„Spieltrieb“

Juli Zeh erzählt von den Verwirrungen des Zöglings Ada
Juli Zeh, inzwischen dreißig Jahre alt, zählt zu den Hoffnungen der deutschen Literatur. Für ihren ersten Roman „Adler und Engel“ hat sie 2001 viel Lob und Preis eingeheimst. Er ist, schreibt ihr Verlag, inzwischen in zwanzig Sprachen übersetzt worden und ein Welterfolg. Im Jahr darauf publizierte sie den Reisebericht „Die Stille ist ein Geräusch“ – eine unvoreingenommene und schon deshalb eminent politische Reportage über einen längeren Aufenthalt in Bosnien. Ein wenig irritierend ist, dass dieses Buch auf der Homepage der Autorin (www.juni-zeh.de) inzwischen als Roman bezeichnet wird. Ihr neues Buch „Spieltrieb“ belegt, dass es Juli Zeh weder an literarischen Kenntnissen noch an Selbstbewusstsein mangelt. Es ist eine Hommage an Robert Musil und man wird den Eindruck nicht los, als versuche die Autorin – nähme man sie tatsächlich beim Wort – wie Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ den geistesgeschichtlichen Standort ihres Zeitalters zu bestimmen, oder zumindest ein intellektuelles Profil der heute jungen Generation zu entwerfen. Aber natürlich achtet Juli Zeh darauf, dass man sie nicht wirklich beim Wort nehmen kann. Der Roman „Spieltrieb“ erzählt, wie Musils Geschichte über den „Zögling Törless“, von den Verwirrungen und Nöten der Pubertät. Ada, Schülerin eines Gymnasiums in Bonn, ist fünfzehn, blond, klug bis altklug und nicht sehr schön. Alev, ein achtzehnjähriger Mitschüler, ist Halbägypter, impotent und ein ziemlicher Widerling, hat aber eine große Ausstrahlung zumal auf Mädchen. Die beiden finden Gefallen aneinander, halten sich für brillante „Urenkel der Nihilisten“, bilden sich ein, weder Werte noch Emotionen zu kennen und ihre Umwelt ganz nach Laune manipulieren zu können. Als Gegenstand ihres Spieltriebs kommt ihnen Smutek gerade recht. Er stammt aus Polen, ist ihr Deutschlehrer, ein engagierter Pädagoge und scheinbar glücklich verheiratet. Doch Ada gelingt es, ihn auf den Gymnastikmatten der Sporthalle zu verführen, damit Alev ihn bei den streng verbotenen Leibesübungen mit der minderjährigen Schutzbefohlenen überraschen und fotografieren kann. Mit den Bildern erpressen die beiden ihren Lehrer erst um kleinere, dann um größere Geldbeträge, vor allem aber zwingen sie ihn, weiter regelmäßig mit Ada zu schlafen und Alev immer neue verräterische Bilderserien schießen zu lassen. Die beiden sind bei all dem ganz verzückt über die eigene Kaltschnäuzigkeit und geben sie als das Resultat der geistigen Situation unserer Zeit aus: In immer neuen Anläufen beteuern sie, die Speerspitze einer neuen, coolen Generation zu sein, die mit ihrem seelenlosen Verhalten gleichsam das Fazit der gesamten Philosophiegeschichte bis heute zieht. Derart verblasenen Ideen passen natürlich gut zu Ada und Alev: Zu ihrer pubertären Verunsicherung, die sie hinter Selbstüberschätzung verstecken, und zu ihrer mit ein wenig Bildungsgerümpel notdürftig getarnten Ahnungslosigkeit. Dennoch wird ihr Gerede durch ständige Wiederholung natürlich nicht richtiger. Offen gestanden, auf mich wirkte es bald schon recht ermüdend, zumal die Ideen der beiden sich nicht sehr von jenen Thesen unterscheiden, die in den handelsüblichen Reportagen über die „Jugend von heute“ bemüht werden. Auch das Romanmotiv „Erpressung wegen kompromittierenden Fotos“ erscheint mir inzwischen ungefähr so abgedroschen wie das der gefälschten Briefe in den Romanen und Theaterstücken des 18. Jahrhunderts. Doch damit noch nicht genug: Juli Zeh lässt auch die übrigen Figuren den Buches nur selten über etwas anderes als die Grundfragen der Philosophie sprechen oder nachdenken. Folglich ist nicht nur regelmäßig vom Nihilismus und den Werteverfall im Bewusstsein unserer jüngsten Generation die Rede, sondern alle paar Seiten auch vom Gottesbeweis oder dem Wesen der Dinge, vom Sinn des Lebens oder dem Weltgeist, von dem Nichtvorhandensein der Seele oder der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit. Natürlich ist Juli Zeh zu klug, als dass sie ihren Lesern all dies ohne jede literarische Brechungen servierte. Geschickt versteht sie beispielsweise anzudeuten, dass es mit Adas Emotionslosigkeit nicht so weit her ist, wie es Ada sich selbst einredet. Es sind winzige Details, fein verstreute Hinweise, kleine, aber leuchtende Anhaltspunkte, die klar machen, welche Anstrengung es das Mädchen kostet, nicht zu fühlen, was sie fühlt. Sie ist keineswegs so ungewöhnlich wie sie glaubt, sondern schlicht ein vom Erwachsenwerden überfordertes Kind. Bei den anderen Figuren ist es ähnlich. Immer wieder mal lässt Juli Zeh spüren, dass man deren philosophische Auf- und Ausbrüche nicht für bare Münze nehmen darf. Und das ist auch gut so, denn viele ihrer Überlegungen sind offenkundig banales und billiges Zeug – keine intellektuellen Juwelen, sondern der vielfach abgefingerte Modeschmuck unserer zeitkritischen Diskurse. Doch damit landet der Roman „Spieltrieb“ zwischen Baum und Borke: Er spielt nur mit der Vorstellung, in der Person Adas eine Art Frau ohne Eigenschaften zu erschaffen und so etwas wie das geistige Panorama unserer Zeit zu entwerfen. Zugleich gibt Juli Zeh zu verstehen, dass sie es mit diesem hochfliegenden literarischen Vorhaben gar nicht so ernst meint, und dass die langen, überhitzten Reflexionen ihrer Figuren letztlich eher als Symptome der Epoche und nicht an deren Analysen zu verstehen sind. Doch weshalb ein Leser unter diesen Voraussetzungen über hunderte von Seiten hinweg den weitgehend unoriginellen, wenig erhellenden Gedanken dieser Figuren folgen sollte, sagt sie nicht. So ist der Roman sowohl als Satire auf das kulturkritische Geschwätz der Gegenwart, wie auch als Geschichte über die Wirrnisse der Pubertät letztlich viel zu weitschweifig. Schade.

Juli Zeh: „Spieltrieb“. Roman
Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2004 566 Seiten, 24,90 €

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