Michael Roes lässt es Mark Twain übel ergehen. Melville kommt dafür besser weg
Seit langem ist mir kein Buch mehr so mächtig auf die Nerven gegangen wie „Haut des Südens“ von Michael Roes. Die Leidenschaft des Autors zielt offenbar darauf, seine Leser einerseits zu schulmeistern und ihnen andererseits, gleichsam als Entschädigung, ein Gefühl moralischer Überlegenheit zu vermitteln. Diese Neigung mischt sich mit einer wirklich staunenswerten Überheblichkeit und einem intellektuellen Imponiergehabe, das mir so affig vorkommt wie ein Erwachsener auf einem Kickboard. Was Roes schreibt – und was nicht wenige Kritiker bejubeln -, ist in meinen Augen purer Ethno-Kitsch. Ich will versuchen zu begründen, weshalb. Ein unerschöpfliches Lieblingsthema unserer zeitgenössischen Debatten ist der Gegensatz zwischen „dem Eigenen“ und „dem Fremden“. Man kann, wenn man will, die Ethnologie als heimliche Leitwissenschaft dieser Diskussionen betrachten. In diesem Areal hat Roes seinen literarischen Claim abgesteckt und wird deshalb gern als Ethno-Poet gehandelt. In „Haut des Südens“ schickt er einen Ich-Erzähler an den Mississippi, um dort den Lebensspuren von vier amerikanischen Schriftstellern und einem Bürgerrechtler nachzuspüren: Mark Twain, Melville, Faulkner, Hemingway und Martin Luther King. Die einzelnen Kapitel sind formal betont anspruchsvoll gestaltet, der Teil über Martin Luther King gar in freirhythmischen Versen gehalten – beziehungsweise im Flattersatz gedruckt. Das Ganze will offenbar eine Mixtur aus autobiografisch fundiertem Reisebericht und literaturhistorischem Essay sein. Was mir bei all dem besonders auf den Wecker fiel, ist die denunziatorische Grundtendenz des Buches. Denn Roes untersucht in „Haut des Südens“ in erster Linie die Spuren, die der Rassenkonflikt zwischen Weißen und Schwarzen in den Büchern der vier Schriftsteller hinterlassen hat. Da er in entscheidenden Punkten streng unhistorisch vorgeht, gelingt es Roes schnell, die Delinquenten bei irgendwelchen Bemerkung zur Sklaverei in den Südstaaten zu ertappen, die nicht den Sprach- und Denkregelungen von heute entsprechen. Woraufhin sie bei ihm nichts mehr zu lachen haben. Besonders übel ergeht es Mark Twain. Offenbar ist Roes der Meinung, dass Twain in „Huckleberry Finn“ eher harmlose Aspekte der Sklaverei darstelle und die schwarze Hauptfigur „Nigger Jim“ neben dem weißen Titelhelden ein wenig dümmlich ausschauen lasse. Das sind zwar keine ästhetischen Kriterien, beides genügt ihm aber für komplettes literarisches Verdammungsurteil: Hätte Twain nur, wird da während der Recherchen aufgestöhnt, „ein wenig mehr Talent gehabt und aus den brutalen Tatsachen nicht eine amüsante Lausbubengeschichte machen müssen“. Es braucht schon eine Menge Selbstüberschätzung, wenn ein Schriftsteller von durchaus überschaubarer Ausstrahlungskraft dem alten Kollegen Mark Twain Mangel an Talent vorwirft und „Huckleberry Finn“ eine amüsante Lausbubengeschichte nennt. Darf man daran erinnern, dass für Roes im Deutschland von heute jede publizistische Stellungnahme gegen Sklaverei weitaus preisgünstiger zu haben ist, als für Twain im Amerika des 19. Jahrhunderts? Herman Melville kommt bei Roes besser weg. Den weißen Ishmael und den farbigen Queequeg verbindet in „Moby Dick“ eine weitgehend gleichberechtigte Freundschaft, was Roes selbstverständlich für literarisch angemessener hält. Doch mutet er dem Leser auch in diesem Kapitel wahrhaft Haarsträubendes zu. Zwei Beispiele: Angesichts eines im Museum aufgestellten Tipis schwingt sich Roes zu einer Ethno-Ode ohnegleichen auf: Er schwärmt von dem „Haus aus Häuten“, das seinen Bewohnern Gelegenheit gibt, „die Wärme und den Puls der Erde am Ohr zu erleben“ und bedauert uns Sesshafte für unser „Eingemauertsein, Haut ist ersetzt durch Stein, Frauen sind die Besitzer der Zelte, Männer Eigentümer der Häuser“. Einmal abgesehen davon, dass sich unter uns Sesshaften unzweifelhaft auch Hausbesitzerinnen finden lassen, versichern Ethnologen glaubhaft, dass die Besitzverhältnisse bei Nomaden nicht so übersichtlich geregelt sind wie Roes behauptet: Mal gehören die Zelte den Frauen, mal den Männern, mal dem Stamm – ganz verschieden von Volk zu Volk. Zweites Beispiel: „In der Beziehung zwischen Ahab und Moby Dick“, so schreibt Roes allen Ernstes, „dient das sexuelle Begehren allein dem Streben nach Vorherrschaft, während ihm in der Freundschaft zwischen Queequeg und Ishmael eine katalysierende Kraft zuwächst.“ Entzückend. Nicht nur Ahab richtet sein sexuelles Begehren auf einen Wal, sondern auch Moby Dick seinen Fortpflanzungstrieb auf einen alten Kapitän mit Holzbein? Vielleicht wäre es anstelle solcher zoophiler Fantasien besser gewesen, Roes hätte über seinem Porträt von Queequeg als edlem Wilden nicht aus den Augen verloren, dass Queequeg der Harpunier auf Ahabs Schiff ist – also durchaus auch einiges Begehren auf Wale richtet, wenn auch vermutlich kein sexuelles. Was Roes‘ Buch so ärgerlich macht, ist die Attitüde, mit der er kämpferisch für die von der Gesellschaft Ausgegrenzten und Gebrandmarkten zu Felde zu ziehen vorgibt. Da wird kein modisches Klischee ausgelassen: Roes ist für die Schwarzen, die Nomaden, die Fremden, die Frauen, die Homosexuellen, die Wale und natürlich „die Wärme und den Puls der Erde“. Er wirft sich mit großer Geste in die Pose des Rebellen – bedient aber bei genauerem Hinsehen nur sklavisch die politisch korrekten Erwartungen unserer öffentlichen Debatten von gestern. Ich glaube, letztlich ist Roes‘ Buch ein wunderbares Beispiel dafür, dass sich der Geist der „Gartenlaube“ bis in unsere Multikulti-Epoche gerettet hat.
Michael Roes: „Haut des Südens“. Eine Mississippi-Reise Berlin Verlag, Berlin 2001 260 S., 36 Mark.