Urvater der Postmoderne: John Barth und sein erster Roman
Todd Andrews ist ein geheimnisvoller Mann. Ein Rätsel nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst. Aus welchem Grund hat er an einem sonnigen Juni-Morgen des Jahres 1937 eine tiefgreifende Entscheidung getroffen – nämlich die, sich umzubringen – und die Entscheidung dann doch nicht ausgeführt? Von einem ziemlich handfesten Versuch abgesehen, der beträchtliche Kollateralschäden hätte nach sich ziehen können. Wie trifft man Entscheidungen, und wie oder warum ändert man dann wieder seine Meinung? 17 Jahre lang hat Todd Andrews solchenFragen nachgesonnen, bevor er als wohlbestallter Rechtsanwalt von 54 Jahren beginnt, jenen Juni-Tag erzählend als Roman zu rekonstruieren, um sich selbst und seinen Entscheidungen auf die Spur zu kommen. Ein solches Buch ist natürlich beides zugleich, todernst und nicht ganz ernst gemeint – zumindest, wenn es von John Barth stammt, einem der wenigen großen amerikanischen Romanciers, die sich trotz respektabler Erfolge in ihrer Heimat bei uns nie durchsetzen konnten. Die schräge, mit Philosophie eher spielende als philosophieschwere Geschichte über Todd Andrews war das erste Buch, das Barth publizierte, im Alter von 26 Jahren, und das ihm gleich eine Nominierung für den National Book Award eintrug. Seither zählt Barth neben Leslie A. Fiedler, Susan Sontag, Thomas Pynchon und William Gaddis zu den Autoren, die als erste jene Zweifel an den Grundüberzeugungen der literarischen Moderne formulierten, die wir heute unter dem ausgefransten Begriff Postmoderne zusammenfassen. So treiben den Anwalt Todd Andrews in seinem Buch die typischen Zweifel der Moderne am Geschichtenerzählen um, also am kunstvollen Verknüpfen von Ereignissen zu zielgerichteten, kohärenten Handlungen. Denn wenn sich für einen Romanhelden nicht einmal mehr ausmachen lässt, weshalb er seine wesentlichste Lebensentscheidung trifft, die Entscheidungen zwischen Sein oder Nicht-Sein, wie soll das Verhalten der Menschen in einem Roman überhaupt noch überzeugend motiviert werden? Doch anders als die Autoren der Moderne gibt Barth deshalb das Erzählen nicht einfach auf, sondern strickt aus eben jenen Zweifeln und dem Zweifler selbst eine funkelnde, hoch intelligente, schwungvolle und amüsante Geschichte. Für dieses Erzählen über die Zweifel am Erzählen haben Literaturwissenschaftler später das Etikett „Metafiction“ geprägt. Was bietet Andrews nicht alles auf, um sich über die Ursachen seines Todeswunsches klar zu werden: seine Herzkrankheit, seine Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg, den Selbstmord seines Vaters, das Verhältnis mit der Frau seines besten Freundes und Klienten. Keiner dieser Gründe ist zwingend, aber über jeden weiß Andrews so wunderbar zu erzählen, dass man sich als Leser an jenem großen unlösbaren Rätsel des Warum schlicht und herzerwärmend zu freuen beginnt.
John Barth: „Die schwimmende Oper“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Matthias Müller
Verlag Liebeskind, München 2001 331 S., 39,02 Mark