Gespräch über Friedrich Schiller mit seinem Biographen Rüdiger Safranski
Neben Hölderlin war Schiller wohl der Klassiker, der von den Nationalsozialisten am stärksten für ihre Zwecke mißbraucht wurde. Sie feierten ihn als übermächtige Gestalt des deutschen Geistes, sein 175. Geburtstag 1934 wurde mit großem Aufwand zelebriert und seine Stücke standen auf zahllosen Spielplänen. Sicher, Schillers politische Überzeugungen waren weltenweit von denen der Nazis entfernt. Aber gab es Aspekte in seinem Werk, die dem propagandistischen Mißbrauch entgegen kamen? Uwe Wittstock sprach mit dem Autor der neuen Schiller-Biographie Rüdiger Safranski.
Uwe Wittstock: Verbinden den 8. Mai 1945, also das Ende des Zweiten Weltkriegs, und den 9. Mai 1805, also den Todestag Schillers, mehr als nur eine zufällige Nachbarschaft im Kalender? Gibt es zwischen Schiller, dem Erfinder des Deutschen Idealismus, und dem pervertierten Idealismus, mit dem viele Deutsche für Hitler in den Krieg zogen, eine innere Beziehung?
Rüdiger Safranski: Historisch gibt es eine Verbindung. „Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an“, heißt es im „Wilhelm Tell“. Schillers Idealismus hatte auch eine patriotische Beiklang und auf den haben sich dann viele Nationalisten im 19. Jahrhundert und auch die Nazis an Anfang des 20.Jahrhunderts berufen. Die andere Frage ist, ob diese emotional aufputschende und ideologischen Verwendung des Schillerschen Idealismus im Sinne Schillers war. Das kann man eindeutig verneinen. Die Begeisterung, die Schiller in den Köpfen und Herzen seiner Leser entfachen wollte, hatte nichts mit Chauvinismus, mit politischem Expansionsstreben oder mit Gewalt zu tun. Im Gegenteil.
Wittstock: Sicher, Schiller war ein Dichter der Freiheit und der Tyrannenfeindschaft. Andererseits aber verherrlicht er die großen historischen Gestalten und ihre – auch amoralischen – Taten. Eine Haltung, die der Ideologie des Nationalsozialismus durchaus in die Hände spielte. Safranski: Das ist richtig, er liebte die großen Figuren jenseits der Moral. Aber das hatte für ihn als Dramatiker handwerkliche Gründe. Das Mittelmaß war für den Bühnenautor Schiller nicht interessant, denn das Mittelmaß ist nicht dramentauglich. In der Hierarchie des Dramatikers nimmt der starke, große, gute Held den ersten Platz ein. Doch schon auf dem zweiten Platz kommt der starke, große, böse Held, der Bösewicht – denn den braucht der Dramatiker als Gegenspieler zum guten Helden. Danach kommen für ihn dann die guten, aber kraftlosen Figuren, die im Kampf schnell unterliegen und die Bösen, der nur noch hinterhältig und schwach sind. Mit einer solchen Hierarchie dramentauglicher Figuren konnte Schiller auf der Bühne große Konflikte inszenieren. Eine andere Frage ist natürlich Schillers moralische Bewertung solcher Figuren. Und da ist seine Haltung zu politischen Verbrechern ganz eindeutig: Er benennt und verurteilt sie. Zum Beispiel Napoleon, dessen Aufstieg aus kleinen Verhältnissen in den Himmel der europäischen Mächte er zu seinen Lebzeiten beobachten konnte. Natürlich hat ihn als Dramatiker die geschichtsmächtige Größe dieser Figur fasziniert. Aber Schillers Verhältnis zu der politischen Rolle Napoleons war immer ambivalent, er hat die menschlichen Opfer Napoleons nie übersehen. Wittstock: Hat diese Faszination für historische Größe jenseits der Moral Schiller mißbrauchbar gemacht für die Nazis?
Safranski: Ja, das muß man zugestehen – aber das ist nur eine Seite seines Werks. Es gibt bei Schiller auch einen starken moralischen Zug. Hier bewundert und feiert er all das, was Freiheit verkörpert und zugleich die Freiheit der anderen respektiert, ja wenn möglich die Freiheitsspielräume beider Seiten noch vergrößert. Doch zugleich ist er fasziniert von Figuren, die ihre Freiheit so sehr ausleben, daß sie durch ihre machtvolle Entwicklung alle anderen einschränken und unterdrücken. Und diese Faszination strahlen seine Stücke auch aus. Das läßt sich gut am „Wallenstein“ illustrieren: Schiller hat großes Gewicht darauf gelegt, daß eine Figur wie Wallenstein seine Macht nicht für irgendwelche höheren Zwecke, irgendwelche wohlmeinenden Absichtet einsetzt. Wallenstein ist kein Friedensstifter, kein Verteidiger der Reichsidee gegen den Krieg. Schiller macht aus Wallenstein eine Gestalt aus dem Geist Nietzsches. Sein Wallenstein ist von der Macht besessen, er erlebt den Rausch der Macht. Schiller zeigt in diesem Stück, wie so ein Biotop der Macht entsteht und funktioniert: Daß sich jeder Mensch im Einflußbereich eines solchen Machtmenschen auf ihn ausrichtet wie die Eisenspäne auf ein Magnet. Wittstock: Auch wenn Schiller den Tyrannen Wallenstein verachtet, feiert er ihn zugleich als Machtzentrum.
Safranski: Ja, Wallenstein fasziniert ihn. Und zudem ist er als Artist, als Künstler fasziniert von der eigenen Macht, aus dem schwierigen historischen Stoff um den Heerführer Wallenstein ein perfektes Theaterstück zu machen. Und ihn fasziniert die Macht, die er als Autor eines perfekten Stückes über sein Publikum hat: Die Macht, mit den Emotionen der Zuschauer zu spielen. Diesen Aspekten von Macht ist er selbst verfallen. Vor allem aber: Die von Schiller virtuos auf die Bühne gebrachte Figur des charismatischen, amoralischen Machthabers, entwickelt eine Ausstrahlungskraft, die sich selbstverständlich mißbrauchen läßt – und auch mißbraucht worden ist.
Wittstock: Gar nicht selten neigt Schiller zur Begeisterung für die Tat und zu einer für einen Dichter erstaunlichen Verachtung dem Wort gegenüber: „Wo die Tat nicht spricht“, heißt es bei ihm, „da wird das Wort nicht viel helfen.“ Safranski: Das ist nichts Ungewöhnliches. Es gibt das typisch latente schlechte Gewissen bei Intellektuellen, daß sie „nur“ des Geschäft des Wortes betreiben. Häufig führt das zu einem heimlichen Kniefall vor den Tatmenschen. Das erklärt im übrigen, weshalb die Intellektuellen immer wieder verführbar waren – und zwar nicht nur durch die Macht, von der sie selbst vergewaltigt werden, sondern von den Mächten, die sie selbst glauben ins Spiel bringen zu müssen im Namen einer besseren Gesellschaft. Sie glaubten, sich aus moralischen Gründen mit den großen Tätern der vermeintlichen Befreiung verbünden zu müssen.
Wittstock: Gibt es bei dem Republikaner Schiller nicht auch ein heimliches antidemokratisches Element? Eine Verachtung der Masse gegenüber und Bewunderung für den starken Einzelnen? „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig. / Der Starke ist am mächtigsten allein“, heißt es im „Wilhelm Tell“.
Safranski: Hier geht es Schiller vor allem darum, die Verantwortung des Einzelnen für das Ganze, auch das Ganze des Staates zu betonen. Wenn Sie so wollen, liegt darin Verachtung für den Typus des Massenmenschen, der keine Verantwortung übernehmen will. Vor allem aber steckt darin ein Hohelied auf Tell, der die politischen Unterdrückung so persönlich empfindet, daß er persönlich gegen sie vorgeht. Schillers Verhältnis zur Demokratie läßt sich gut erkennen in seiner Beschäftigung mit der Französischen Revolution. Er war kein begeisterter Verfechter des uneingeschränkten Volkswillens. Ihm war vor allem gelegen an der Herrschaft des Gesetzes, also an Rechtstaatlichkeit. Auf die Mehrheiten war in seinen Augen kein Verlaß. Die Entwicklung der Französischen Revolution hin zum Jakobinischen Terror wurde seiner Ansicht nach getragen durch eine breite Zustimmung der Bevölkerung. Nach Schillers Vorstellungen sollten nicht die Massen, sondern das Gesetz herrschen – und das Gesetz sollte sich legitimieren durch Volkssouveränität. Wittstock: Theodor W. Adorno war kein großer Schiller-Freund. Er meinte, in Schillers Sprache klinge etwas an von einem auftrumpfenden Kleinbürger, der die Mächtigen durch überzogene, idealistische Forderungen zu übertrumpfen versuche. Wörtlich: „Zwischen dem allmenschlich Grandiosen und Erhabenen, das sämtliche Idealisten gemein haben, und das stets unmenschlich das Kleine als bloße Existenz zertrampeln will, und der rohen Prunksucht bürgerlicher Gewaltmenschen besteht das innigste Einverständnis.“ Safranski: Ich glaube, Adorno hat nicht recht. Zugegeben, Schiller ist ein großer Pathetiker gewesen, und das macht Adorno ihm hier zum Vorwurf. Doch zugleich hat Schiller immer auch vor dem falschen Pathos, vor der Gewalt der allzu großen Ideen, gewarnt. Zum Beispiel in „Kabale und Liebe“: In der Figur Ferdinands zeigt er einen unglaublich pathetischen Liebhaber, der neben seiner absoluten Liebe nichts mehr gelten lassen will. Gegen diesen Terrorismus der Liebe stellt Schiller mit Luise eine Gestalt, die sehr genau weiß, daß sie in verwickelten Lebensverhältnissen steht, in denen die Liebe nur ein Wert unter anderen ist, den man nicht verabsolutieren darf. Das Stück stellt klar, daß Ferdinands extreme Liebe eine große Gefahr ist, die mehr zerstören kann als manche Grausamkeit. Oder Marquis Posa: An seinem Beispiel zeigt Schiller, wie ein Pathetiker der Befreiung sich gegen seinen Freund Don Carlos vergeht; daß man also auf das Wohl der Menschheit zielen und sich dabei gegen die Würde eines einzelnen Menschen vergehen kann. Hier beweist Schiller, anders als es Adorno behauptet, ein sehr genaues Sensorium für falsches Pathos, das zur Gewalt wird. Man darf den Nazis nicht noch im Nachhinein den Sieg gönnen, die Literatur, die sie vor ihren Karren spannten, als moralisch kontaminiert zu betrachten. Wittstock: Das Bildungsideal, das Schiller und die ganze deutsche Klassik so nachdrücklich propagierten, war wenig politisch. Rührte auch daher die Unfähigkeit des deutschen Bildungsbürgertum – das Anfang des 20.Jahrhunderts noch stark durch die Klassik geprägt war – Extremisten wie den Nazis, einen ausreichenden politischen Widerstand entgegenzusetzen? Safranski: Ich glaube nicht, daß sich der Aufstieg des Nationalsozialismus historisch begründen läßt durch den schwachen politischen Widerstand des deutschen Bildungsbürgertums. Für den Triumph der Nazis gibt es ganz andere Gründe. Tatsache ist jedoch: Obwohl im deutschen Bürgertum dieses klassische Bildungsideal damals noch lebendig war, hat 1933 die Barbarei triumphieren können. Daraus kann man zweierlei schließen. Entweder: Die gebildeten Schichten hatten in der entscheidenden Situation zu wenig politischen Einfluß. Oder: Bildung allein war keine ausreichendes Bollwerk gegen den Extremismus. Und letzteres gehört wohl zu den schmerzhaftesten Lehren des 20. Jahrhunderts: Kultur ist keine hinreichende Bedingung für politische Vernunft. Man kann Beethoven und Bach andächtig hören, man kann Schiller und Goethe verehren – und gleichzeitig die entsetzlichsten Verbrechen an Mitmenschen begehen. In den Lagern der Nazis ist dies geschehen. Schiller hatte seinerzeit noch eine höhere Meinung von der Kunst. Zumindest als er die „Briefe zur ästhetischen Erziehung“ schrieb, war er der Überzeugung, das der Umgang mit der Kunst eine so tief zivilisierende Wirkung hat, daß Mensch, die richtig mit der Kunst umgehen, keine Barbaren werden können. Heute wissen wir: In diesem Punkt hat sich Schiller getäuscht. Eine schöne Täuschung, aber ein Täuschung. Wir haben im 20.Jahrhundert anderes erfahren. Und doch: Auch wenn die Kunst politisch ohnmächtig sein sollte, sind wir doch ärmer, wenn sie fehlt. Denn es gilt auch: Manche haben das politische Grauen innerlich nur deshalb überleben können, weil es die Kunst als Zuflucht gibt. Sie kann auch ein Überlebensmittel sein.