Das geheime Königreich

Elke Heidenreich und Christian Schuller verführen seit zehn Jahre Kinder zur Oper – und haben darüber jetzt ein Opern-Verführbuch gemacht  

Wer in der Kölner Oper während der Pause sein Sektglas spazierentragen möchte, hat nicht unbegrenzt Auslauf. Denn mitten im Foyer scheint ein Musikdampfer angelegt zu haben: Ein Holzbau wie ein Mississippi-Steamer, knallbunt, mit Treppe am Heck und hohen schlanken Säulen. Im Innern dann eine blaue Tribüne mit roten Holzbänken fürs Publikum, dazu eine kleine Bühne und hinter oder über der Bühne Platz für Musiker. Fertig ist die Kölner Kinderoper, in der Regisseur Christian Schuller und seine Text-Facharbeiterin Elke Heidenreich in den letzten zehn Jahren zwanzig Opern vor Menschen meist sehr geringen Lebensalters aufgeführt haben. Ausverkauft ist fast immer, die Begeisterung groß, doch nachgeahmt wird das Erfolgsrezept andernorts bislang nicht. Jetzt haben Christian Schuller und Elke Heidenreich über das erste Jahrzehnt ihrer Kinderoper einen prachtvollen Bildband gemacht („Das geheime Königreich. Oper für Kinder“), eine Werbeschrift für das Glück, junge Leute in die Welt der Oper zu locken.</em> Uwe Wittstock: Warum ist das übliche Opernpublikum so alt? Christian Schuller: Das hat zwei Gründe. Zum einen trägt die neue, junge Opernmusik in Deutschland meist elitäre Züge. Sie wendet sich, dazu hat leider Adorno beigetragen, oft nur an ein eingeweihtes Publikum. Zum anderen sind viele bürgerliche Traditionen, zu denen auch der Opernbesuch der Eltern mit ihren Kindern gehörte, nach dem Krieg oder spätestens in den sechziger Jahren abgebrochen. In den Städten, in denen es eine lange höfische Operngeschichte gibt, wie München und Wien, oder in Hamburg mit seinem selbstbewussten Bürgertum, findet man auch heute junge Leute in den Aufführungen. In den Städten ohne solche Tradition leider seltener. Oper wurde oft als verstaubt, als teuer und schwer verständlich hingestellt, das hat Hemmschwellen für viele, nicht nur junge Leute aufgebaut. Wir sehen das hier bei uns in der Kinderoper: Viele Eltern kommen mit ihren Kinder zum ersten Mal in die Oper – und denen gehen dann die Augen und Ohren auf, wie schön Oper ist. Wittstock: Oper zielt auf viele Sinne zugleich: mit Musik, Gesang, Bühnenhandlung, Text. Nicht aus Zufall war es ein Opernkomponist, der den Begriff Gesamtkunstwerk prägte. Eigentlich müssten gerade junge Menschen der sinnlich überwältigenden Oper regelrecht die Türen einrennen. Elke Heidenreich: Denke ich auch. Aber ist leider nicht so. Ich war jetzt zum ersten Mal in Bayreuth. Da sind nur alte Leute. Dabei war Wagner zu seiner Zeit so was wie ein Hollywood-Magier. Es ist gewaltig, was er da auf die Bühne bringt, ganz großes Kino. Die Oper gilt als schwierig und steif. Schon die Frage: Was zieht man zur Oper an, schreckt Leute ab. Ich habe mal eine Freundin mitgenommen, die noch nie in der Oper war. Als ich sie abholte, war sie so was von aufgedonnert, hatte drei Stunden beim Friseur verbracht. Dabei ist das nicht mehr wie früher: Man braucht kein Abendkleid mit passendem Täschchen. Schlichte Sachen reichen. Wittstock: Dient nicht vieles, von dem, was Sie gerade genannt haben, gezielt der sozialen Abgrenzung? Die hohen Eintrittspreise, die feierliche Garderobe, das eigentümlich gravitätische Gehabe während der Pause? Heidenreich: Muss alles nicht mehr sein. Man braucht weder feierliche Kleidung noch gravitätisches Verhalten. Auch das mit den hohen Preisen stimmt nicht mehr. Es gibt immer billige Karten, ich war für zwölf Euro in der Mailänder Scala. Die Oper hat schlechte PR, sie ist viel besser, ungezwungener und zugänglicher als ihr Ruf. Schuller: Selbst an elitären Veranstaltungsorten wie den Salzburger Festspielen oder der Ruhrtrienale können Sie heute Karten zwischen zehn und dreißig Euro bekommen. Das kann kein Hindernis mehr sein. Viel eher scheint es mir hier um eine soziale Scheu zu gehen: Manche Menschen meiden die Oper, weil sie glauben, dass dort vor allem Leute hingehen, unter denen sie sich nicht wohl fühlen. Dabei ist das Publikum in der Oper inzwischen sehr gemischt. Wittstock: Oft wird Oper wie ein kunstreligiöses Hochamt zelebriert. Da muss sich niemand wundern, wenn Kinder ungern hingehen. Heidenreich: Mit den Kindern in unserer Kinderoper machen wir andere Erfahrungen. Wenn wir die wirklich packen mit der Geschichte und der Musik, sperren sie weit die Augen auf. Und wenn dann der wunderliche alte Lehrer vor den Vorhang tritt und sagt, jetzt wollen wir mal in den verzauberten Garten gehen, und sehen was dort geschieht, dann stehen die Kinder wie Schlafwandler auf und folgen ihm in den Garten auf der Bühne. Sie lassen sich begeistern und wollen dann immer wiederkommen. Wittstock: Im 19. Jahrhundert ist es viel unfeierlicher in der Oper zugegangen, lebendiger, volksfestartiger. Wäre so etwas auch heute denkbar? Heidenreich: Damals wurde in der Oper geflirtet und gevögelt! Schuller: In Paris ärgerten sich die Komponisten immer, weil sie in ihre Opern für den zweiten Akt ein Ballett einbauen mussten. Die Balletttänzerinnen konnten Ausbildung und Leben damals oft nur über spendable Herren finanzieren, die als Dank ein wenig Zuwendung ihrer Tänzerin erwarteten. Deshalb waren die Mädchen dann im ersten Akt bei ihrem Gönner in der Loge. Heidenreich: Und im zweiten Akt konnten die Herren ihr Mäuschen auf der Bühne tanzen sehen. Aber auch heute noch geht es in anderen Ländern in der Oper viel freier zu als bei uns. Ich war in Italien oft in der Oper, auch in der Provinz. Da fliegen die Sitzkissen auf die Bühne, wenn die Leute sich ärgern. Oper ist dort immer noch Volksfest. In Deutschland hat Oper oft etwas von Weihefestspiel. Muss man sich aber nicht von einschüchtern lassen. Oper ist schön, macht Freude und dafür ist sie da. Wittstock: Warum wollen sie gerade die Kinder in die Oper holen? Heidenreich: Die Kunstform Oper braucht ja eine Zukunft. Wenn wir jetzt nicht anfangen die Kinder, die von Fernsehen bis Internet so viel Ablenkung haben, in die Oper zu holen, wird es da irgendwann sehr leer sein. Ich bin in den fünfziger Jahren aufgewachsen und hatte nichts als ein Radio und einen miesen Plattenspieler. Da bin ich natürlich ins Theater, in die Oper und ins Kino gegangen, das war für mich das große Glück. Die Kinder heute kommen vor lauter Schule und Computerspielen gar nicht mehr mit Oper in Berührung. Wenn man sie aber erst mal hingeführt hat und sie wissen, das macht mir Spaß, dann bleiben sie dran. Darum geht es uns, wir wollen zur Oper verführen. Wittstock: Welche Kompromisse muss man in Kauf nehmen, wenn man Oper für Kinder macht? Heidenreich: Eigentlich nur einen. Die Geschichte der Oper muss dem kindlichen Erfahrungshorizont angemessen sein. Eine Handlung um Liebe und Tod versteht jedes Kind, die „Götterdämmerung“ nicht. Bei der Musik aber muss man auf keinen Fall Kompromisse machen. Niemals niedliches Gedudel für Kinder! Sondern die Musik genau so, wie sie komponiert wurde. Schuller: Ein Schulbus unterscheidet sich von einem Bus für Erwachsene ja auch nicht, weil er nur drei Räder und ein Lenkrad aus Marzipan hat. Er ist genau so ausgestattet wie ein normaler Bus, aber er hält an Stationen, die für Kinder gemacht sind. Wittstock: Aber eine Kinderoper sollte nicht länger dauern als eine Stunde, oder? Schuller: Das war früher unser Limit, richtig. Aber wenn unsere Aufführungen mal siebzig Minuten oder mehr haben, werden die Kinder trotzdem nicht unruhig. Meist sind es ja Schulkinder und die haben schon Übung im Stillsitzen. Die meisten Stücke, die wir ausgewählt haben, sind Einakter, die sind keinen Takt länger als sechzig Minuten. „Das geheime Königreich“ von Ernst Krenek zum Beispiel. Ich wollte auf keinen Fall, wie in anderen Häusern, die „Zauberflöte“ für Kinder in gekürzter Fassung machen. Ich habe ausschließlich Stücke aus den Archiven geholt und den Straub runtergeschüttelt, von deren musikalischer Substanz ich unbedingt überzeugt war. Wittstock: Frau Heidenreich, Sie haben für die Kinderoper die Libretti einiger Opern modernisiert. Würden sie das auch mit Opern für Erwachsene machen? Heidenreich: Na klar. Wagners Sprache ist dringend überholungsbedürftig. Der Meister hat das Gesamtkunstwerk mit seiner Sprache geschaffen, aber „Nun zäume dein Ross, reisige Maid! Bald entbrennt brünstiger Streit…“, ist nicht das, was ich heute noch hören will. Schuller: An der Wiener Hofoper wurde 1863 nach 77 Proben Wagners „Tristan“ für unspiel- und unsingbar erklärt. Heute haben wir viel mehr Erfahrung mit dem Stück und können es mit nur sechs Orchesterproben auf die Bühne bringen. Unser technisches Know-how im Umgang mit Musik und Gesang hat sich geändert, warum sollen wir nicht unser geändertes sprachliches Know-how nutzen und andere Worte finden. Es wäre sehr im Sinne des Meisters, wenn wir seine Sprache modernisierten. Aber damals, zu seiner Zeit, war seine Musik für die Sänger nur mit dieser Sprache singbar, weil die Musik so neu, so fremd war. Heidenreich: Christian hat hier an der Kölner Oper, nicht an der Kinderoper, Mozarts „La finta Giardiniera“ inszeniert und ich habe auf seine Bitte hin das Libretto behutsam ein bisschen entstaubt. Die Arien wurden im Original gesungen, aber es gibt da auch viele Dialoge, die habe ich in heutiges Deutsch gebracht. Das war sehr umstritten, es gab viel Buh aber auch viel Bravo. Wittstock: Sie bringen fast nur Opern des 20. Jahrhunderts in die Kinderoper, nicht Mozart, Rossini, Verdi. Warum? Schuller: Ich wollte unbedingt aus dem schmalen gewohnten Opernrepertoire ausbrechen und den vielen wunderbaren neuen Opern eine Stimme geben. Viele Komponisten sind von den Nazis um ihre Chancen gebracht worden, die wollte ich aus den Archiven befreien. Und das ist bestens gelungen, die Kinder haben das mit Begeisterung aufgenommen. Wir haben mal „Das Kind und der Zauberspuk“ von Maurice Ravel gemacht. Erst kamen die Kinder mit ihrer Schulklasse. Aber vielen hatte es so gut gefallen, dass sie noch einmal mit ihren Eltern kamen. Und drei der Schülerinnen hatten sich so mit der Prinzessin des Stückes identifiziert, dass sie als Prinzessinnen verkleidet zur Aufführung kamen. Heidenreich: Das war so schön, so ein Erfolgsgefühl für uns. Das gibts sonst nur bei Harry Potter. Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 29. September 2007 Elke Heidenreich, Christian Schuller: „Das geheime Königreich“. Oper für Kinder Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007 208 Seiten, 24,90 € ISBN 978-3-462-03959-7

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