Ein Gespräch mit Kurt Flasch über unsere mythischen Urahnen, den Wandel der Interpretationen und das Paradies sowie die Ordnung unserer Lebensverhältnisse
Der Philosoph Kurt Flasch beschreibt in seinem Buch „Eva und Adam“, wie sich innerhalb der vergangenen 2000 Jahren das Verständnis der biblischen Erzählung über die zwei ersten Menschen und ihre Vertreibung aus dem Paradies wandelte. Diese Geschichte provozierte, wie kein anderer Text, Deutungen, in denen sich die Entwicklungsgeschichte des abendländischen Selbstverständnisses spiegelt. Mit Kurt Flasch sprach Uwe Wittstock Uwe Wittstock: Die Geschichte von Eva und Adam erzählt aus christlicher Sicht von den Ursprüngen der Menschheit. Darf man sie den mächtigsten Mythos des Abendlandes nennen? Kurt Flasch: Ich denke schon. Mehr noch: Es gibt nicht nur bei Christen, sondern auch im Judentum und im Islam ein enormes Interesse für diese fast 3000 Jahre alte Erzählung. Ich vermute, es gibt keinen anderen Stoff in der Weltgeschichte, der so oft ausgelegt, umgeformt, weitergeführt, dargestellt worden ist, wie die ersten drei Kapitel der biblischen „Genesis“. Warum hat man sich in Europa gerade mit dieser Geschichte so unermüdlich beschäftigt? Flasch: Genau genommen sind es zwei – widersprüchliche – Geschichten, die in der Bibel von Eva und Adam erzählen. In diesen Geschichten werden die wichtigsten Themen des Lebens behandelt: Das Verhältnis zwischen Frau und Mann, das Verhältnis der Menschen zu Gott, die Frage, wie das Böse in die Welt kommt, die Frage, nach dem Grund für den Tod, nach dem Grund für Mühsal, Arbeit, Schmerz. All diese Fragen beantworten die Erzählungen auf ihre Weise. Sie berichten von den Ursprüngen des Lebens, und für viele Denker lag es nahe, den Rätseln des Lebens bei dessen Anfängen auf die Spur kommen zu wollen. Deshalb haben sie immer neu darüber nachgedacht, wie das alles zu verstehen ist, was uns von Eva und Adam berichtet wird. Wie hat dieser Mythos das Bewußtsein Europas geprägt? Flasch: Ich spreche nicht gern von Mythos, das ist ein schwieriger Begriff. Bleiben wir lieber bei Erzählung. Die Erzählung von Eva und Adam lieferte zum Beispiel hervorragende Argumente dafür, daß die Frau dem Mann untergeordnet, daß sie juristisch benachteiligt wurde. Weil sich Eva gegen Gottes Gebot von der Schlange zum Biß in den Apfel verführen ließ, galten alle Frauen als unvernünftig und verführbar. Mit dieser Begründung wurden sie zum Beispiel oft von der Thronfolge ausgeschlossen, denn Könige hatten vernünftig und unverführbar zu sein. Doch nicht in jedem Fall wurde das, was aus dieser Geschichte herauszulesen war, so konsequent übernommen wie in diesem Punkt. Die meisten mittelalterlichen Kommentatoren waren zum Beispiel davon überzeugt, daß es im Paradies kein Privateigentum gab, für sie herrschte im Paradies Sozialismus. Wenn Gott aber in dem von ihm geschaffenen, vollkommenen Paradies kein Eigentum zuließ, mußten dann nicht gottesfürchtige Mensch auf Erden auch auf Eigentum verzichten? In Klöstern war Privateigentum verboten. Doch jenseits dieser Klöster endete die Macht dieser paradiesischen Vorstellung sehr rasch. Im Mittelalter wurden Eva und Adam oft auch als Patriarchen und Heilige betrachtet. Ging man damals mit ihrem Sündenfall gelassener um als später? War das Mittelalter mit Blick auf die Sünde, auf die Sexualität der Menschen also gelassener, als dies heute ins Klischee vom finsteren Mittelalter paßt? Flasch: Im Mittelalter gab es viele abweichende Ansichten. Manche betrachteten den Sündenfall von Eva und Adam ungefähr so, wie wir heute Details aus der Geschichte des englischen Königshauses sehen. Wir wissen, daß da einiges im Familienleben von Prinz Charles nicht ganz so ist, wie es sein sollte, aber man nimmt es nicht so wichtig. Schließlich war Adam der Mensch, der noch mit Gott persönlich gesprochen hat. Schon deshalb hielt man ihn für den Inbegriff von Wissen. Adam hat laut biblischer Überlieferung im Namen Gottes allen Tieren und Dingen den Namen gegeben, schon deshalb mußte er, glaubte man damals, buchstäblich alles gewußt haben. Je länger man mit aufgeklärtem Verstand über Eva und Adam nachdenkt, desto abstruser erscheint die Konstruktion ihrer Geschichte. Flasch: Ja, auch Luther sagt, die ganze Geschichte sei, mit der Vernunft betrachtet, lächerlich. Doch das sprach in seinen Augen gegen die Vernunft und für den Glauben. Auch in Märchen sprechen Bohnen oder regnen Taler vom Himmel. Natürlich glaubt niemand, daß so etwas tatsächlich geschehen könnte, dennoch lohnt sich auch heute noch die Beschäftigung mit Märchen. Schauen Sie, den Tod begreifen wir doch alle nicht, die Schmerzen, das Böse. Für all das will man eine Erklärung haben – und sucht sie in tiefsinnigen, alten Geschichten. Man will eine Erklärung dafür haben, weshalb so viel Schlechtes in einer Welt geschehen kann, über die angeblich ein guter, allmächtiger Gott wacht. Und für all das liefert die Geschichte von Eva und Adam eine Erklärung. Bis etwa 1800 herrschte bei Katholiken wie Protestanten die Vorschrift, diese Erzählungen buchstäblich zu nehmen. Dann war Adams Rippe wirklich eine Rippe. Aber es gab immer, auch im Mittelalters, Denker, die diese Geschichte – wie wir heute die Märchen – nicht unmittelbar buchstäblich verstanden, sondern sie bildlich, allegorisch. Und ihre Deutungen waren sehr scharfsinnig, man sollte sie nicht unterschätzen. Kant und Schiller haben dann versucht, die Vertreibung aus dem Paradies als einen glücklichen Fortschritt der Geschichte zu beschreiben, als den Moment, in dem der Mensch lernt sich seiner Vernunft zu bedienen. Seither findet sich der Mensch allerdings immer noch in einer unparadiesischen, unvernünftigen Welt wieder. Flasch: Durch den Gebrauch der Vernunft, also durch den medizinischen, technischen, sozialen Fortschritt, ist die Welt nicht zum Paradies geworden, aber doch um manches menschenfreundlicher als zuvor. Andererseits wurden seit der Aufklärung bestimmte Verhältnisse, die früher durch die Bibel gerechtfertig wurden, nun mit scheinbar vernünftigen Argumenten begründet. Hieß es einst, die Frau solle dem Mann Untertan sein, weil sie die Schuld an der Erbsünde trägt, so heißt es nun, die Frau solle im Haushalt bleiben, weil ihre Natur für das Private bestimmt sei. Das Abendland hat sich jetzt 2000 Jahre lang an dieser orientalischen Geschichte von Eva und Adam abgearbeitet. Was sind die Resultate dieser Arbeit am Mythos? Flasch: In dieser zweitausendjährigen Denkanstrengung wurde aus jenen schwierigen, widersprüchlichen Geschichten das menschliche Selbstverständnis quer durch die Jahrhunderte immer neu entwickelt. Und dieses sich wandelnde Selbstverständnis hatte jeweils Folgen für die soziale Struktur der jeweiligen Zeit, für die Auffassung vom Gemeinwesen und von Herrschaft, von Eigentum und Ehe, für die Rolle der Kirche. Alles, was wichtig war an Institutionen, an Lebensverhältnissen, wurde gespiegelt in den Auslegungen dieser Geschichten. Beginnt die Ausstrahlungskraft dieser Geschichten heute – nicht zuletzt wegen ihrer Frauenfeindlichkeit – zu schwinden? Flasch: Ihre Ausstrahlungskraft verschwindet nicht, die Geschichte ist inzwischen lediglich in die Werbung, ins Triviale abgesunken. Wenn Sie im Internet in einer Suchmaschine wie Google den Begriff „Eva“ eingeben, werden Sie an der gigantischen Zahl von Treffern sehen, welche enorme Wirksamkeit diese uralte Geschichte noch immer hat. Man kann bis heute keine nackte Frau mit Apfel abbilden, ohne daß sich in unseren Breiten die Idee einstellt, dieses Abbildung spiele auf Eva und Adam an. Die Geschichte sitzt tief im abendländischen Bewußtsein verankert. Aber sie hat heute jede Autorität verloren. Niemand käme noch auf die Idee, die Ordnung unserer Lebensverhältnisse von der Deutung dieser Geschichte ableiten zu wollen. Eva und Adam stehen inzwischen vielmehr dem freien Spiel der Phantasie zur Verfügung. Was ja auch etwas Schönes ist. Die Künstler können aus ihnen machen, was sie für richtig halten. Jeder kann für sich aus ihnen machen, was er will.
Kurt Flasch: „Eva und Adam“. Wandlungen eines Mythos C.H.Beck Verlag, München 2005 112 Seiten, 12,00 €