Rechtschreibung war nie das Werk des Volkes

Gespräch mit Dieter E. Zimmer über modernes Deutsch, dessen Unverbesserlichkeit und Rechtschreibreformen sowie Renaissance des „C

Dieter E. Zimmer war als langjähriger Redakteur der „Zeit“ einer der herausragenden Literaturkritiker und ist heute einer der großen Wissenschaftsjournalisten des Landes. In seinem neuen Buch „Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit“ (Verlag Hoffmann & Campe) geht er unter anderem der Frage nach, wie sich die deutsche Sprache heute verändert, wer und was sie verhunzt und ob überhaupt jemand das Recht hat, Rechtschreibung zu reformieren. Mit Zimmer sprach Uwe Wittstock.

Uwe Wittstock: Warum sprechen wir nicht mehr, wie Goethe sprach? Dieter E. Zimmer: Sprache verändert sich ständig, weil die Geschichte nicht still steht. Jede Generation, jeder Einzelne müssen ihre Sprache neu erfinden. Sie müssen ihre Sprache in den Stand versetzen, sich mit den Gegenständen ihres historischen Moments in einer effizienten und adäquaten Weise zu beschäftigen.
Wittstock: Wenn sich Sprache kontinuierlich ändert, muß dann auch die Rechtschreibung regelmäßig verändert werden? Zimmer: Nein. In dem Bedürfnis nach einheitlichen Rechtschreibregeln steckt immer ein sehr konservatives Element. Das ist gut so. Wir wollen, daß jedes Wort auf eine immer gleiche Weise geschrieben wird, weil wir es so am leichtesten lesen können, schreiben natürlich auch. Die Orthographie ist das System, mit dem wir Sprachlaute in Schrift umsetzen. Und am deutschen Repertoire von rund 40 Sprachlauten, die wir durch die 29 Buchstaben unseres Alphabets wiedergeben, hat sich seit Goethes Zeit nichts geändert. Das System der Laut-Buchstaben-Beziehungen selbst muß nicht dauernd angepaßt werden. Wittstock: Was hat sich seit Goethe am Deutschen verändert? Zimmer: Die wichtigsten Veränderung spielen sich auf dem Gebiet der Semantik ab: Alte Wörter und Idiome gehen, verändern ihre Bedeutung, neue kommen. Nur in geringem Maße ändert sich auch die Grammatik. Die Rechtschreibung ist davon nicht betroffen.
Wittstock: Wieso dann die Rechtschreibreform? Zimmer: Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen haben viele Leute inzwischen offenbar vergessen, daß die alte Rechtschreibung, die heute gern die bewährte genannt wird, seinerzeit in vielen Bereichen als regelrecht schikanös empfunden wurde. Sie war vor der Reform alles andere als beliebt. Immer wieder wurde verlangt, diese Rechtschreibung vernünftiger zu gestalten, um sie leichter erlernbar zu machen. Der zweite Grund war folgender: In Deutschland wachte die Redaktion des „Duden“ – also ein privater Verlag – über die deutsche Schriftsprache. Sie legte die gültigen Regeln aus, entschied über die Schreibung neuer Wörter, über Zweifelsfälle. Sie machte das ordentlich, dennoch sammelten sich mit der Zeit Widersinnigkeiten an. Mitte der fünfziger Jahre existierten im geteilten Deutschland dann gleich zwei „Duden“-Redaktionen: für die Bundesrepublik in Mannheim, für die DDR in Leipzig. Tatsächlich gab es in der DDR Überlegungen zu einer großen Rechtschreibreform. Es tauchte die Gefahr einer Spaltung der deutschen Schriftsprache auf. Auch in der Bundesrepublik plädierten einige Sprachwissenschaftler für eine Reform, und mindestens ein Lexikograph begann auf eigene Faust mit ihrer Umsetzung. Das alarmierte die Kultusminister, und sie faßten jenen Beschluß, der das „Duden“-Monopol rechtlich festschrieb – aber nur provisorisch, bis zu einer Rechtschreibreform.. Die wurde dann aber verschleppt, bis in die neunziger Jahre.
Wittstock: Wer darf eine Rechtschreibreform durchführen?
Zimmer: Die Regeln, nach denen wir uns schriftlich ausdrücken, ergeben sich nicht von selbst. Es muß eine Instanz da sein, die diese Regeln festlegt. Im Grunde sind sie willkürlich. Es gäbe ganz verschiedene Möglichkeiten, die Lautfolgen einer Sprache mit Schriftzeichen wiederzugeben. Dieser „Willkürakt“ hat sich in jeder Sprache anders vollzogen. In Deutschland haben im 18. und 19. einige große Lexikographen und Grammatiker Vorschläge entwickelt, wie Deutsch auf vernünftige Weise geschrieben werden kann. Ihre Ideen wurden dann ab 1850 von den Schulbehörden einzelner deutscher Länder aufgegriffen und für den Schreibunterricht verbindlich gemacht. Nach der Reichsgründung 1871 wollte man diese verschiedenen Rechtschreibungen angleichen. Mit dem großen Regelwerk von 1901 entstand die Orthographie, die bis zur Reform durch die Kultusministerkonferenz gültig war.
Wittstock: Die Entscheidung über die Rechtschreibung war also bereits im 19. Jahrhundert ein staatlicher Akt?
Zimmer: Ja, die Rechtschreibung war nie das Werk des Volkes, sondern immer das einiger Sprachwissenschaftler und Schulbürokraten. Sie entwickelten orthographische Regeln, die streng genommen nur in den Schulen galten, die aber die Allgemeinheit dann nicht ungern übernahm. Abgestimmt wurde da nie. Außerhalb der Schule durfte und darf ja auch jeder schreiben, wie er will. Wer sich nicht an die Regeln der Schulorthographie hält, bekommt dafür keinen Strafbefehl.
Wittstock: Wird das Lesen heute durch die Koexistenz von alter und neuer Rechtschreibung behindert?
Zimmer: Überhaupt nicht. Die Differenzen zwischen alter und neuer Rechtschreibung sind minimal. Bei gewöhnlichen Texten sind kaum anderthalb Prozent seiner Wörter von einer geringfügigen Änderung betroffen. Ich halte diesen unseligen Zank um die Rechtschreibreform für maßlos überzogen, und auch für verlogen. Es geht im Grunde gar nicht um die Rechtschreibung selbst, für die sich sonst kaum jemand je interessiert hat. Wittstock: Welche Kontroversen verbergen sich dahinter?
Zimmer: An der Rechtschreibreform lassen viele ihren allgemeinen politischen Unmut aus. Die Gesundheitspolitik etwa mißfällt vielen, aber sie müßten leider einräumen, daß sie nichts davon verstehen. Von Rechtschreibung glaubt jeder etwas zu verstehen, sobald er einigermaßen richtig schreiben kann. Da hält er die „Katastrofe“ für eine Katastrophe, auch wenn sie ihm gar nicht zugemutet wird.
Wittstock: Wird die Rechtschreibung von Texten, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, inzwischen nicht in viel höherem Maße durch die Korrekturprogramme der Computer bestimmt als von den meist nur sehr vagen Erinnerungen an den Deutschunterricht?
Zimmer: Ich will nicht so klingen, als wäre ich ein großer Fan der neuen Rechtschreibung. Ich sitze zwischen den Stühlen ihrer Freunde und Feinde, und da sitze ich ganz gut. Was man den Reformern auf jeden Fall vorwerfen kann, ist, daß sie nicht an die Textverarbeitung am Computer gedacht haben, zum Beispiel bei den absurden neuen Trennregeln. Es ist nicht einzusehen, warum so etwas Stumpfsinniges wie die regelgerechte Worttrennung am Zeilenende nicht vom Computer erledigt werden soll. Er konnte es schon ganz gut. Seit der Reform kann er es nicht mehr. Wittstock: Gibt es viele aktuelle Veränderungen im Deutschen? Zimmer: Die deutsche Sprache macht zurzeit einen Veränderungsschub durch, wie sie ihn in ihrer Geschichte wohl noch nie erlebt hat. Die Beschleunigung ist so enorm und ungesteuert, daß es einen grausen könnte.
Wittstock: Beispiele?
Zimmer: Überall auf den Straßen begegnet man heute dem sächsischen Genitiv, dem mit Apostroph angehängten s, „Bea’s Bistro“. Oder: die Renaissance des „c“. Oder: Das Deutsche hat eine eigenwillige Tendenz zur Bildung von Komposita, siehe die viel belächelten „Donaudampfschiffahrtskapitänswitwe“. Andere Sprachen halten es anders, und die Tendenz geht zur Zeit auch im Deutschen immer stärker verloren. Vorhin kam ich an einem Schaufenster vorbei, in dem ein „Angebot an Zink Töpfe“ zu bestaunen war. Das Deutsche verliert hier also eines seiner Charakteristika, die Unterschiede zwischen den Sprachen flachen sich ab. Ich habe private Alltagstexte im Internet untersucht. Hier werden schon 40 Prozent solcher Komposita in ihre Bestandteile zerlegt und dann willkürlich groß oder klein durcheinander geschrieben.
Wittstock: Verlangt nicht auch die neue Rechtschreibung die Aufgabe von Zusammenschreibungen? Zimmer: „Zink Töpfe“ verlangt sie jedenfalls nicht. Aber daß sie an einigen Stellen Getrenntschreibungen erzwingt, ist wahrscheinlich ihr schwerster Fehler. Sie gibt Wortzusammenziehungen auch dort auf, wo die zusammengeschriebenen Wörter einen anderen Sinn haben als ihre isolierten Teile. Wenn mir etwas „wohlvertraut“ ist, hat dies eine ganz und gar andere Bedeutung, als wenn ich behaupte, etwas sei mir „wohl vertraut“. Wittstock: Ist das durch die Wiedereinführung der alten Rechtschreibung rückgängig zu machen? Zimmer: Ein simples Zurück zur alten Rechtschreibung mit allen ihren Tücken und auf ihrer prekären Rechtsgrundlage wird es nicht geben. Wittstock: Wie müßte eine Rechtschreibreform aussehen, die das Erlernen der deutschen Orthographie erleichterte? Zimmer: Das war ja das Problem. Eine wirklich vereinfachte Orthographie wäre ein so enormer Traditionsbruch – und damit ein so großes Ärgernis –, daß sie politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Heute erst recht nicht. Eine konsequente Vereinfachung der Orthographie ist gar nicht wünschenswert. Insofern kann keine Reform mehr als Flickwerk sein. Das bedeutet aber nicht, daß man sämtliche Widersinnigkeiten hinzunehmen hätte, ob die der alten oder die der neuen Rechtschreibung. Darum besteht nach wie vor Nachbesserungsbedarf.

Dieser Beitrag wurde unter Dieter E. Zimmer veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.