Der große Pop-Schwindel oder: Benjamin von Stuckrad-Barre schreibt weiter
Manchmal macht das literaturkritische Geschäft hier zu Lande einen reichlich kleinkarierten Eindruck. Benjamin von Stuckrad-Barre kann davon ein Lied singen. Als er – gerade unbekümmerte 23 Jahre alt – mit seinem Roman „Soloalbum“ vornehmlich jüngere Leser zum Johlen und zum Kreischen brachte, schickten ihn einige Platzanweiser unseres Literaturbetriebs umgehend an den Katzentisch: Er sei, teilten sie ihm mit, gar kein Autor, sondern ein Popautor und sein Buch keine Literatur, sondern Popliteratur. Die hochkulturelle Ab- und Ausgrenzungsmaschinerie ratterte was das Zeug hielt. Natürlich war solcher Zurückweisungseifer für Stuckrad-Barre lästig – aber auch lustig. Denn was könnte werbewirksamer sein, als ausgerechnet von dem oft als betulich und bräsig geltenden Literaturbetrieb wegen erwiesener Frischheit, Forschheit, Frechheit mit der Warnaufschrift „Pop“ versehen zu werden? Trotzdem hat er immer wieder mal versucht, die mit diesem Etikett verbundenen Missverständnisse aus der Welt zu schaffen. Wenn Pop das Bewusstsein seiner Figuren präge, dann sei das „ein Abbild der Realität von Kultur hier zu Lande“. Da Pop große Bereiche unseres Alltags beherrsche, müsse sich das auch „niederschlagen in zeitgenössischer Literatur. Ich verstehe die Aufregung nicht.“ Geholfen hat das natürlich nicht. Auch im Literaturbetrieb sind die Markenzeichen längst mächtiger geworden als die bezeichneten Marken. Im endlosen Geplapper über Pop oder Nicht-Pop geriet immer mehr aus dem Blick, wie wenig Stuckrad-Barre mit seinen Büchern letztlich aus dem Rahmen unserer Gegenwartsliteratur fällt. Er ist eben kein Epigone des britischen Erzählers Nick Hornby, wie so viele Kritiker behaupteten, als „Soloalbum“ erschien. Hornby nämlich schreibt Gesellschaftsromane in bester angelsächsischer Tradition, seine Bücher bemühen sich darum, soziale Gegenwart am Beispiel einer Vielzahl von handelnden Personen zu schildern. Stuckrad-Barre dagegen kennt in seinen Romanen – wie die meisten Schriftsteller hier zu Lande – nur eine einzige Hauptfigur. Sie mag heißen oder aussehen wie sie will, hinter ihr verbirgt sich immer der Autor selbst. Egal wie viele Popgruppen Stuckrad-Barre auflistet, egal wie viele Markennamen er über die Seiten verstreut, letztlich geht es in seinen Büchern doch um die eigene Person. Wie schon so viele Pastorensöhne unter den deutschen Dichtern vor ihm betreibt er schreibend vor allem Introspektion und Gewissenserforschung. Wer nach Vorbildern für sein „Soloalbum“ Ausschau hält (oder für seine Geschichte „Vom Netz“), wird wohl eher bei Botho Strauß’ Liebeskummer-Erzählung „Die Widmung“ fündig als bei Hornbys „High Fidelity“. Und wer wissen möchte, welcher Autor ihm Anregungen lieferte für sein wortreiches Dauergranteln, für sein ewiges Rohrspatzschimpfen über die unausrottbare Dummheit der Welt, dürfte nicht ganz falsch liegen, wenn er in Thomas Bernhards Romanen blättert. Was Stuckrad-Barre jedoch, neben seinen Entertainer-Qualitäten bei Live-Auftritten, von Anfang an heraushob aus der Konkurrenz der deutschen Nachwuchsautoren, war sein Witz und seine Sprachkraft. Während Romane über Liebesunglück üblicherweise von tiefschwärzester Melancholie durchweht werden, machte er aus dem Helden seines „Soloalbums“ eine derart hemmungslos in den eigenen Weltschmerz vernarrte Figur, dass sie gleich wieder herzerfrischen komisch wirkte. Dazu schüttelte er den deutschen Wortschatz kräftig durch, machte aus abgefingerten Substantiven taufrische Adjektive, verwandelte schale Adjektive in schrille Verben und zwang flüchtigste, coolste Umgangssprache in präzise abgezirkelten Zeilen, dass es nur so eine Freude war. Doch leider ist von diesen Qualitäten im jetzt erschienenen Buch mit dem so poetischen Titel „Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2“ nicht viel geblieben. In den letzten Wochen hat Stuckrad-Barre jedem, der nicht schnell genug weiterzappte, über alle Medienkanäle wissen lassen, dass er in den vergangenen Jahren diversen Süchten verfallen war. Unglücklicherweise hat ihn das offenbar nicht nur persönlich, sondern auch professionell beeinträchtigt. Sein neuer Band ist ein konturloses Gewürfel aus Reportagen, Interviews, Tagebuch-Häppchen, Rezensionen und endlos langen Listen (siehe WELT vom 24.5.). In ein paar wenigen Abschnitten blitzt etwas auf von seinem Talent: Wenn Stuckrad-Barre etwa in einem Begleittext zu einer Brahms-CD von seiner Musikschulzeit erzählt, dann gewinnt diese Erinnerung an die für ihn ja nicht so weit zurückliegende Jugend eine anrührende Intensität. Die meisten anderen Stücke jedoch sind Verlegenheitsarbeiten ohne literarischen Wert. Früher ging Stuckrad-Barre seine Themen und auch seine Gegner gern direkt an mit schnörkelloser polemischer Wucht. Er trat auf als die Abteilung Attacke, als der Uli Hoeneß der deutschen Gegenwartsliteratur. Das machte nicht immer einen sonderlich überlegten Eindruck, hatte aber immer den Vorzug entschiedener Klarheit und fröhlicher Unverzagtheit. Der neue Band nimmt sich im Vergleich dazu linkisch und verdruckst aus. Wenn Stuckrad-Barre zum Beispiel einen Waffeninspektor porträtiert, der im Irak gearbeitet hat, begibt er sich auf für ihn unübersehbar fremdes, politisches Terrain. Prompt wirken seine gewohnt hektischen Reporterspielchen deplaziert und sein Wunsch „Entschuldigung, könnten wir dann jetzt mal eine Bombe sehen?“ nicht komisch, sondern dümmlich. Über die neuen CDs von Westbam und Grönemeyer sondert er unverfälschten Kritikerkitsch ab. Und wenn er dazu noch Tagebuch-Aufzeichnungen veröffentlicht, in denen er hingebungsvoll den zarten Verästelungen der eigenen Künstlerseele nachspürt, glaubt man endgültig supersausensible Debütantenprosa aus Klagenfurt zu lesen. Klar, Stuckrad-Barre geht es zurzeit nicht besonders gut. Aber den Lesern aus Mitleid sein Buch empfehlen? Das wäre wohl auch keine Lösung. Er selbst hat nie viel Mitleid gezeigt mit den popeligen Prominenten, über die er gewöhnlich schreibt. „Bisschen interessanter werden“ hat er dem einen oder anderen als Rat mit auf den Weg gegeben, „und ab und zu mal kein Interview geben, das könnte auch nicht schaden“. Guter Tipp.
Benjamin von Stuckrad-Barre: „Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2“
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004 485 Seiten, 12,90 €