Marcel Reich-Ranicki feiert seinen 85. Geburtstag
Vor langer Zeit, in einer fernen, fernen Vergangenheit, war es für die Menschen kein ungewöhnlicher Gedanke, Mühsal und Plackerei des Lebens nur deshalb auf sich zu nehmen, um sich an Kunst und Literatur zu erfreuen. Der Genuß der Schönheit war Ziel und Zweck des Daseins, alles andere nur fade Voraussetzung. Heute, wo unser Leben weit weniger mühselig und beladen ist als ehedem, werden Kunst und Literatur gewöhnlich als bloße Dekoration betrachtet, als schmucke Zutat, die man sich leistet, wenn gerade mal Zeit ist und sie nicht zu teuer wird. Über Ziel und Zweck des Daseins rätselt man derweil vergeblich. Marcel Reich-Ranicki ist spätestens seit seiner Fernsehtriumphe für viele Menschen zu einer leibhaftigen Erinnerung daran geworden, daß Literatur mehr sein kann als Zeitvertreib. Zu einer Erinnerung daran, daß man ihr das Leben widmen kann – und im Gegenzug von ihr reich beschenkt, mitunter beglückt, vielleicht sogar gerettet wird. Reich-Ranickis Karriere, die ihn aus der Hölle des Warschauer Gettos in die Höhen moderner Medienprominenz geführt hat, ist nicht allein durch seine literarische Kompetenz und sein unbezweifelbares Show-Talent erklärbar. Man spürt bei ihm außerdem noch, daß er so etwas wie einen Pakt mit der Literatur geschlossen hat, der ein gutes Stück über das hinausgeht, was Kritiker üblicherweise mit ihrem Metier verbindet. Mit seiner Autobiographie „Mein Leben“ hat Reich-Ranicki die Deutung seines Lebens umsichtig in eigene Hände genommen. Er beschreibt darin, wie er ab 1933 mit noch nicht 13 Jahren als Jude in Berlin vor den Schikanen und Nachstellungen der Nazis Zuflucht nahm in der Literatur. Er las und las mit solcher Ausschließlichkeit, daß ihn sogar Lehrer glaubten warnen zu müssen, darüber das Leben nicht aus den Augen zu verlieren. Rückblickend hat sich Reich-Ranicki selbst die Diagnose gestellt: „Von einer feindlichen, bestenfalls frostigen Welt umgeben, sehnte ich mich nach einer Gegenwelt.“ Er fand sie in der deutschen Literatur. Liest man die Autobiographie genau, läßt Reich-Ranicki aber auch erkennen, daß er nach seiner Schulzeit kaum noch Gelegenheit hatte für irgendeine Lektüre. Im Warschauer Getto war er ganz und gar mit dem Überleben beschäftigt und in den Nachkriegsjahren konzentrierte er sich als Diplomat und Geheimdienstoffizier fast nur auf die Politik. Erst als er 1950, mit knapp dreißig Jahren, in Ungnade fiel und aus der kommunistischen Partei Polens ausgeschlossen wurde, erinnerte er sich der Literatur. Man darf sich die Bedrohung, der Reich-Ranicki in jenen Jahren ausgesetzt war, nicht zu gering vorstellen. Der moskauhörige Parteichef Boleslaw Bierut überzog das Land mit stalinistischem Terror, durch den nach heutigen Schätzungen rund 115 000 Polen umkamen. Reich-Ranicki hatte seinen Beruf verloren, auf der Straße vermieden es Bekannte, ihn auch nur zu grüßen, denn jeder Kontakt mit angeblichen Oppositionellen konnte lebensgefährlich sein. Seine Frau Tosia Reich-Ranicki, die mit ihm gerade sechs Jahre zuvor das Warschauer Getto überlebt hatte, versetzte diese gespenstisch wiederkehrende Verfolgung in eine so übermächtige Angst, daß sie jedes seelische Gleichgewicht verlor. Ein dramatischer Nervenzusammenbruch brachte sie für Wochen ins Krankenhaus und danach für Jahre und Jahrzehnte in medizinischer Behandlung. In dieser Situation erneuerte Reich-Ranicki seinen Pakt mit der deutschen Literatur. Wie schon 17 Jahre zuvor als Berliner Gymnasiast machte er angesichts der „feindlichen, bestenfalls frostigen Welt“, die ihn umgab, die Bücher zu seinem Zufluchtsort, an dem er die Augen vor der Realität zwar nicht verschloß, an dem sie aber ihre Macht über ihn verlor. Der Willkür der Tagespolitik ausgeliefert, suchte er Halt bei den überzeitlichen Werten des Geistes. Die Literatur wurde damit für ihn zur Gegenwelt von unvergleichlicher Bedeutung – und da er sich entschloß, sich ihr beruflich mit Haut und Haar zu verschreiben, wuchs auch ihm im eigenen Weltbild ein Rang zu, der weit über die Wechselfälle des Alltäglichen hinausgeht. Doch im Grunde war Reich-Ranickis Entscheidung abenteuerlich, denn von den fünf, sechs Schülerjahren abgesehen, in denen er intensiv gelesen hatte, besaß er keine Vorbildung, und für deutsche Kultur interessierte sich in Polen knapp fünf Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kein Mensch. Wenn er dennoch beschloß, alles auf eine Karte zu setzen, auf die Literatur, dann läßt das ahnen, wie groß die Krise gewesen sein muß, in der er damals geriet und wie verzweifelt die Suche nach einem Ausweg war aus jener Angst, der seine Frau nicht hatte entkommen können. Jene Erfahrung dürfte zu der psychischen Energie, die ihn bis heute treibt, beigetragen haben. Sie ist selbst via Bildschirm zu spüren in seiner Besessenheit, in der Schärfe seines Urteils: Literatur ist für ihn eine zu wichtige, eine existentiell zu entscheidende Angelegenheit, als daß Kompromisse möglich wären. Schon deshalb warf das „Literarische Quartett“, wirft Reich-Ranicki inmitten der flüchtigen, fröhlichen Fernsehbilder einen eigentümlichen Schatten. Man merkt, auch wenn er eine Pointe an die andere reiht, hier meint es einer ganz und gar ernst mit seinem Thema, hier lebt einer aus der Literatur, mit ihr und für sie. Zugegeben, Essen und Lesen sind sich so ähnlich wie Äpfel und Birnen. Dennoch möchte ich den Vergleich riskieren: So wie Jamie Olivier mit seiner Koch-Fernsehshow gutes Essen in England (!) in den Köpfen der Kids zu einer coolen Sache gemacht und sie auf die Idee gebracht hat, statt Hamburger auch mal Boeuf Stroganoff in Erwägung zu ziehen – so hat Reich-Ranicki einer Menge Leute hierzulande ins Gedächtnis gerufen, daß gute Bücher eine helle Freude sein können, wenn man sie denn tatsächlich aufschlägt und liest. In England liegen die Ernährungswissenschaftler Jamie Olivier zu Füßen, denn was immer er kocht, es ist allemal besser als das Fast-Food, mit dem sich sein Publikum ohne seine Sendung vollstopfte. Manche Literaturkenner in Deutschland dagegen rechnen Reich-Ranicki gern penibel vor, wo er in seine Interpretation Heinrich Manns möglicherweise übers Ziel hinausgeschossen oder wann er dem Werk Robert Musil nicht gerecht geworden ist. Seltsam. Aber im Grunde sind alle Spielchen zwischen Reich-Ranicki und seinen Gegnern längst gespielt, alle Schlachten geschlagen, und das Publikum hat sich entschieden. Die Feiern, die zu Reich-Ranickis 85. Geburtstag in der kommenden Woche angesetzt wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Und alles in allem könnte die Lage für ihn kaum komfortabler sein: Im Literaturbetrieb genießt er nach wie vor die Umstrittenheit, die einem Kritiker wohlansteht und die gewöhnlichen Leser begegnen ihm mit einer Verehrung, ja einer Zuneigung, um die er heimlich wohl immer gerungen hat.
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