Keiner darf gemeint sein

 Der Bundesgerichtshof verbietet Maxim Billers Roman „Esra“. Der Autor habe seine Figuren nicht genug verfremdet

Für Thomas Mann war die Sache klar, er zögerte nicht. Als vor hundert Jahren einem Schriftsteller der Prozeß gemacht wurde, weil der in einem Roman seine Verwandtschaft abfällig porträtiert hatte, solidarisierte er sich entschieden mit dem Kollegen. Er hielt ihn für einen miesen Schmieranten und sagte das auch, doch hinderte ihn das nicht, auf Gemeinsamkeiten zu verweisen: In jedem Skandalprozeß, darauf bestand Mann, gehöre sein Roman „Buddenbrooks“ unbedingt mit „zur Sache“, denn auch er habe darin die „Figuren zum Teil nach lebenden Personen gebildet“, habe „ein paar Lübecker Bürgertypen behaglich abkonterfeit“. Mann sah darin kein Vergehen, sondern eine unvermeidliche Arbeitsvoraussetzung der Literatur. Wollte man, schrieb er, „alle Bücher, in denen ein Dichter lebende Personen seiner Bekanntschaft porträtiert hat“, aufhäufen, „so müßte man ganze Bibliotheken von Werken der Weltliteratur versammeln, darunter die allerunsterblichsten“. Die Phantasie eines Autors entzünde sich, das hielt Thomas Mann für selbstverständlich, an der Realität, er verwende noch „ihr letztes Merkmal begierig und folgsam für sein Werk“. Aber dennoch müsse jeder Leser zwingend unterscheiden zwischen den Fakten der Wirklichkeit und der Fiktion eines Romans. Am Fall des Romans „Esra“ von Maxim Biller, der nun vom Bundesgerichtshof verboten wurde, weil seine Ex-Freundin und ihre Mutter sich darin wiedererkannten und deshalb in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt sahen, fällt zunächst einmal auf: Die Schriftsteller unserer Zeit haben Biller jene Solidarität, die Mann seinem längst vergessenen Kollegen gewährte, fast ausnahmslos verweigert. Ein Sturmlauf gegen das Verfahren fand nicht statt. Vielleicht werden sich jetzt, nachdem das Kind im Brunnen ist – wie seinerzeit nach der Rechtschreibreform – noch kritische Stimmen erheben. Doch die kommen spät, sehr spät. Dabei wäre die Sache ein wenig Engagement von seiten der Autoren wert gewesen. Denn natürlich zielt jede Literatur, die von der Gegenwart und den gesellschaftlichen Zuständen im Hier und Jetzt berichten, letztlich darauf, bestimmte Menschen oder Milieus für die Leser erkennbar zu machen. Und natürlich geht sie dabei immer das Risiko ein, Personen zu verärgern, die zu Recht oder zu Unrecht der Meinung sind, in einem Roman porträtiert worden zu sein. Je stärker also die Justiz den Persönlichkeitsschutz betont, desto enger werden die Grenzen der Literaturfreiheit und desto geringer die Möglichkeiten der Autoren, unchiffriert über ihre Zeit zu schreiben. Das sollte sie kümmern. Wie wenig Rücksicht die Gerichte dabei auf die individuelle Schreibweise eines Buches nehmen, zeigt sich am Roman „Meere“ von Alban Nicolai Herbst. Wie bei Billers „Esra“ gingen auch hier Erinnerungen des Autors an eine gescheiterte Liebesgeschichte in die Handlung ein. Doch obwohl Herbst das autobiographische Material in seinem Buch weitaus stärker verfremdete als Biller, obwohl hier die Schauplätze und Charaktere viel vager gezeichnet sind, wurde auch dieses Buch nach dem Einspruch einer Ex-Freundin des Autors 2004 verboten. Doch nicht nur wenn es um Details von Liebesaffären geht, also die Intimsphäre der Kläger gefährdet erscheint, sind Richter heute zu Beschränkungen der Literaturfreiheit schnell bereit. Reinhard Liebermanns Roman „Das Ende des Kanzlers – Der finale Rettungsschuß“ beschreibt einen Ladenbesitzer, der die Politiker in unserem Land dafür verantwortlich macht, daß seine Geschäfte schlechtgehen, und der deshalb ein Attentat auf den Kanzler plant. Das Buch erschien 2004, Gerhard Schröder nahm Anstoß, und das Hamburger Oberlandesgericht zog es sofort aus dem Verkehr. So schmal also sind die Spielräume der Literatur mittlerweile geworden. Wohlgemerkt: In keinem dieser Bücher wurden die Namen derjenigen Personen genannt, die sich in ihnen wiederzuerkennen glauben, in jedem waren weite Teile der Handlung auch nach dem Eingeständnis der jeweiligen Kläger frei erfunden und jedes war ausdrücklich als Roman gekennzeichnet, also als Fiktion. Dennoch gaben die Gerichte in allen Fällen dem grundgesetzlich garantierten Schutz der Persönlichkeit der Vorzug von der ebenso grundgesetzlich garantierten Freiheit der Literatur. Aber was bleibt unter solchen Umständen von der Literaturfreiheit übrig? Die Freiheit, jedes Buch zu drucken, das so sehr von konkreten Gegebenheiten absieht, daß sich ja kein Kläger gemeint fühlen kann? Und wollen wir das: eine Literatur, von der sich niemand gemeint fühlt? Kann es sein, daß wir mittlerweile so abhängig geworden sind von unserem Bild in Medien, daß wir es von unserem Leben, von der Realität, nicht mehr unterscheiden können? Und daß wir verlernt haben, zu trennen zwischen Medien wie den Fernsehnachrichten, die behaupten, Fakten darzustellen, und Romanen, die für sich in Anspruch nehmen, das schöne Spiel mit Fiktionen zu betreiben? Die Bürger Lübecks, die sich in den „Buddenbrooks“ zu entdecken glaubten, hatten die Souveränität, Thomas Mann nicht zu verklagen. Sie waren sich ihrer Persönlichkeit so sicher, daß sie die Differenz zwischen sich selbst und einer Romanfigur noch wahrnahmen. Eine Fähigkeit, die inzwischen – unter Mithilfe der Gerichte – mehr und mehr verlorenzugehen scheint.

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