Verschrobenheit ist eine Tugend

Wilhelm Genazino, der sich selbst einen Tagträumer nennt, bekommt den Büchnerpreis 2004

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino ist ein literarischer Einzelgänger. Ihm den Büchnerpreis zuzusprechen, also die nach wie vor renommierteste literarische Auszeichnung des Landes, ist eine geradezu demonstrative Entscheidung. In Zeiten fast allwöchentlicher Literaturskandale hebt die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt damit einen zurückhaltenden, alles andere als skandalträchtigen Autor hervor, dessen Bücher immer von literarischer Begabung zeugten – aber auch von einer oft ermüdenden Monotonie waren. Man hat Genazino gern einen literarischen Flaneur genannt, einen poetischen Stadtwanderer, der seine Figuren gern ruhe- und auch ein wenig ziellos durch die Straßen unserer Gegenwart streifen lässt. Es ist nicht das wohl organisierte Leben einer modernen Gesellschaft, das seine Helden auf ihren einsamen Ausflügen interessiert. Ihr Blick fällt vielmehr regelmäßig auf die unbedeutenden Randerscheinungen, die beiseite geschobenen Reste, auf funktionslose Details oder verunglückte kleine Gesten unbekannter Passanten. Derlei Tagträumereien hat Genazino als einen unverzichtbaren Bestandteil der schriftstellerischen Arbeit schlechthin bezeichnet. Und sicher hat er recht damit, dass sie ein unverzichtbarer Bestandteil seiner schriftstellerischen Arbeit sind. Anders jedoch als Walter Benjamin etwa, der als Großstadtflaneur in der metropolitanen Flut flüchtiger Impressionen schwelgte, litten Genazinos Helden lange unter dem für sie mausgrauen Wust trister Normalität. Da Genazino zudem in seinen frühen Romanen streng darauf achtete, auch nicht die geringste Spannung aufkommen zu lassen, war die Lektüre seine Bücher kein Vergnügen für jedermann. Erstmals machte er zwischen 1977 bis 1979 mit der „Abschaffel“-Trilogie auf sich aufmerksam. Drei Romane, die das zurückgezogene, freudlose Leben eines subalternen Büroangestellten auf nahezu 600 Seiten vor dem Leser ausbreiteten. Verschrobenheit ist, das machen diese Bücher dem Leser sofort klar, für Genazino eine unbestreitbare Tugend. Das abgesonderte und absonderliche Dasein der Hauptfigur Abschaffel wurde von den Kritikern gern als – so hieß das im Jargon der Zeit – Folge entfremdeter Lebens- und Arbeitsverhältnisse interpretiert. Doch Genazino zielte mit seiner Prosa nicht auf eine sozialkritische Literatur der Arbeitswelt. Ihm ging es, so zeigten seine folgenden Romane, vielmehr darum, in der Tradition der literarischen Moderne schreibend Wirklichkeitsbereiche auszukundschaften, die von unserem Alltagsbewusstsein üblicherweise ausgeblendet werden. Doch ganz allmählich begannen Genazinos Figuren neben den schäbigen und faden Aspekten des Lebens auch dessen heitere und lockende Seiten zu entdecken. Natürlich war Genazino immer ein viel zu intelligenter Autor, um sich der Illusion hinzugeben, die Welt seit tatsächlich so miesepetrig wie seine Helden sie sehen. Vielmehr ließ er den Leser mal mehr, mal weniger deutlich spüren, dass diese Figuren sich, weil sie sich als Außenseiter empfinden, in eine unglückliche Mixtur aus Über- und Unterlegenheitsgefühlen ihren Mitmenschen gegenüber hineinsteigern: in eine fatale Mischung aus Welt- und Selbstverachtung. Mit seinen ungleich frischeren und beschwingteren Büchern „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001) und „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ (2003) hat Genazino dann ein entschieden neues Kapitel seiner Arbeit aufgeschlagen. Zwar leiden auch die Helden dieser Bücher an einem recht neurotischen Verhältnis zu ihrer Umwelt, aber sie betrachten sich mit spürbar zunehmender Selbstironie als die Neurotiker, die sie sind – was die Lektüre ihrer Leidensgeschichten weitaus vielschichtiger und nebenbei auch vergnüglicher macht. Zudem wird das Schreiben für sie zu einem klugen Mittel der Selbstheilung und -rettung. Vor allem aber ist Wilhelm Genazino in diesen beiden späten Romanen zu einer zuvor nie erreichten Perfektion des Erzählens vorgestoßen. Er hat ein bewundernswertes Gespür für stimmungsstarke, suggestive Details entwickelt, die den Leser mit wenig Aufwand in eine andere Welt entführen können. Und sein jüngster Roman „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ ist dann mehr geworden, als nur die Selbsterforschung eines Sensibilisten: Es ist zugleich ein begeisternd intensives Porträt der späten Adenauer-Ära – ein Stück literarische Geschichtsvergegenwärtigung wie es hier zu Lande leider viel zu selten geschrieben wird.

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