„Lesen!“ Auf den ersten Blick könnte man den Titel von Elke Heidenreichs Literatursendung als Imperativ missverstehen. Und wer lässt sich schon gern Befehle erteilen? Dass der Titel heute stattdessen in jedermanns Ohren ganz selbstverständlich nach schwärmerischem Elan klingt, liegt allein an der Person Elke Heidenreichs. Zwar spricht sie, zugegeben, im Stakkato eines Maschinengewehrs, aber alles Bedrohliche, alles schulmeisternde Säbelgerassel ist ihr fremd. Sie ist eine Begeisterte und sie teilt Begeisterung mit. Ja, Bildung und Vergnügen. Ihr kauft man beides ab. Und deshalb ist sie wohl, neben Marcel Reich-Ranicki, die Einzige, die zurzeit Lesen zum kollektiven Ereignis für das ganze Land machen kann. Wenn sie am kommenden Dienstag im ZDF ihre Zuschauer auffordert, in diesem Sommer über ihre Lieblingslektüre abzustimmen, so ist das mehr als die neue Casting-Show: Deutschland sucht das Superbuch. Vielmehr ist es nach dem Vorbild der BBC-Sendung „The Big Read“ eine Ermutigung an jeden Einzelnen, sich zu seiner Lese-Subjektivität zu bekennen – und zugleich eine Chance, etwas über die tatsächliche Bewusstseinslage der Lesenation zu erfahren. „The Big Read“ – für die Sendung in Großbritannien stimmten zwei Millionen Menschen ab, und für fast alle Titel, die es auf die Ehrentafel der 100 beliebtesten Bücher schafften, stiegen danach die Auflagezahlen merklich an. Platz eins eroberte hier Tolkiens „Herr der Ringe“, aber schon der zweite Platz ging an Jane Austens „Stolz und Vorurteil“, also an einen veritablen Klassiker. Überhaupt waren unter den Top 20 mit Tolstoi, Charles Dickens, Salinger, Joseph Heller, Orwell, Charlotte und Emily Brontë eine Menge Autoren vertreten, die über jeden Kitschverdacht erhaben sind. Keine Liste, derer man sich schämen musste. Das Ergebnis der deutschen Abstimmung, das am 6. August von Elke Heidenreich und Moderator Johannes B. Kerner als „Unsere Besten – Das große Lesen“ in einer Freitagabend-Show präsentiert wird, dürfte erhellender werden als die meisten literatursoziologischen Theorien der letzten Jahrzehnte. Es ist Elke Helene Heidenreich nicht an der Wiege gesungen worden, dass sie dereinst zur einflussreichsten Literaturvermittlerin Deutschlands aufsteigen würde. 1943 als Tochter eines Automechanikers und Tankstellenbesitzers geboren, repräsentiert sie heute die besten Seiten jener Achtundsechziger, die sich selbst einmal Spontis nannten. Ihre lustbetonte Neugier, ihre Unerschrockenheit vor Autoritäten, ihre unbedingte Authentizität und vor allem ihr Witz, ihre Schlagfertigkeit verleihen ihr heute auf dem Bildschirm eine Glaubwürdigkeit, die kein anderer ihrer Generation und schon gar kein jüngerer Literaturkritiker erreicht. Sie hat sich das hart erarbeitet. Sie hat Drehbücher, Erzählungen, Romane und für „Brigitte“ jahrelang Kolumnen geschrieben, hat fürs Radio Kabarett als Else Stratmann gemacht, hat Kindersendungen, Literaturmagazine und Talkshows moderiert. Heute ist sie ihren Zuschauern so bekannt, so vertraut wie eine Nachbarin. Mit Elke Heidenreich hat der priesterliche Gestus, mit dem Literatur hier zu Lande so gern zelebriert wurde, unübersehbar sein Ende gefunden. Reich-Ranicki ist, bei all seinem zirzensischen Talent, noch immer eine kritische Autorität. Wenn Elke Heidenreich von Kleist, Brecht, Grass plaudert, ist es wie der Lesetipp einer guten Freundin – die einen geduldig daran erinnern will, dass das Lesen zu den größten Vergnügungen der Menschheit gehört.
Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 2. Juli 2004