Dirk von Petersdorff fühlt Benn, Becher, Brecht und Stefan George auf den Zahn
Erstaunlich viele moderne Schriftsteller waren entschiedene Gegner der Moderne. Das ist seltsam, denn mit dem Heraufdämmern der Moderne in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weiteten sich die Spielräume des Einzelnen in Europa und Nordamerika ungeheuer aus. Galt es zuvor als gottgegeben, daß jeder unabänderlich König und Kirche, Familie und Tradition unterworfen war, begann nun eine Zeit individueller Freiheiten, ohne die man sich heute das Leben nicht vorstellen mag und ohne die das hochindividuelle Ausdrucksrepertoire der modernen Literatur gar nicht denkbar wäre. Wendet sich die Abneigung mancher moderner Schriftsteller gegen die Moderne also letztlich gegen die Grundlagen ihrer Arbeit? Waren sie Feinde der eignen Freiheit? Fragen wie diesen ist der Lyriker und Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff bereits in seinem klugen und angriffslustigen Essayband „Verlorene Kämpfe“ (2001) nachgegangen. Nun schickt er ihm die sehr präzise argumentierende Studie „Fliehkräfte der Moderne“ nach, die sich neben dem Werk Nietzsches vor allem der Lyrik Stefan Georges, Gottfried Benns, Johannes R. Bechers und Bertolt Brechts widmet. So unterschiedlich die vier Dichter im einzelnen auch sind, ist ihnen doch eines gemeinsam: Sie nahmen in ihrer Arbeit die Freiheiten der literarischen Moderne in Anspruch, wandten sich aber zugleich dezidiert gegen die Freiheiten der politischen Moderne. Und diese Haltung hatte keineswegs nur literarische Folgen. Benn, Becher und Brecht näherten sich vorübergehend oder langfristig totalitären Ideologien an, zu deren Ziele es gehörte, die Freiheiten des Einzelnen wieder zurückzunehmen. Petersdorffs Beschreibung der Moderne ist deutlich von Luhmanns Systemtheorie und dem amerikanischen Pragmatismus beeinflußt. Die im 18. Jahrhundert voranschreitende Erschütterung der metaphysischen Gewißheiten durch die Religionskritik, vieler philosophischer Verbindlichkeiten durch Kants Erkenntnistheorie und der politischen Traditionen durch die Französische Revolution betrachtet er in erster Linie nicht als eine Geschichte des Verlust von unwiderlegbaren Wahrheiten, sondern im Sinne des Liberalismus vor allem als einen Zuwachs von Unabhängigkeit für das Individuum. In Nietzsche sieht Petersdorff einen der ersten Theoretiker, der die Bedeutung dieser historischen Verwerfungen für den Einzelnen intellektuell ausmißt. Dabei grenzt er dessen Werke der mittleren Phase, in denen – wie in „Menschliches, Allzumenschliches“ – ein ironisches Denken jenseits aller letztgültigen Sicherheiten erprobt wird, konsequent ab gegen den späteren Nietzsche, der sich mit „Also sprach Zarathustra“ selbst zum Propheten einer kommenden Geistesaristokratie erklärt, die für sich in Anspruch nimmt, neue verbindliche Lebensgesetze formulieren zu können. Diesen gegenläufigen Prozeß, einerseits um das Ende aller unhinterfragbaren Gewißheiten zu wissen, andererseits derartige Gewißheiten verzweifelt wieder aufrichten zu wollen, weist Petersdorff dann in detaillierten Analysen auch im Werk der vier Lyriker nach. Natürlich kann man es sich einfach machen und schlicht feststellen, daß George mit seinem Kreis, Benn mit seiner vorübergehenden Annäherung an die Nazis, und Becher sowohl wie Brecht mit der Übernahme des marxistischen Weltbildes aus politischen Überzeugungen so etwas wie Ersatzreligionen entwickelten. Doch es ist verblüffend zu sehen, wie genau sich dieser Vorgang in den Gedichten der Autoren nachweisen läßt und wie tief er jeweils in die Konstitution ihres lyrischen Ichs hineinwirkte. Petersdorffs Buch umkreist damit zugleich eine merkwürdige Leerstelle der literarischen Moderne: Obwohl die westlichen Industrienationen politisch wie wirtschaftlich eine hohe Leistungskraft und Attraktivität auszeichnet, gibt es bis heute keine ästhetische Theorie, die – so schrieb Petersdorff schon in seinem Essayband – „von der offenen Gesellschaft, von ihrem Wahrheitsbegriff, ihrem Zeitverständnis, ihrem Begriff von Individualität“ ausgeht. Im Gegenteil, große Bereiche der modernen Literatur sind in fundamentaler Opposition zur offenen Gesellschaft entstanden und nur vor dem Hintergrund dieser Gegnerschaft zu verstehen. Ja, nicht wenige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – so zum Beispiel Becher und Brecht – steigern sich im Kampf gegen Demokratie und Liberalismus in ein zunehmend militaristisches, gewaltverliebtes Vokabular hinein. Für eine an friedlichen Konfliktlösungen interessierte Gesellschaft kann das schwerlich das passende künstlerische Vorbild sein. Ist es also an der Zeit, fragt Petersdorff deshalb zum Abschluß seiner eindrucksvollen Untersuchung, sich mit Blick auf unseren Kanon nach einer anderen modernen Literatur umzuschauen?
Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 14. Januar 2006
Dirk von Petersdorff: „Fliehkräfte der Moderne“ Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 305 S., 54,- €