Zur Debatte um die Kleistpreisträgerin Judith Hermann
Es ist immer schön, auf Leute zu treffen, die ganz genau Bescheid wissen. Dorothea Dieckmann zum Beispiel weiß genau Bescheid, was Literatur ist und was Trivialliteratur (siehe „Die Zeit“ vom 22. November). Und weil sie das so genau weiß, möchte sie, dass die Grenze zwischen beidem auch öffentlich wieder messerscharf gezogen wird, damit – was ihr große Sorgen bereitet – „nicht länger neben Reinhard Jirgl und Elfriede Jelinek eine Zoë Jenny, neben Wolfgang Hilbig oder Peter Handke eine Judith Hermann, neben W. G. Sebald die Plattitüden eines Dietrich Schwanitz oder ein Romänchen von Elke Schmitter und neben Brigitte Kronauer etwa der Berufspubertäre Christian Kracht oder die Altmännerbekenntnisse eines Hellmuth Karasek stehen.“ Schön, wie gesagt, dass es jemanden gibt, der so genau Bescheid weiß, schön, dass es sie immer noch gibt, diese Platzanweiser unseres Kulturbetriebs, die eifrig darüber wachen, wer neben wem stehen darf und wer nicht. Nun wurde aber just am vergangenen Wochenende Judith Hermann, also einer jener Autorinnen, die Dorothea Dieckmann vom Höhenkamm der Literatur ins Flachland der Trivialliteratur verdammt, durch Michael Naumann – den ehemaligen Kulturstaatsminister und jetzigen Herausgeber der „Zeit“ – mit dem Kleistpreis eine der wichtigsten Literaturauszeichnungen des Landes zugesprochen und verliehen. Offenbar gibt es also Menschen, die zu anderen ästhetischen Urteilen kommen als Dorothea Dieckmann, obwohl die doch so genau Bescheid weiß – und so wächst die Neugier (beim Autor dieser Zeilen vor allem mit Blick auf Judith Hermann), all die vielen sorgfältig erwogenen Kriterien kennen zu lernen, die sie in ihrem Urteil so sicher, so unerschütterlich machen. Allein, sie hat keine. Zumindest gibt sie uns über diese keine Auskunft. Sie weiß zwar eine Menge Übles über Schriftsteller zu sagen, die sie augenscheinlich nicht mag – so zum Beispiel, dass es die „kühle Sinnlichkeit“ junger Autorinnen gebiete, „mit dem Freund der besten Freundin zu schlafen“ – doch wie sie zu ihren bemerkenswerten Überzeugungen kommt, verrät sie uns nicht. Sie geißelt „programmierte Schamlosigkeiten“, „abgesunkene Metaphern“, „vernutzte Wortgesten“ und (einen Feuilleton-Artikel schreibend) „gespreizte Feuilletonwendungen“ – und wer geißelt die nicht gern mit ihr? Doch bekanntlich verstehen die Leser unter den Begriffen, mit denen Dorothea Dieckmann hier so fleißig fuchtelt, nie das gleiche, sondern tarnen damit notdürftig ihren persönlichen Geschmack, also ihre – dem je individuellen Bildungsgang geschuldeten – ästhetischen Idiosynkrasien. Allenfalls ex negativo lässt sich ein einziges Kriterium für Dorothea Dieckmanns scharfrichterliche Literaturrechtsprechung erschließen: Rainald Goetz attestiert sie, ein „Brett“ vorm Kopf zu haben, denn was er schreibe, koste ihn „keine Überwindung. Es kommt nicht aus dem Schweigen, sondern ist Teil des Geschwätzes“. Nun ist auch der indirekte Hinweis, die hohe, die hehre Literatur habe „aus dem Schweigen“ zu kommen nicht eben präzise. Wir beeilen uns trotzdem, ihm nachzugehen, in der kühnen Hoffnung unsrer literaturkritischen Sache irgendwann ebenso sicher zu sein wie diese Autorin. Kann es sein, dass hinter diesem Kriterium die Grundüberzeugung der literarischen Moderne steht, unsere Sprache sei durch den Journalismus („gespreizte Feuilletonwendungen“) und das Alltagsgerede („Nachmittagstalkshow“) so abgenutzt, dass sich mit ihr das Wahre, Schöne, Gute überhaupt nicht mehr formulieren lässt? Dass also den besten Schriftstellern die Worte wie modrige Pilze im Mund zerfallen? Dass sich diese Schriftsteller deshalb ins Schweigen zurückziehen? Dass jedes ernst zu nehmende literarische Werk diesem Schweigen abgerungen und in einer neuen, bislang unbekannten, innovativen Sprache verfasst sein muss? So predigten es die Klassiker der Moderne. Kann es sein, fragen wir uns da, dass Dorothea Dieckmann nicht bemerkt hat, wie alt diese reine Lehre inzwischen ist, nämlich gut hundert Jahre, schaut man genauer hin fast zweihundert Jahre? Dass sie mithin inzwischen nicht mehr innovativ, sondern selbst zum Klischee geworden ist? Dass Schriftsteller, die unermüdlich darauf bestehen, ihre Werke „aus dem Schweigen“ kommen zu lassen, inzwischen meist gut abgehangene Kopien fünfzig, siebzig, achtzig Jahre alter Experimente abliefern? Dass mithin die gute alte literarische Moderne heute ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr genügt? Es ist ja nicht purer Übermut, der heute so viele an der Unterscheidung zwischen Literatur und Trivialliteratur zweifeln, pathetisch gesagt, verzweifeln lässt. Es sind auch nicht – wie Dorothea Dieckmann so unvergleichlich zeitkritisch anklingen lässt – die bösen Vermarktungsmechanismen unserer Wirtschaft. Es ist viel eher die Erkenntnis, wie alt die literarische Moderne samt ihrer unbeirrbaren Parteigänger mittlerweile aussieht. Die Erkenntnis, wie wenig wirklich Neues sich heute noch mit einer Ästhetik der Innovation erreichen lässt – wo doch unsere Zeit längst geprägt wird von Wirtschaftlern, Wissenschaftlern oder auch Werbern, die ebenfalls wortreich die permanente Innovation predigen. Doch sobald alte Paradigmen erschöpft sind – lehrt die Geschichte der Literatur – folgt ein poetologischer Bruch, ein radikaler Neuansatz, wächst bei Schriftstellern, die diesen Namen wert sind, die Bereitschaft, sich nicht mehr um das zu kümmern, was lange Zeit unbestreitbar als hohe Kultur galt. Statt dessen greifen sie dann gern zu lange verachteten, als trivial denunzierten Mustern, um ihre Kunst aus der Erstarrung zu reißen und zu erfrischen. Deshalb eben ist es mitunter so schwer, die Grenze zwischen Literatur und Trivialliteratur zu ziehen – und ganz genau Bescheid zu wissen. Aber das scheint sich zu Dorothea Dieckmann noch nicht herumgesprochen zu haben.