In seinen Romanen nahm er die Gedanken vorweg, die seit dem Terroranschlag vor 18 Tagen durch unsere Köpfe spuken
Nach welchen Kriterien wird eigentlich der Literaturnobelpreis vergeben? Nach literarischen? Gilt die Auszeichnung also der ästhetischen Virtuosität eines Schriftstellers, die eine enge Verbindung mit seiner handwerklichen Präzision und seiner geistesgegenwärtigen Klarsicht, um nicht zu sagen Hellsicht eingegangen ist? Wenn ja, dann gibt es für den Literaturnobelpreis 2001, über den in den nächsten Tagen von der Stockholmer Akademie der Künste entschieden wird, einen herausragenden Kandidaten: den amerikanischen Romancier Don DeLillo. Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat DeLillo die westliche Zivilisation jahrzehntelang umschlichen, abgeklopft und abgehorcht auf ihre Untiefen, Abgründe und Bruchstellen. Der Terror ist so notwendigerweise zu einem seiner zentralen Themen geworden: Die Gewalt, die Katastrophe, die Zerstörung, die mit einem Mal wie aus dem Nichts über eine sich für friedfertig haltende Gesellschaft hereinbricht. Wenn Hollywoods Action-Kino die Bilder des 11. September vorweg genommen hat, dann hat DeLillo die Gedanken vorweg genommen, die seither durch unsere Köpfe spuken. In der literarischen Szene Amerikas wird DeLillo gern der Vater der „New York school of paranoid fiction“ genannt – was nicht auf Paranoia in des Wortes medizinischer Bedeutung anspielt. Gemeint ist vielmehr das Gefühl einer allgegenwärtigen diffusen Bedrohung, das Gefühl, sich mit einer Gefahr konfrontiert zu sehen, in die man auf schwer greifbare und begreifbare Weise selbst verstrickt ist – und die man deshalb kaum ins Visier bekommen, geschweige denn besiegen kann. Vorstellungen, die einem nach den Anschlägen in Amerika schmerzhaft vertraut vorkommen. Denn vermutlich ist – wie seit dem 11. September Politiker, Soziologen, Historiker oder Islamwissenschaftler zu predigen nicht müde werden – der terroristische Fundamentalismus eben kein Ergebnis kultureller oder religiöser Gegensätze, sondern „eine Folge der Globalisierung, die er ablehnt und sich zugleich zunutze macht“ (Anthony Giddens). Ein Gedanke, der darauf hinausläuft, dass die globalisierte Moderne ihren mörderischen Gegenspieler selbst hervortreibt. Womit die Verantwortung der Killerkommandos in keiner Weise relativiert, sondern lediglich nach den Faktoren gefragt wird, die zu ihrer Entstehung beitragen. Was auch Hans Magnus Enzensberger tat, der schon in den achtziger Jahren feststelle, dass wir „nicht umhin können, den Terrorismus als eine strukturelle Eigenschaft unserer Zivilisation zu begreifen, als ein endemisches Phänomen, das gewissermaßen naturwüchsig auftritt und sich immer nur von Fall zu Fall mit Absichten, Forderungen, Rechtfertigungen maskiert. Wir müssen uns dann auch eingestehen, dass der Terror politisch leer ist, und dass er, wie die Massaker auf den Straßen und in den Fußballstadien, die Gewaltpornographie und Drogensucht, wie die massenhafte Misshandlung von Frauen und Kindern, seinen letzten Grund in der psychischen Verfassung des Ganzen hat“. Womit das politische Spannungsfeld beschrieben ist, das Don DeLillo seit jetzt dreißig Jahren mit literarischen Mitteln erforscht. Seine düsteren Helden sind Amokschützen und Attentäter, sind Agenten, die sich in der Komplexität ihrer eigenen Aktionen verheddern und sind schließlich Terroristen, die behaupten, gegen den Zynismus, die Technik und die Medien der Moderne zu kämpfen, diesen Kampf aber mit der zynischen Haltung, der Technik und den Medien eben dieser Moderne betreiben. Es waren zu Anfang seiner Karriere vor allem die amerikanischen Traumata, auf die DeLillos Blick fiel. Beispielsweise jene in den USA zu einer traurigen Tradition gehörenden rätselhaften Ausbrüche von Gewalt, bei denen aus unauffälligen Zeitgenossen wahllos in die Menschenmenge schießende Bestien werden. Er habe, erzählte DeLillo einmal, als er noch an seinem ersten Roman „Americana“ schrieb, von dem Fall eines texanischen Amoktäters gehört, der auf einen Wasserturm in der Nähe einer Autobahn stieg, um zunächst auf die vorüberfahrenden Wagen, später dann auf die ihn einkreisenden Polizisten zu schießen. Als der Mann nach stundenlangem Feuergefecht getötet worden war, fand man außer Waffen und Munition bei ihm nur ein fast ladenfrisches Deodorant – so als sei es seine größte Sorge gewesen, beim Morden ins Schwitzen zu geraten. Losgelassen hätten ihn, so DeLillo, diese und ähnliche Geschichten nie, und er versuche mit seinen Büchern den verborgenen Wahrheiten derartiger bizarrer Beobachtungen auf die Spur zu kommen. Kein Wunder, dass sich DeLillo irgendwann einmal dem geheimnisvollsten Heckenschützen der amerikanischen Geschichte zuwandte: Lee Harvey Oswald. „Libra“ (dt. „Sieben Sekunden“), sein halb dokumentarischer, halb fiktiver Roman über das Attentat auf John F. Kennedy ist wohl eines der abgründigsten Bücher der letzten Jahrzehnte: spannend wie ein Polit-Thriller, gewitzigt wie ein Stück postmoderner Gesellschaftstheorie und zugleich erschütternd, wie es nur ein Tatsachenbericht sein kann. Ein Roman zudem, der vor Augen führt was es heißt, in Zeiten moderner Desinformation durch Geheimdienste und modernen Informationshandel durch die Medien sich auf die Suche nach so etwas Fragilem und schwer Fassbarem wie der Wahrheit zu machen: Obwohl die Ermordung Kennedys von Dutzenden von Zeugen beobachtet, akustisch aufgezeichnet und sogar im Film festgehalten wurde, entschwand die Tat schließlich in einem undurchdringlichen, nie wieder aufzuhellenden Dunkel. Wie sehr Gewalt und Medien, wie sehr die Bilder des Terrors und der Terror der Bilder ineinander verstrickt sind, davon können wir alle seit dem 11. September ein Lied singen, und DeLillo hat dieses Lied bereits vor zehn Jahren in seinem Roman „Mao II“ angestimmt. Es sind keine simplen Simulationstheorien, die er hier literarisch exemplifiziert, sondern eine ungeheure Fülle von subtilen Beobachtungen, wie sich unser Verhältnis zur Welt verändert hat, nachdem jede intimste Regung, jeder fernste Winkel, jede erschütternde Katastrophe jederzeit auf Bildern verfügbar wurde. Die wunderbaren Kontrahenten dieses Buches sind ein berühmter Schriftsteller – der sich wie J. D. Salinger und Thomas Pynchon der Bildergier der Öffentlichkeit konsequent zu entziehen sucht und deshalb wie ein Gefangener leben muss – und eine Fotografin, die das neue, optische Medium bedient, das die Welt der Bücher abzulösen beginnt. Gegen Ende des Romans wird diese Fotografin nach Beirut eingeladen, zu einem Fototermin mit einem international gesuchten Terroristenführer, der unzufrieden ist mit den Bildern, die weltweit von ihm gedruckt werden. Wenn man diese Szene heute liest, kann man spüren, wie einem die Gänsehaut den Rücken hinaufkriecht: Es ist hinreißend und erschreckend zugleich, mit welcher Präzision DeLillo hier die hoffnungslose Fremdheit zwischen aufgeklärter Nüchternheit und religiösem Fanatismus veranschaulicht, wie er die verzweifelte Versuche der westlichen Besucherin spürbar macht, das Verhalten ihres Gegenübers in irgendein vertrautes Interpretationsmuster einzuordnen, und schließlich wie er mit kluger Genauigkeit zeigt, dass der fundamentalistische Furor des Terroristen gegen die Moderne längst tief durchdrungen ist von dieser Moderne selbst. Also, wenn Kunst und Literatur dazu beitragen können, jenseits ausgetretener Argumentationspfade und Begrifflichkeiten zu deuten, wie sich Welt durch den 11. September verändert hat, dann hat dies Don DeLillo nicht nur in diesen beiden Romanen, aber in ihnen in ganz besonderem Maße geleistet. Wenn also literarische Kriterien bei der Entscheidung der Stockholmer Akademie über den nächsten Nobelpreis eine Rolle spielen, dann spräche jetzt eine Menge für diesen Autor. Vielleicht sollte man, um es den Juroren ein bisschen leichter zu machen, schon einmal den Text der Verleihungsurkunde entwerfen: „Don DeLillo, ein Meister des politischen Romans und zugleich einer der erregendsten Erzähler dieser Jahrzehnte, wird mit dem Literaturnobelpreis des Jahres 2001 ausgezeichnet, weil sein Werk uns erlaubt, einen Blick auf jenes vor uns liegende Jahrhundert zu werfen, vor dem sich der Vorhang erst allmählich zu heben beginnt. Er zeichnet das Bild unserer Zivilisation mit solch ahnungsvoller Perfektion, solch transparenter Vielschichtigkeit, dass man seine Romane wie die Logbücher unserer Epoche lesen kann.“ Aber vermutlich wird der Nobelpreis wieder einmal nach ganz anderen Kriterien vergeben. Mit seltsamen Rücksichten auf die geographische Herkunft der Kandidaten, ihre politischen Bekenntnisse, ihre Glaubenszugehörigkeit oder ihr Geschlecht. Ja, vermutlich wird so politisch korrekt ausgezählt, wer den Preis zu bekommen hat. Das wäre schade. Nicht so sehr für Don DeLillo, der großen Rummel um seine Person nicht mag. Wohl aber für den Nobelpreis.