Barbara Honigmann erzählt vom Doppelagenten Kim Philby, ihrer Mutter und dem antifaschistischen Adel der DDR
Dies Buch ist ein kleines Wunderding: Ein schöner, kluger, überaus eindringlicher Essay, in dem Barbara Honigmann lauter Gegensätze zusammenzwingt, die sonst fast unvereinbar sind. Sie berichtet über Ungeheuerlichkeiten von buchstäblich historischer Dimension – rückt sie den Lesern aber in ihrer alltäglichen, unsensationellen Erscheinungsform vor Augen. Sie betreibt Familienforschung der persönlichsten Art – läßt dabei jedoch Konflikte, Sehnsüchte, Bitterkeiten zweier ganzer Generationen aufscheinen. Sie schreibt ausschließlich über Vergangenes – und macht dennoch Entscheidendes im geistigen Klima unserer Gegenwart spürbar. Barbara Honigmann hat bis zu diesem Essay „Ein Kapitel aus meinem Leben“ einen bemerkenswerten Weg bewältigt. Ihr schmales Werk liegt wie verschüttet unter einem Berg von forciertem Lob, das oft eher ihrer Biographie als ihrer Literatur galt. 1984 übersiedelte sie, obwohl Kind hoher Funktionsträger in der DDR, von Ost-Berlin nach Straßburg und bekannte sich zugleich nachdrücklich zu ihrer jüdischen Herkunft. Beides, ihre Abwendung vom realen Sozialismus und ihre Hinwendung zur Religion, schien die öffentliche Reaktion auf ihre schriftstellerische Arbeit lange Zeit stärker zu bestimmen als deren literarische Qualität. Auch Barbara Honigmann selbst hat ihre Lebensentscheidungen zunächst in hohem Maße dramatisiert. Sie nannte sie höchst pathetisch ihren „dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein“. Ihre literarische Produktion blieb unterdessen spärlich und nicht ohne Schwächen. In dem Buch „Soharas Reise“ (1996) beispielsweise, das von einer arabischen Jüdin in Frankreich erzählt, macht sie die religiösen Traditionen ihrer Heldin nicht zu deren selbstverständlichem Lebenshintergrund, sondern stellt sie mit dem Eifer der Spätbekehrten aus wie Kostbarkeiten in einer Glasvitrine, was der Figur viel von ihrer Glaubwürdigkeit nimmt. Und auch in ihrem Briefroman „Alles, alles Liebe!“ (2000), in dem sie die DDR-Boheme von Prenzlauer Berg porträtiert, bleiben die Figuren vage Schemen, die sich nie zu prägnanten Charakteren formen. Eine Meisterin der Rollenprosa – von der diese beiden Bücher leben – kann man Barbara Honigmann bislang nicht nennen. Weitaus eindrucksvoller und unverwechselbarer waren dagegen von Beginn an ihre Reflektionen über die Vergangenheit der eigenen Familie. Dies schon deshalb, weil das Schicksal ihrer Eltern in solchem Maße durch die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt war, daß ihre Biographien wirken wie gelebte Geschichtslektionen. Ihr Vater, dem sich 1991 ihr Buch „Eine Liebe aus Nichts“ widmete, war im großbürgerlichen Milieu in Hessen aufgewachsen und arbeitete anfangs als Journalist für die „Vossische Zeitung“. Nachdem er als Jude vor den Nazis nach England fliehen mußte, bekannte er sich zum Kommunismus und Parteimitglied, lief nach Kriegsende in die „Sowjetisch besetzte Zone“ über und arbeitete dann in Ost-Berlin als ehemaliger Emigrant und Antifaschist in wichtigen Positionen am Aufbau der linientreuen Presse der DDR mit. Der neue Essay „Ein Kapitel aus meinem Leben“ ist ein Pendant zu diesem Vater-Buch, er behandelt die Biographie der Mutter. Doch obwohl sie weniger exponierte Ämter bekleidete als ihr Mann, ist ihr Lebensweg geschichtlich weitaus signifikanter und in seinem entscheidenden „Kapitel“ historisch von geradezu dramatischer Bedeutung. Zudem sind Barbara Honigmanns schriftstellerischen Möglichkeiten, ihre darstellerischen und sprachlichen Fähigkeiten seit jenem Vater-Buch in beeindruckendem Maße gewachsen, was ihren Essay nicht nur zu einem intellektuellen, sondern zugleich zu einem Lese-Vergnügen macht. Barbara Honigmanns Mutter Lizzy Kohlmann, geboren 1910, wuchs als Tochter gläubiger Juden zunächst in einem ungarischen Dorf, später in Wien auf. Von ihrem ersten Ehemann trennte sie sich, als der seine Auswanderung nach Palästina plante und schloß sich statt dessen der kommunistischen Partei Österreichs an. Sie war mehr als ein einfaches Mitglied, in ihrer Dreizimmerwohnung fanden mitunter ZK-Sitzungen der KPÖ statt. Die Wiener Arbeiteraufstände von 1934 erlebte sie an der Seite eines talentierten englischen Marxisten, den sie bald darauf heiratete und mit dem sie vor den Nachstellungen der österreichischen Polizei nach Großbritannien auswich. Dieser zweite Ehemann war kein anderer als Kim Philby, der legendäre Doppelagent, der während und nach den Zweiten Weltkrieg den KGB mit entscheidenden Militärgeheimnissen des Westens versorgte und damit nicht zuletzt zur atomaren Aufrüstung der Sowjetunion beitrug. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, ohne ihn hätte der Kalte Krieg einen anderen Verlauf genommen. Lizzy Kohlmann war seit 1935 in die Spionagearbeit Philbys eingeweiht, strickte mit an seiner Tarnung gegenüber der britischen Abwehr und erfüllte Verbindungsaufgaben zwischen dem KGB und Philby. Der perfekte Stoff für einen Polit-Thriller. Den hat Barbara Honigmann allerdings nicht geschrieben. Statt auf die inzwischen bekannt gewordenen Tatsachen, die vermutlich ohnehin den beteiligten Geheimdiensten gründlich manipuliert wurden, konzentriert sich auf ihr Verhältnis zu ihrer Mutter. Lizzy Kohlmann ließ sich noch in England von Philby scheiden, heiratete den deutschen Emigranten Georg Honigmann und folgte ihm am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Ost-Berlin. Dort wurde 1949 Barbara Honigmann geboren, die, wie so viele Kinder höherer Funktionäre, von Jugendbeinen an in eine solide Gegnerschaft zum sozialistischen Regime hineinwuchs. Obwohl sich Mutter und Tochter äußerlich ähneln und zeit Lebens ein herzliches Verhältnis pflegen, reichen die Unterschiede zwischen ihnen tief. Lizzy Kohlmann ist ein Kind des Bürgertums, das auf bürgerliche Bindungen keinen Wert legt: Sie läßt ihr Judentum ebenso leichten Herzens hinter sich, wie ihre österreichische Heimat, trennt sich weitgehend schmerzarm von ihren insgesamt drei Ehemännern und diversen Liebespartnern, fühlt sich an der Seite Philbys England gegenüber, dessen Kultur sie bewundert und das ihr vor den Nazis Zuflucht gewährte, zu keiner Loyalität verpflichtet, ja verläßt schließlich sogar als fast Fünfundsiebzigjährige abrupt mit der DDR die marxistische Welt und kehrt nach Wien zurück. Ihre Leben ist von einem radikalen Drang nach Unabhängigkeit und zugleich nie versiegender politischer Leidenschaft geprägt. Die Tochter dagegen ist ein Kind des Sozialismus, das an die sozialistischen Glücksversprechen nicht glauben kann: Sie fühlt sich heimatlos im ungeliebten Staat und wünscht sich schon deshalb nichts dringender als eine rundum bejahte Bindung und Zugehörigkeit. So beginnt sie die jüdische Tradition ihrer Vorfahren, mit der ihre Eltern gebrochen hatten, mühevoll für sich zu rekonstruieren – und beantragt schließlich die Ausreise aus der DDR, um sich in der großen jüdischen Gemeine Straßburgs zu verwurzeln. Barbara Honigmanns Buch bietet Einblicke in das Leben des „antifaschistischen Adels“ der DDR, die allen Klischees von den unüberbrückbaren Systemgegensätzen des Kalten Krieges zuwiderlaufen. Lizzy Kohlmann, die engagierte Kommunistin, fährt alljährlich von Ost-Berlin nach Wien zur Sommerfrische, sie schickt ihre Tochter zuerst als Schülerin zu Freunden ins bewunderte (und verratene) England, später als Studentin nach Moskau – wo sie in der Wohnung russischer Dissidenten (!) dem Engländer Donald Maclean begegnet, der gemeinsam mit Philby für den KGB gearbeitet und sich aus den USA in die Sowjetunion abgesetzt hatte. Man könnte meinen: Was für ein exotisches Milieu, was für ein unvergleichliches Schicksal. Doch da Barbara Honigmann nicht die Thriller-Story, sondern eben die alltäglichen Aspekte im Leben ihrer Mutter in den Mittelpunkt des Essays stellt, erweist sich manches an ihrer Biographie und an der Biographie der Tochter als durchaus exemplarisch. Denn die Radikalität mit der sich Lizzy Kohlmann von ihrer Herkunft lossagte, stets alles fortwarf, nie etwas bewahrte, konsequent nur in der Gegenwart lebte, war zugleich abgefedert durch zutiefst bürgerliche Bildung, Umgangformen, Stilsicherheit, auf die sie sich immer verlassen konnte. Aber gerade ein solches kulturelles Fundament fehlt den Nachgeborenen, fehlt den nach den Zivilisationsbrüchen des 20. Jahrhunderts Geborenen. Während die Mutter, ihrer selbst ganz und gar gewiß, mit Identitäten spielt, ringt die Tochter darum, überhaupt erst zu einer Identität zu finden – und sucht sie schließlich im Judentum. Ratlos wie viele ihrer Generation schaut Barbara Honigmann in diesem Buch auf Eltern, die rigoros eine Menge der Traditionen zerstörten, um deren Rekonstruktion sich viele heute bemühen. Eine Ratlosigkeit, in die sich mitunter insgeheim auch ein wenig Neid mischt auf jene alten Revolutionäre, die in sich die Kraft und das Selbstbewußtsein spürten, die Welt aus den Angeln zu heben, und die, wie Philby die Welt tatsächlich – allerdings nicht zu ihrem Guten – veränderten. Wie viele innerfamiliäre Abrechnungen sind in den letzten Jahren veröffentlicht worden, wie viele Bücher über die Wege von Großvätern, Vätern, Müttern oder älteren Brüdern durch eine zerrissene Epoche. Doch wie wenige von ihnen sind so klar und klug geschrieben, so federnd leicht und zugleich erfahrungssatt wie dieses von Barbara Honigmann.
Barbara Honigmann: „Ein Kapitel aus meinem Leben“ Hanser Verlag, München 2004 142 Seiten, 15,90 €