Die Schriftsteller debattieren über den Balkan-Krieg und begnügen sich nicht mehr mit starken Gesinnungen
„Wer ein Volk als Geisel nimmt, um seine Interessen durchzusetzen, ist ein Volks- und Kriegsverbrecher. Das serbische Volk ins Elend zu bomben, war so ein Verbrechen. Das afghanische Volk ins maßlose Elend zu stürzen und den korrupten Banditenhaufen, der sich Nordallianz nennt, an die Macht zu bomben, ist ein solches Verbrechen“, schreibt der Schriftsteller Franz Xaver Kroetz, und er schreibt auch, wer in seinen Augen die Verantwortung für diese Verbrechen trägt: die USA. Ähnliche, wenn auch nie derart platt formulierte Proteste gegen den Krieg in Afghanistan waren in den letzten Tagen von zahlreichen Schriftstellern zu lesen: von Rolf Hochhuth zum Beispiel, von Walter Jens, Christoph Hein, Walter Kempowski oder Martin Walser. Es ist gar nicht so einfach, all die Fakten aufzuzählen, die in Kroetz‘ Polemik übergangen, verfälscht oder verschwiegen werden. Eine Auswahl: Dass der Serbe Milosevic zunächst Kroatien, Bosnien und die Kosovo-Albaner angriff; dass Afghanistan anfangs von der Sowjetunion besetzt und ins Elend gestürzt wurde; dass die USA einen Terrorschlag ohnegleichen erlitten, und die Taliban dessen Drahtzieher nicht ausliefern; dass die Afghanen die Vertreibung der Taliban bejubeln. Kroetz stellt die politische Situation also, anders als man das von einem Schriftsteller erwarten sollte, nicht differenzierter, sensibler, durchdachter dar als ein Politiker, sondern entschieden schlichter – und mit ihm tun das manche seiner Kollegen. Man wird, bei aller Sympathie, die man für diese Autoren ihrer unbezweifelbaren literarischen Verdienste wegen empfindet, den Verdacht nicht los, dass sie es sich mit einigen ihrer Verlautbarungen recht einfach machen. Fast nirgendwo waren in den öffentlichen Erklärungen deutscher Schriftsteller zu den Folgen des 11. Septembers neue Erkenntnisse oder überraschende Argumente zu finden. Statt dessen fanden sich darin erstaunlich stereotype Schuldzuweisungen, geringe Tatsachenkenntnis und eine beträchtliche Neigung, trotz der gründlich veränderten Weltlage seit 1989, sich mit pathetischen Worten eine lang schon gepflegte Gesinnung wieder einmal öffentlich zu bestätigen. Das ist, um das mindeste zu sagen, intellektuell unbefriedigend. Die hier veröffentlichte Erklärung Berliner Schriftsteller zugunsten „der Bundesregierung im Afghanistan-Konflikt“ bringt, wenn auch keine neuen Argumente, so doch einen frischen Wind in die Debatte. Die Kritiker des Afghanistan-Krieges nehmen für sich gern den Status des Dissidenten oder – wie es in den fünfziger und sechziger Jahren hieß, in denen viele von ihnen ihre politischen Prägungen erfuhren – des Non-Konformisten in Anspruch. Doch werden sie heute mit ihren Friedens-Appellen in einigen der auflagestärksten Zeitungen und Zeitschriften des Landes gedruckt, sie haben es mit ihrem Protest im „Stern“ sogar auf das Titelblatt gebracht. Die Unterstützer der Bundesregierung dagegen, die sich jetzt artikulierten, wurden publizistisch bislang wenig umworben und sind eines mit Sicherheit: Non-Konformisten innerhalb unseres literarischen Betriebes, die sich dagegen verwahren, dass bei einem solch brisanten Thema irgend jemand „im Namen der deutschen Schriftsteller“ zu sprechen sich anmaßt. Noch grundsätzlicher gefragt: Welche Rolle können Schriftsteller heute in einer funktionierenden liberalen Demokratie überhaupt spielen, wenn entscheidende politische Fragen öffentlich kontrovers diskutiert werden? Was bringt eine mehr oder weniger brillant formulierte Stellungnahme für oder gegen den Krieg in Afghanistan, wenn solche Stellungnahmen täglich zu Dutzenden von Politikern, Schauspielern, Schlagerstars oder Talkmastern abgesondert werden? Bereichern sie wirklich noch den Prozess der Meinungsbildung, oder sind sie eher Teil eines prominenzsüchtigen literarischen Showbusiness? Schriftsteller sind, genau betrachtet, Fachleute der unvoreingenommenen Wahrnehmung und des schriftlichen Formulierens dieser Wahrnehmungen. Wenn Sie also bei Entscheidungen über Krieg und Frieden einen spezifischen, nur ihnen möglichen Beitrag leisten können, besteht er wohl nicht darin, die täglich einlaufenden Meldungen mit weltanschaulichen Randbemerkungen zu versehen. Ihr Beitrag müsste eher sein, am umstrittenen Geschehen teilzunehmen, also zu erleben, worüber andere nur debattieren, um dann mit diesen Erfahrungen die wohlgeordneten Frontlinien der politischen Diskussionen durch unerwartete Erkenntnisse durcheinander zu bringen. Gerade in angelsächsischen Ländern stehen Schriftsteller, die viel von der Welt gesehen haben, bevor sie über die Welt zu schreiben beginnen, in hohem Ansehen. V. S. Naipaul, der diesjährige Literaturnobelpreisträger, ist ein vorzügliches Beispiel für diese literarische Tradition: Seine Reportagebücher aus der Karibik, aus Afrika und aus der islamischen Welt stehen oft quer zu den gewohnten politischen Argumentationsmustern, aber sie quellen über von persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen – was sie so lehrreich und für Ideologen jeglicher Couleur so unbequem macht. Gerade auf Kriegsschauplätzen haben amerikanische und englische Schriftsteller nicht nur einige ihrer besten literarischen Stoffe gefunden, sondern immer auch Nachrichten, die zu den geläufigen politischen Überzeugungen in ihrer Heimat nicht passten: George Orwell und Hemingway aus dem spanischen Bürgerkrieg, Norman Mailer aus dem Zweiten Weltkrieg, John Steinbeck und Graham Greene aus Vietnam, John Le Carré aus dem Libanon und Kaukasus. Das Bewusstsein für die literarische Aufgabe, nicht die eigene Gesinnung hochzuhalten, sondern den vielen und oft gebrochenen Wahrheiten der Kriege an den Schauplätzen der Schlachten selbst nachzuspüren, war in der Literatur der Bundesrepublik nur wenig ausgeprägt. Hans Magnus Enzensberger war lange Zeit einer der wenigen Weitgereisten, der gelegentlich von anderen Kontinenten überraschende Nachrichten mitbrachte. Doch seit 1989 scheinen sich auch hier die Dinge zu ändern: Bodo Kirchhoff beispielsweise war dabei, als die Bundeswehr zu ihrem Einsatz nach Somalia flog, und erlebte den Sturz der Diktatur auf den Philippinen. Peter Schneider hat sich ausführlich in Jugoslawien informiert, bevor er über den Krieg auf dem Balkan schrieb. Und Hans Christoph Buch hat jetzt „Blut im Schuh“ veröffentlicht, einen Band mit seinen Kriegsreportagen, der bedrängender als alle wohlmeinenden moralischen Appelle die Grausamkeit, aber mitunter auch die Unvermeidbarkeit von Kriegen beschreibt. Vielleicht sind dies erste Zeichen dafür, dass die deutschsprachigen Schriftsteller mehr und mehr das Ghetto gesinnungsstarker, aber letztlich realitätsferner Literatur verlassen. Es wäre ein weiterer Schritt auf Deutschlands langem Weg nach Westen.