Jedes Buch war für ihn Bekenntnis

Der Schriftsteller Franz Fühmann und das Leben in politischen Extremen – Aus Anlass seines 20. Todestages

Vielleicht ist Franz Fühmann, der am 8. Juli vor 20 Jahren in Berlin starb, der bedeutendste Schriftsteller der DDR gewesen. Er war in Westdeutschland nie bekannt, geschweige denn populär, und sein Werk scheint inzwischen auch in Ostdeutschland, wo er eine zentrale Rolle im literarischen Leben spielte, allmählich der Furie des Verschwindens anheim zu fallen. Doch kann man an Fühmanns Schicksal einige Probleme der Intellektuellen im 20. Jahrhundert geradezu exemplarisch ablesen. Und die Radikalität, mit der er sich diesen Problemen gestellt hat, mit der er sie immer wieder zum Gegenstand seiner Arbeit gemacht hat und mit der er sie gegen Ende seines Lebens mehr und mehr überwand, verleiht seinem Werk einen Rang, den in der Literaturgeschichte der DDR ansonsten wohl nur Heiner Müller und Christa Wolf, Volker Braun und Sarah Kirsch erreichen. Fühmanns Lebensthema war der Totalitarismus des Denkens. Er war ein Gläubiger, der sein Leben und Schreiben immer eng auf große, weltumfassende Entwürfe der Geistesgeschichte bezog, auf die, um es mit postmodernen Begriffen zu sagen, Metaerzählungen des Jahrhunderts. So konnte es nicht ausbleiben, dass seine Biografie gezeichnet war von den Ab- und Umbrüchen, von den Konfrontationen und Katastrophen eben dieses Jahrhunderts. Doch allen Wandlungen zum Trotz versuchte er sich selbst immer treu zu blieben. Halbheiten gestattete er sich nie, er war stets aufs Ganze aus. Und eben dies macht den Wert und die Wahrhaftigkeit seine Prosa aus – und zugleich aus heutiger Sicht deren problematischen Kern. 1922 als Sohn deutschsprachiger Eltern in einer böhmischen Kleinstadt geboren, wuchs er in einer Atmosphäre inbrünstiger Religiosität auf. Im Alter von zehn Jahren trat er in das Jesuiteninternat Kalksburg bei Wien ein. Doch das drakonische Regiment der Schule hatte beim Zögling Franz andere als die erwünschten Folgen. Er entschied sich mit einer Entschlossenheit, die für ihn symptomatisch bleiben sollte: Als überzeugter Atheist stieg er „eines Abends über die Parkmauer“ und floh in seine Heimatstadt. Unter dem Einfluss seines nationalsozialistischen Vaters wurde er daraufhin Mitglied einer Jugendorganisation der Sudetenfaschisten und besuchte das Gymnasium „in Stiefeln und Braunhemd“. Noch vor Kriegsbeginn trat er der SA bei und blieb bis zur Kapitulation ein treu ergebener Soldat Hitlers. Als sowjetischen Kriegsgefangener besuchte er eine der berüchtigten Antifa-Schulen, auf der man ihn zu einem begeisterten Anhänger Stalins umerzog. Von Schuldgefühlen wegen seiner Vergangenheit getrieben und von der Hoffnung gelenkt, zum Aufbau einer grandiosen Zukunft beitragen zu können, wurde er Bürger der DDR und zählte in den fünfziger und sechziger Jahren zu den Autoren, auf die sich die SED blind verlassen konnte. Aber die Kluft zwischen den Idealen und der Wirklichkeit des sozialistischen Staates blieb ihm nicht verborgen: Von dem Zwiespalt zerrissen, versank er in lebensbedrohliche Krisen, bevor er sich zu einem der klügsten und konsequentesten literarischen Kritiker der DDR entwickelte. Viele Generationsgefährten Fühmanns haben, angesichts der rapiden politischen Umschwünge, die ihre Leben durchzogen, die eigenen Erinnerungen an ihre Biografie im Nachhinein oft unbewusst begradigt. Die verführerische Kraft unseres Gedächtnisses zur gnädigen Legendenbildung half ihnen, Brüche in der eigenen Vergangenheit, der eigenen Persönlichkeit auszublenden. „Jeder Mensch“, schrieb Max Frisch, „erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält.“ Denn: „Anders bekommen wir unsere Erlebnismuster, unsere Ich-Erfahrung nicht in den Griff.“ Doch Fühmann wollte sich mit solchen besänftigenden Manipulationen an seinen Erinnerungen nicht abfinden. Sein Leben lang legte er in seiner literarischen Arbeit gegen enorme innere Widerstände Rechenschaft über seine persönliche und die deutsche Vergangenheit ab. So wurde sein Werk ein Monument jener Fähigkeit zu trauern, die von Psychoanalytikern gern eingefordert wird, die aber nur unter größten seelischen Strapazen zu leisten ist. Für Fühmann verwob sich Politisches und Poetisches immer zu einem undurchdringlichen Geflecht, jeder Text war für ihn zugleich Bekenntnis. So griff die Politik des Jahrhunderts massiv in seine Arbeit ein. Ein eklatantes Beispiel dafür ist das frühe Ende seiner lyrischen Produktivität. Von Jugend an schrieb er Gedichte, seine in der DDR veröffentlichten Lyrikbände standen im Bann der Volksmärchen: Sie teilten das Leben ein in Gut und Böse, Schwarz und Weiß – so wie Fühmann zu dieser Zeit noch die ideologischen Lager mit eindeutigen moralischen Zuordnungen versah. Als ihn 1956 Chruschtschows Geheimrede über die Verbrechen Stalins aus diesem Glauben aufstörte, musste er sein dualistisches Weltbild revidieren. Und als ihm Marcel Reich-Ranicki nachwies, wie tief seine Gedichte noch immer von platten Nazi-Mythen und schwülstigem Nazi-Pomp geprägt waren, obwohl er sich inzwischen als Sozialist verstand, verstummte er als Lyriker. Bis zu seinem Tod gelang ihm kein Gedicht mehr. Auch in seinen ersten Prosaarbeiten, die Mitte der fünfziger Jahre erschienen, war dieser simplifizierende Moralismus spürbar. Es waren dramatisch zugespitzte Novellen, in denen er seine Kriegserfahrungen verarbeitete und mit denen er zu einem gefeierten, viel gelesenen, prominenten Autor in der DDR aufstieg. Er war, wie der Literaturhistoriker Peter Demetz schrieb, „ein Manichäer ohne Gott und Teufel, fühlend und denkend in gespannten Polaritäten und lange unwillens, das Relative, Halbe, Graue und Wiederholbare des Alltags zu sehen oder gar darüber zu schreiben. Es war immer alles auf die Spitze und zu schicksalsträchtigen Konfrontationen fortgetrieben.“ Dennoch sind einige der frühen Erzählungen von großer sprachlicher Schönheit und zeugen von beträchtlichem psychologischem Verständnis: In „Das Judenauto“ (1962) erlebt ein siebenjähriger Junge verwirrt und beunruhigt seine ersten erotischen Gefühle. Allein gelassen mit diesen in seiner katholischen Umwelt streng beschwiegenen Empfindungen, flieht er in Tagträume, die ihn vor seinen Mitschülern blamieren. Die Schuld für beides, sowohl für die verunsichernden Gefühle wie für die Blamage, sucht er reflexhaft bei jenen Kräften, von denen er immer schon hörte, die hätten „alles Schlechte gemacht, was es auf der Welt gibt“: den Juden. Mit welchen suggestiven erzählerischen Mitteln hier 20 Jahre vor Klaus Theweleits „Männerphantasien“ demonstriert wird, wie aus der Verleugnung sexueller Bedürfnisse ein brutaler Rassismus entspringen kann, ist bis heute beeindruckend. Fühmanns Zweifel am realen Sozialismus wurden im Laufe der sechziger Jahre immer quälender. Doch als ehemaliger Nationalsozialist hielt er sich nicht für berechtigt, an jenen Kommunisten Kritik zu üben, die großen Anteil daran gehabt hatten, Hitlers Regime zu beenden. Diese Zerrissenheit reichte tief: Fühmann betäubte sich jahrelang mit Alkohol. Doch auch in dieser Phase seines Lebens wurde die Politik zum Wendepunkt. Als die Truppen des Warschauer Paktes im Sommer 1968 den Prager Frühling gewaltsam beendeten, konnte Fühmann seine Sucht überwinden – denn nun, da wieder einmal deutsche Panzer durch die Tschechoslowakei rollten, konnte er sich endlich eingestehen, dass er in den Mächtigen der DDR insgeheim Diktatoren sah und also mit seinen seelischen Konflikten ins Reine kommen. „Ich war“, schrieb er später, „im letzten Stadium des Deliriums und habe dann erst die Kraft zum Absprung gefunden, und zwar unter der Maßgabe, dass ich mir sagte: Jetzt ist die letzte Chance, die dir gegeben ist, wirklich ein bewusstes Leben anzufangen, was bedeutet: zunächst einmal bewusst dein Leben zu durchdenken.“ Die folgenden Bücher Fühmanns kommen einer psychotherapeutischen Selbstanalyse gleich. Durch sie machte er sich nicht nur sein eigenes, vom Totalitarismus verführtes Denken bewusst, sondern beschrieb die Mechanismen einer faschistischen Erziehung jenseits aller Theorien mit bezwingender poetischer Kraft: Mit seinen Erzählungen „Der Jongleur im Kino“ (1970), seinem Ungarntagebuch „22 Tage oder Die Hälfte des Lebens“ (1973) und schließlich seinem Opus Magnum, dem Essay „Der Sturz des Engels“(1982) ließ er endgültig das ideologische Bewusstsein, das die Literatur in beiden Teilen Deutschlands lange prägte, hinter sich und entwickelte eine formal hoch anspruchsvolle und doch immer anschauliche, sinnliche Prosa. Aus einem literarischen Manichäer, der nur eine Wahrheit kannte, wurde ein Schriftsteller, der eine Vielfalt der Perspektiven auf die Wahrheit in jeden Satz zu zwängen versuchte. Er, der zuvor in politischen Extremen gelebt hatte, wollte nun das Wort „auch“ in einem großen Essay feiern, weil es mit seiner Hilfe möglich werde, die unterschiedlichsten Lebensentwürfe und Weltanschauungen nebeneinander gelten zu lassen. Schon 1980, als die DDR noch zehn Jahre zu leben hatte, Fühmann aber nur noch vier, schrieb er an Konrad Wolf: „Unsre Gesellschaft ist pluralistisch, Gottseidank ist sie es, bloß offiziell will man das eben nicht wahrhaben. Die verschiedenen Moralen sind nicht auf 1 Nenner zu bringen, na Gottseidank, und so etwas wie die „moralischen Anschauungen unserer Werktätigen“ gibt es nicht, oder es sind immer die Repräsentanzen des Muffigen, Spießigen, Kleinkarierten.“ Ein deutlicheres Bekenntnis zur offenen Gesellschaft hat es in der Literatur der DDR nicht gegeben. Die Kulturfunktionäre des Landes setzten ihm nicht zuletzt deshalb nach Kräften zu. Im Testament hielt Fühmann fest, dass kein offizieller Vertreter der DDR an seinem Grab sprechen dürfe. Heute sind nur noch wenige Bücher Fühmanns lieferbar (eine achtbändige, autorisierte Gesamtausgabe liegt bei Hinstorff in Rostock vor). Umso schöner, dass Elke Heidenreich ihre Popularität einsetzt, um auf diesen Schriftsteller hinzuweisen: Sie liest auf einer neuen CD seine „Märchen auf Bestellung“ (Hinstorff, ca. 12,90 EUR) – kleine Prosawunderwerke, die Kindern eine Menge Vergnügen machen und Erwachsenen eine Menge Anlass zum Nachdenken verschaffen.

Dieser Artikel erschien in der „Welt“ vom 10. Juli 2004

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