Ein Prozeß und seine Folgen: Der Bundesgerichtshof nimmt sich jetzt der Cause „Esra“ an und verhandelt Maxim Billers Roman
Von kommender Woche an widmet sich der Bundesgerichtshof dem Roman „Esra“ von Maxim Biller. Seit 2003 stand er viermal vor Gericht, in zwei einstweiligen und zwei sogenannten Hauptsacheverfahren. Nur einmal wurde für seine Freigabe entschieden, drei Mal wurde er verboten. Mit der Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof ist das Ende des Instanzenwegs erreicht. Wird nicht noch das Bundesverfassungsgericht angerufen, ist dies die letzte Chance für das Buch. „Esra“ handelt von der aussichtslosen Liebe eines egozentrischen Schriftstellers und einer jungen Frau aus deutsch-türkischer Familie, die mit einer herrschsüchtigen Mutter und einer schwerkranken Tochter doppelt geschlagen ist. Es ist ein guter, ein intensiver Roman, der niemanden schont: Die Liebenden, die diktatorische Mutter, das kranke Kind, sie alle zeigen sich von ihren schwächsten Seiten, sind aggressiv, wehleidig, erpresserisch – und doch spürt man als Leser den Schmerz, wenn das Paar sich endgültig trennt. Wer je über Literatur nachgedacht hat, wird nicht überrascht sein zu hören, daß Biller in das Buch eigenes Liebesleid einfließen ließ. Doch eben daran entzündete sich der Prozeß gegen „Esra“. Zwei Klägerinnen – eine Frau, die mit Biller befreundet war, und deren Mutter – glauben sich in Figuren des Romans wiederzuerkennen und fühlen sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. Damit sind die Gerichte gezwungen, zwischen zwei grundgesetzlich garantierten Rechten abzuwägen: der Freiheit der Literatur und dem Schutz der Intimsphäre. Das kommende Urteil ist nicht zuletzt deshalb von entscheidender Bedeutung für die Literatur, weil jeder Schriftsteller beim Schreiben bewußt oder unbewußt auf eigene Erfahrungen zurückgreift. Wollte man ihm das verbieten, oder es mit Rücksicht auf andere Menschen, die Teil seiner Erfahrungen sind, reglementieren, entzieht man der Literatur letztlich die Geschäftsgrundlage. Klare Sache Für die Richter, die sich bislang mit „Esra“ beschäftigten, war der Fall keine einfache, aber letztlich eine klare Sache. Die Geliebte des Schriftstellers hat, heißt es in dem Roman, als Schauspielerin einen Filmpreis erhalten, ihre Mutter einen alternativen Nobelpreis. Beides trifft auch auf die Klägerinnen zu, also seien sie, so meinten die Gerichte, für Leser zu identifizieren, auch wenn sie in dem Buch andere Namen tragen als in der Realität. Da der Roman zudem das Liebespaar beim Sex beschreibt und die Erkrankung des Kindes erwähne, verletze er die Intimsphäre der Klägerinnen – und müsse aus dem Verkehr gezogen werden. Biller und sein Verlag boten an, die beanstandeten Sätze aus dem Buch zu entfernen. Daraufhin wurde es in einem der einstweiligen Verfahren freigegeben – aber danach doch wieder verboten. Denn nach dem Wirbel, den die Prozesse gegen „Esra“ verursacht hätten, sei, so hieß es im Urteil, inzwischen auch ohne die Erwähnung jener Preise für jeden Leser klar, wer als Vorlage für die Romanfiguren hergehalten habe. Die Richter schufen so eine Art Klage-Verbots-Automatismus: Wer gegen ein Buch prozessiert, sorgt damit zugleich für einen wesentlichen Grund, es aus dem Verkehr zu ziehen. Aus literarischer Perspektive betrachtet, sieht die Sache gründlich anders aus. Trägt ein Buch den Untertitel Roman, gibt es sich als Fiktion zu erkennen und muß auch so verstanden werden. Es beruft sich, anders als Biographien oder Reportagen, nicht auf Fakten, sondern auf die Fantasie seines Autors. Selbst wenn bestimmte Erlebnisse realer Menschen jenen Erlebnissen gleichen, mit denen sich die Helden eines Romans herumschlagen – und manche Leser deshalb von einem Schlüsselroman sprechen – ist es falsch, ihn als Tatsachenbericht zu lesen. Das Erzählte bleibt fiktiv. Natürlich umfaßt Billers „Esra“ auch weite Teile, von denen nie jemand behauptet hat, sie entsprächen irgendwelchen tatsächlichen Geschehnissen und die deshalb als freie Erfindungen des Autors gelten dürfen. Dennoch reichten den Gerichten bislang einige klar benennbare Parallelen zwischen Romanfiguren und Klägerinnen, um das Buch insgesamt zu verbieten. Damit wird die Reichweite des zu erwartenden Urteils sichtbar. Sollte es das Verbot des Buches bestätigen, verlangt es von den Schriftstellern, ihre persönlichsten Erfahrungen künftig nur in zuverlässig chiffrierter Form in ihre Arbeit einfließen zu lassen, damit niemand sich gemeint fühlen und Anstoß nehmen kann. Daß der Literatur damit unsinnige Grenzen gezogen würden, ist kaum zu übersehen. Schließlich geht es in der Literatur nicht zuletzt darum, Menschen oder Milieus erkennbar zu machen und eben auch Anstoß zu erregen. Von Goethes „Werther“ über Thomas Manns „Buddenbrooks“ und „Zauberberg“ bis hin zu Max Frischs „Montauk“ hätten nach der Kriterien, an denen „Esra“ gemessen wird, einige der wichtigsten Romane unserer Literatur vor Gericht keine guten Karten. Die lieben Kollegen Wer allerdings glaubt, der Literaturbetrieb würde auf das Verfahren gegen Billers Roman mit einem einhelligen Aufschrei des Protestes reagieren, irrt sich. Und dafür gibt es Gründe: Zum einen sind die meisten Schriftsteller offenbar tief davon überzeugt, daß ihre Romane besser, klüger, geschickter gebaut sind als der Billers, und daß sie deshalb Klagen wie die gegen „Esra“ nicht zu fürchten haben. Doch da Justitia blind ist – auch gegenüber literarischen Qualitäten – kann sich das rasch als riskante Hoffnung erweisen. Zum anderen ist Biller ein Virtuose in der Kunst, anderen vor den Kopf zu stoßen. Es gibt eine Menge Leute in der Branche, die sich eher die Zunge abbeißen, als ein gutes Wort für ihn einlegen würden. Tatsächlich plädierten auffällig viele Literaturkritiker öffentlich für strikte Wahrung der Intimsphäre und gegen „Esra“. Natürlich haben sie dabei angesichts der täglichen frenetischen Selbstentblößungen in Talk- und sonstigen Reality-Shows eine Menge Argumente auf ihrer Seite. Bemerkenswert ist aber dennoch, daß Kritiker, die es sonst weit von sich weisen würden, Romane als Tatsachenberichte zu betrachten, plötzlich keinen Unterschied zwischen Fiktion und Realität mehr kennen. Seltsam. Von „Mephisto“ zu „Esra“ Ein wichtiger Präzendensfall, auf den sich der Bundesgerichtshof im Verfahren gegen „Esra“ beziehen wird, ist der Prozeß gegen Klaus Manns Buch „Mephisto“. Auch er galt als Schlüsselroman und wurde 1964 verboten. Damals formulierten die Richter, worauf juristisch zu achten ist, wenn sich jemand in einem Roman wiederzuerkennen glaubt: Es sei zu fragen, „ob und in wie weit das ‚Abbild’ gegenüber dem ‚Urbild’ durch die künstlerische Gestaltung des Stoffes und seine Ein- und Unterordnung in dem Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbständigt erscheint, daß das Individuelle, das Persönlich-Intime, zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der ‚Figur’, objektiviert ist“. Die Definition klingt einleuchtend, beruht aber deutlich auf einem klassischen, vormodernen Literaturverständnisses. Viele wichtige Schriftsteller der Gegenwart – man mag zu ihren Büchern stehen wie man will – haben nichts mehr im Sinn mit der Idee, ein Kunstwerk als Organismus zu betrachten, der das Individuelle, Persönliche ins Allgemeine, Zeichenhafte hebt. Von Christa Wolf bis Peter Handke geht es ihnen nicht um Objektivierung, sondern, im Gegenteil, um Subjektivität und Authentizität. Daß Biller auf Ähnliches zielt, liegt auf der Hand. Kurz, die Kriterien, an denen die Richter „Mephisto“ maßen, waren schon Klaus Manns Roman nicht recht angemessen. Heute, vierzig Jahre später, sind sie veraltet. Mithin steht dem Bundesgerichtshof im Fall „Esra“ eine Revision seines Verhältnisses zur modernen Literatur bevor. Oder unserer Literatur steht eine empfindliche Beschneidung ihrer Freiheiten ins Haus. Kinder, Kinder Die Sache hat allerdings einen üblen Nebenaspekt. Das Kind einer der Klägerinnen habe, so behauptet diese, erst durch den Roman erfahren, daß seine Erkrankung lebensbedrohlich ist – was die Familie vor ihm zu verheimlichen suchte. Das ist naturgemäß nicht leicht zu beweisen. Sollte es aber zutreffen, wäre sicher die Grenze dessen überschritten, was sich ein Schriftsteller leisten kann. Denn von Kindern darf man, anders als von Erwachsenen, eben nicht erwarten, daß sie zwischen Roman und Realität, zwischen Fiktion und Tatsache trennscharf zu unterscheiden verstehen. Wenn sie sich in einer Geschichte neben Mutter und Großmutter wiedererkennen, haben sie wenig Chancen, sich nicht gemeint zu fühlen. Ein Autor, der leichtfertig oder gezielt mit dem Vertrauen eines Kindes zu seiner Familie spielt, wäre von haarsträubender Grausamkeit