Botho Strauß erklärt haarklein, was alles falsch läuft
Inzwischen ist es schon zur lieben Gewohnheit geworden: Alle drei, vier Jahre liefert der hingebungsvolle Welt- und Menschenverächter Botho Strauß einen Packen mit Notizen ab über die Gedankengespinste, denen er in letzter Zeit in uckermärkischer Abgeschiedenheit nachhing. Wir, sein Publikum draußen im Lande an den Bücherregalen, kuscheln uns dann in die meist nicht so abgeschiedenen Lesesessel und lassen uns von ihm rund zweihundert Seiten lang haarklein erklären, was denn alles falsch läuft in unserer verderben, verlotterten, verblödeten Epoche. Ich muss sagen, ich habe dieses Ritual immer gemocht. Strauß ist ein wirklich eigensinniger, finessenreicher, hinreißend skurriler Grantler. Die Energie, mit der er nach immer neuen Anlässen für seinen Zorn fahndet, ist ebenso bewundernswert wie komisch. Und Strauß hat zudem keine Scheu, die Arien seines Unmuts zu den waghalsigsten Slogans zuzuspitzen. „Es gibt eine Kraft der Abwehr von Gegenwart, die einer Zeitgenossenschaft erst Gewicht verleiht“, heißt es jetzt in seinem neuen Buch. Oder: „Nichts ist vergangener als eine vergangene Jahreszeit!“ Oder: „Alle Lust will Öffentlichkeit.“ Wer, außer Strauß, hat heute noch den Mut, alles was ihm so durchs Hirn hüpft, derart ungeschützt und fanfarenhaft unter die Leute zu trompeten? Natürlich muss man sich immer wieder mal im Sessel zurücklehnen und klar machen, dass Strauß das alles vielleicht so ernst und apodiktisch meint, wie er es schreibt, wir Leser es aber ein wenig lockerer angehen dürfen. Niemand hat Strauß bislang mehr geschadet als seine blindwütigen Anhänger, die um jedes seiner Worte derart viel Weihrauch schwenken, dass die Schwaden dem Autor mitunter schwer zu Kopfe steigen. Strauß ist alles andere als ein systematischer Denker – und in seinen besseren Momenten will er es auch nicht sein. Er liefert Fragmente, Gedankensplitter, kleine Einfälle, und er liefert sie, wenn man genau hinschaut, mit einer sympathischen Freude am Selbstwiderspruch: „Nichts, was du weißt“, bescheinigt er sich selbst, „stimmt mit dem, was du sonst noch weißt, überein.“ So erinnert jedes neue Buch von Strauß beim ersten Lesen an eine rasante Schlittenfahrt bei stockfinsterer Nacht: Man weiß nie, was kommt. Manchmal freie Strecke, manchmal wirres Unterholz. Das hält wach, das trainiert die Reflexe. Wären diese glatt polierten Strauß-Slogans, kann man zum Beispiel fragen, nicht ebenso plausibel, wenn man sie in ihr blankes Gegenteil verkehrt? „Es gibt eine Kraft der Abwehr von Vergangenheit, die einer Zeitgenossenschaft erst Gewicht verleiht“. Oder: „Nichts ist gegenwärtiger als eine vergangene Jahreszeit!“ Oder (was das spezifische Mitteilungsbedürfnis dieses Autors besonders schön beschriebe): „Alle Unlust will Öffentlichkeit“. Nein, wer sich aus Strauß’ lockerer Gedankenprosa ein festes Weltbildchen zusammenzimmern will, tut es auf eigene Gefahr. In seinem neuen Buch nimmt sich Strauß beispielsweise zwei Lieblingsbegriffe unserer Zeit zur Brust: Demokratie und Kommunikation. Er zaust sie kräftig durch, lässt wenig gute Haare an ihnen – und das ist natürlich erfrischend, weil es immer erfrischend ist, wenn unbefragte Leitvokabeln mal ins Zwielicht gerückt werden. Doch Strauß ist ein viel zu rhapsodischer, sprunghafter Denker, als dass man darin mehr sehen sollte als geistige Lockerungsübungen für Zwischendurch. Ein Beispiel: Für Strauß, den Dichter, wird eine Metapher bereits zum Argument. Wenn er etwa die Bedeutung des Mythos für die Kultur unserer Zeit beschreiben will, leiht er sich dazu ein Bild aus der Astronomie: „In der Kultur war der Urknall die Sprengung des Mythos. In unzähligen Subtanzen fliegt er um uns und durch uns hindurch. Die zunehmende Entfernung vom gesprengten Einen, dem religiösen Glutkern, wird angeblich nie wieder rückgängig.“ Und dann dreht Strauß den Spieß um, und folgert flott aus seiner Metapher, welche Zukunft der Kultur bevorstehe: „Neuere Theorien über das Schicksal des Universums legen nahe, dass es nie wieder kontrahieren, nie wieder ineins, zu seiner Gänze zusammenstürzen wird. Mit anderen Worten, auch unser ins Unendliche auseinanderfliegende, hinausgestreute Geist müsste wie das All irgendwann zum Stillstand kommen, auskühlen und veröden.“ Für solche atemberaubenden Manöver habe ich Strauß immer geliebt. Sie entbehren jeder Logik, entspringen allein dem tiefen Wunsch und Wille des Autors, verraten mithin eine Menge über ihn und dazu noch über das ungebrochene Fortleben magischer Denkformen in unserem angeblich so rationalen Zeitalter. Denn, seien wir ehrlich, auf solchen verschwurbelten Bahnen bewegen sich nicht nur Geistesblitze von Strauß, sondern vermutlich das meiste, was jedem von uns durch den Kopf schießt. Es wird in der Literatur jedoch nur selten so offen und ungeniert präsentiert wie eben hier. Ein Rätsel bleibt, weshalb Strauß von seiner Fan-Gemeinde angesichts solcher nicht eben Vertrauen erweckender gedanklicher Präzisionsarbeit zu einer Art Weltorakel stilisiert wird. Vielleicht steckt dahinter der Köhlerglaube, jemand, der in die Einsamkeit zieht, komme damit als Eremit der Wahrheit automatisch näher. Ein Rätsel auch, weshalb Strauß – der ja kein dummer Mann ist – sich immer wieder in enervierende Predigerposen wirft und in nietzschehaften Wahrlich-ich-aber-sage-Euch-Ton verfällt. Klar, er will sich mit diesem Pathos sprachlich von der vermeintlich dauerironischen Gegenwart absetzen. Schön, schön. Aber gehören nicht Inhalt und Form im Reich der Literatur zu den untrennbaren Siamesischen Zwillingen? Will sagen: Erhebt Strauß mit seinem Weltgeist-Tonfall unter der Hand nicht doch Ansprüche, von denen er weiß, dass er sie – wie alle – nicht mehr erfüllen kann? Ich glaube, an guten Tagen ist sich Strauß über all das klar. Er schaut über die Uckermark und gesteht sich ein, dass er keineswegs unbegrenzte Fernsicht genießt. Vielmehr verliert sich sein Blick im neuen Buch auffällig häufig im Nebel – und das ist, wie Landschaftsschilderungen bei Strauß oft, getrost symbolisch zu verstehen. Der Eremit sieht die Dinge nicht zwangsläufig klarer, er ist nur allein mit seinen Unklarheiten. Ewige Grantler treten naturgemäß auf der Stelle. Im Grunde möchten sie, wie Genet einmal sagte, dass die Welt so schlecht bleibt, wie sie ist, damit sie weiter gegen sie sein können. Von dieser Haltung scheint sich Strauß jedoch im neuen Buch gelegentlich frei machen zu wollen. Er, der sich selbst gern als konservativer, wenn nicht reaktionärer Zeitkritiker feiert, stimmt plötzlich ein verhaltenes Loblied auf die „Fortschrittsoptimisten“ an und belächelt alle „Niedergangsdiagnostiker“. Oder er, der sonst den Verlust kulturellen Zusammenhänge beklagt, lässt sich zu einer Hymne auf das postmoderne Durcheinander hinreißen: „Vielleicht kommt aber der natürliche Artenreichtum des Geistes gegenwärtig üppig und ungeschönt wie selten zum Vorschein. Er lässt sich nicht an tendenzielle Normen binden, wie es die klassische Beschreibung geschichtlicher Perioden versuchte, vor allem solcher mit erklärtem metaphysischen, nationalen oder utopischen Ziel.“ Für solche Unbekümmertheit gegenüber dem eigenen Image muss man ihn natürlich erst recht mögen. Ob er ernstlich zu anderen Zielen aufbricht, ist die Preisfrage, die dann in drei, vier Jahren der nächste Packen mit Notizen beantwortet. Es bleibt spannend.
Botho Strauss: „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“ Hanser Verlag 2004 169 Seiten 17,90 €