin nicht nur, welches unerforschliche Rätsel jeder einzelne Mensch für immer bleibt. Das Buch zeigt auch, mit welch einfachen Mitteln ein wahrer Meister seines Faches wie Philip Roth das traditionelle Erzählen samt Figurenpsychologie und spannender Handlung mit der strengen Forderung der literarischen Moderne nach perspektivischer Wahrheit vereinen kann. Was für ein Roman! Was für ein ungeheurer, großartiger, menschenkluger Roman!

Philip Roth: „Der menschliche Makel“. Roman Hanser Verlag, München 2002. 399 S., 24,90 Euro.

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