„Slam“

Nick Hornby erzählt von einer Teenager-Schwangerschaft

Wenn es einen Skater vom Skateboard haut und er dabei so übel stürzt, dass er „Beton frisst“, dann spricht er von einem „Slam“. Sam ist Skater und 15 Jahre alt, als er den Slam seines Lebens baut. Allerdings nicht auf der Halfpipe beim Skaten, sondern im Bett mit seiner kaum älteren Freundin Alicia. Die beiden sind nur ein einziges Mal unvorsichtig im Umgang mit dem Kondom, nur einen Moment lang leichtsinnig, und nun bekommen sie ein Kind. Slam. Der englische Erzähler Nick Hornby ist ein fabelhaft genauer Beobachter der Gegenwart. Trotz all der Neuen Archivisten des deutschen Pop-Romans sehe ich hierzulande neben Max Goldt keinen Schriftsteller, der einen auch nur annähernd so guten Blick für die Moden und Marotten, die Belustigungen und Belästigungen unseres aktuellen westlichen Alltags hätte. Doch anders als Goldt zimmert Hornby aus diesem Zeitgeistmaterial eben keine Kolumnen, sondern erfindungsreiche und ein wenig schräg dahinschlingernd Geschichten über ein Großstadtmilieu, das mit materiellen Gütern meist nicht überreich gesegnet ist. Doch Hornby ist nicht nur ein Erzähler, er ist zugleich auch so etwas wie ein postmoderner Moralist. In seinen besten Romanen, in „About a Boy“ und „A Long Way Down“, vor allem aber in „How to be Good“ bringt er die Biographien seiner Figuren angesichts eines Lebens ohne religiöse Gewissheiten und ohne unumstrittene weltanschauliche Orientierung gründlich ins Trudeln. So unterhaltsam und witzig seine Geschichten üblicherweise auch sind, so ungeniert und direkt geht es in ihnen immer wieder um Depression, Selbstmord und Sinnsuche. Doch nur in „How to be Good“, seinem in meinen Augen bislang besten Buch, hatte Hornby den Mut, seine Helden an ihren Problemen scheitern zu lassen. In den übrigen geht mal mehr, mal weniger deutlich der Therapeut und Lebenshelfer mit ihm durch. Er macht dann aus seinen Figuren exemplarische Fälle, anhand derer er seinen Lesern vorführt, wie sie sich auf strikt diesseitigen Wegen und ohne allen esoterischen Schabernack in einer kühl aufgeklärten Welt ein wenig soziale Geborgenheit und Lebenssinn für den Eigenbedarf sichern können. Was vermutlich zum enormen Erfolg seiner Romane beigetragen hat. An der Geschichte von Sam und Alicia und ihrer allzu frühen Elternschaft könnte Hornby möglicherweise zweierlei gereizt haben. Zum einen hat die Quote der Teenager-Schwangerschaften in Großbritannien ein beachtliches Niveau. Zwar ist sie noch nicht so hoch wie die der Vereinigten Staaten, die sich auf diesem Feld ein hartes Kopf-an-Kopf-Rennen mit Indonesien liefern. Aber sie ist doch bald dreimal höher als in Deutschland, fast fünfmal höher als in Schweden oder der Schweiz. Zum anderen kann man – hier macht sich der Moralist Hornby bemerkbar – Kinder die Kinder bekommen mit einigem Recht als die Opfer einer weitgehend liberalisierten Gesellschaft betrachten, die ihrem Nachwuchs als letzte verbindliche Richtschnur in allen sexuellen Lebenslagen nur noch ein Kondom in die Hand zu drücken weiß. Hornby erzählt den Roman ganz aus der Perspektive Sams. Der ist sich zwar jener kurzen koitalen Nachlässigkeit durchaus bewusst, die zur Zeugung führt, hat aber von dieser Sekunde an auf all das, was folgt und sein Leben radikal verändert, fast keinen Einfluss mehr. Das lässt ihn im Verlauf der Geschichte umso mehr als Opfer erscheinen. Doch so wie Hornby ihn beschreibt, muss man als Leser nie wirklich Angst um Sam haben. Er wirkt bei aller altersgemäßen Verspieltheit, Realitätsflucht und Naivität zu gefestigt und geborgen, als dass man ihm je bodenlose Verantwortungslosigkeit oder ebensolche Verzweiflung zutraute. Kommt hinzu, dass auch die Eltern von Sam und Alicia zwar nicht gerade vorbildlich, aber doch einigermaßen vernünftig darauf reagieren, deutlich früher als erwartet in den Großelternstand einzutreten. Sams Mutter, die ihren Sohn seinerzeit ebenfalls mit sechzehn zur Welt brachte, bringt noch dazu einschlägige Erfahrung beim Management derartiger Familienkrisen mit. Mit anderen Worten: Rundum erfreut ist keiner der Beteiligten, aber alle bemühen sich, möglichst besonnen zu bleiben, möglichst das Beste aus der Situation zu machen und sorgen so dafür, dass die Lebensläufe des jugendlichen Unglücksrabenpaars nicht komplett entgleisen. Das ist natürlich schön für Sam und Alicia, aber schlecht für den Roman. Unter erzählerischen Gesichtspunkten ist eine eintretende Katastrophe immer dankbarer als eine vermiedene Katastrophe. Bei aller Sympathie für Hornbys lebenshelferische Leidenschaften, doch ein derart lauwarmes, penetrant gut gemeintes Buch hat er noch nie abgeliefert. Es wirkt gelegentlich wie ein mit literarischen Mitteln illustrierter Ratgeber über dem Umgang mit verfrühten Schwangerschaften, fast ist man versucht, im Anhang nach Adressen einschlägiger Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen zu suchen. Zum Ratgeber-Genre passt dann auch, dass „Slam“, ganz untypisch für Hornbys Romane, über weite Strecken ohne jeden Witz, ohne jede Komik auskommen muss. Sicher, als Vater von drei halbwüchsigen Söhnen, werde ich froh sein, wenn sie dieses Buch lesen und werde hoffen, dass sie begreifen, wie gründlich schon ein winziges sexuelles Malheur ihr Leben umkrempeln kann. Zugleich werde ich aber hoffen, dass sie fühlen, wie viel besser Romane sein können. Auch die von Nick Hornby. Gerade die von Nick Hornby. Mit „Slam“ ist er kurz gesprungen und weit unter seinem Niveau gelandet.

Nick Hornby „Slam“ Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008 301 Seiten, 17,95 €

Veröffentlicht unter Nick Hornby | Hinterlasse einen Kommentar

Über Pilger und Flaneure, Touristen und Urlauber

Nicht jeder Bestseller lohnt die Mühe, ihn zu lesen. Aber fast jeder Bestseller reizt zu endlosen Mutmaßungen über die Gründe seines Erfolgs. Warum war gerade dieses Buch das richtige zum richtigen Zeitpunkt für so viele Leser? Was verrät es uns über Herz und Hirn seiner Käufer? Das Lieblingsobjekt solcher Spekulationen ist zurzeit Hape Kerkelings Pilgerreisebericht „Ich bin dann mal weg“ – dem mit einer Auflage von 2,7 Millionen meistverkauften Sachbuch 2007. Und es scheint die Antwort auf die Frage, was hinter seinem Erfolg steckt, wie auf einem Präsentierteller mitzuliefern, nämlich ein heute wieder wachsendes Interesse an spirituellen, religiösen Themen. Ganz von der Hand zu weisen ist diese These wohl nicht – auch wenn die Kirchen vom flott herbeidiagnostizierten Trend zum Glauben in keiner Weise profitieren: Noch immer übersteigt die Zahl der Kirchenaustritte die der -eintritte um ein Mehrfaches. Auch Kerkeling sucht, nebenbei gesagt, sein privates religiöses Glück nicht im Schoße einer institutionalisierten Glaubensgemeinschaft und sein Buch ist kein frommes Traktat, sondern eher eine Art Selbsterfahrungsreportage. Genauer betrachtet liegt einer Pilgerreise nämlich ein recht weltliches Verständnis von Spiritualität zugrunde. Der Pilger setzt sich ein diesseitiges Ziel, zu dem er strebt. Er meint, sein Heil sei nicht an dem Ort zu finden, an dem er lebt, sondern in der Ferne – und macht sich auf seinen persönlichen Heilsweg. Als Pilger lässt er zunächst einmal all die Zwänge und Verpflichtungen hinter sich, die das tägliche Leben gewöhnlich ausmachen. Zum anderen nähert er sich Schritt für Schritt langsam, aber stetig dem selbst gewählten Heilsort und kann sich deshalb un- oder halbbewusst in dem schönen Gefühl wiegen, für ihn werde allmählich alles besser. „Das Ziel, der gesetzte Zweck der Pilgerreise“, schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman, „gibt dem Formlosen Form, macht aus dem Fragmentarischen ein Ganzes, verleiht dem Episodischen Kontinuität.“ Hier zeigt sich der Unterschied des Pilgers zum Spaziergänger oder Flaneur. Der Spaziergänger hat kein Ziel, er genießt die Vielfalt der Dinge, die ihm begegnen, ohne je damit zu rechnen, dass so etwas wie Heil im Diesseits zu finden ist. Auch der Tourist will üblicherweise nicht nur ein Ziel, sondern gleich mehrere Sehenswürdigkeiten besuchen. Und der Urlauber schließlich hat zwar nur ein Ziel, seinen sehr weltlichen Heilsort am Strand unter Palmen, doch dort sucht er nicht mögliche Erleuchtung, sondern handfeste Entspannung. Mit anderen Worten: Die Pilgerreise verknüpft die moderne Reiselust mit einem Angebot, auf sehr einfache Weise spirituelle Ordnung im eigenen Leben zu schaffen. Gehen sie einfach mal los, empfiehlt der Pilgerratgeber, irgendwas werden sie auf ihrem Weg schon finden, und das können sie dann als Trophäe ihrer Glaubens- oder Selbstfindung nach Hause tragen. Dass Bücher, die komplizierte Dinge auf Teufel komm raus simplifizieren, zu Millionenerfolge werden können, ist aber letztlich keine Überraschung.

Veröffentlicht unter Hape Kerkeling | Hinterlasse einen Kommentar

Kinder ändern ihre Eltern

Dirk von Petersdorff erzählt vom „Lebensanfang“ in einer Welt ohne letzte Gewissheiten

Wir sind zur Ironie verurteilt. Ob wir sie nun feiern oder fürchten, verhöhnen oder verherrlichen, wir werden sie nicht los. Denn wir besitzen keine letzten Gewissheiten mehr, die für alle verpflichtend wären, weder im religiöser noch im weltanschaulicher Hinsicht. Wer die Augen nicht verschließt vor der Gegenwart, weiß, dass grundverschiedene Glaubenswahrheiten und politische Überzeugungen gute Gründe für sich ins Feld führen können, und dass sie miteinander im Wettstreit liegen, ohne je einen alleinseligmachenden Sieger zu ermitteln. Also muss, wer einen Standpunkt bezieht, sich eingestehen, dass es auch andere Standpunkte gibt, die mit gleichem Recht bezogen werden können, und dass er seinen eigenen deshalb mit Distanz, mit Ironie zu betrachten hat. Das verleiht dem Denken eine eigentümliche Freiheit und Unverbindlichkeit. Alles wirkt wie gut wattiert und deshalb recht konturenarm. Doch was wird aus all dem, was wird aus Ironie, Freiheit und Unverbindlichkeit, wenn eines der natürlichsten Ereignisse des Lebens eintritt – und man Kinder bekommt? Eltern und Kinder haben definitiv kein unverbindliches Verhältnis zueinander, für Ironie ist da allenfalls an der Oberfläche Platz. Ansonsten entfaltet sich eine lebensformende Bestimmtheit. Und von der Freiheit bleibt nur die Freiheit, die neue Bindung samt zugehörigen Pflichten anzunehmen oder auszuschlagen. Aber sicher ist: Wie immer man sich entscheidet, beides wird nicht spurlos an einem vorübergehen, gut wattiert und konturenarm ist da nichts mehr. Das Buch „Lebensanfang“ des Lyrikers und Essayisten Dirk von Petersdorff ist ein scheinbar einfaches, genauer betrachtet jedoch literarisch sehr ambitioniertes Unternehmen. Er erzählt von den ersten zwei, drei Jahren mit seinen Kindern Max und Luise, Zwillingen, die sein Leben so gründlich auf den Kopf stellten, wie Kinder das nun einmal tun. Das Thema hat sich in den letzten Jahrzehnten, spätestens seit Peter Handkes ernster „Kindergeschichte“ und Axel Hackes komischem „Erziehungsberater“, zu einem neuen Genre ausgewachsen: Immer mehr Väter oder Mütter berichten in meist heiteren Büchern davon, wie die Welt für sie durch Kinder plötzlich eine andere wurde – doch auch in diesen Fällen gilt der Verdacht, dass Komik und Ernst in enger Nachbarn wohnen und sie oft nur ein winziger Schritt trennt. Petersdorff macht ernst. Der Sohn Max hat die üblichen Blähungen und Schlafstörungen der ersten Monate noch nicht überwunden, da sitzt der Vater schon vom Schlafentzug an den Rand seiner Kraft gebracht bei einer Ärztin und bekommt Beruhigendes verschrieben. Doch das hilft wenig: Als er morgens übermüdet zum Rasieren ins Bad torkelt, „sah ich neben mir im Spiegel ganz deutlich einen Totenschädel. Er war rechts von meinem Gesicht. Er war etwas kleiner als mein Gesicht. Er schwebte. Ich dachte an den Biologieunterricht, als der Lehrer aus dem Nebenzimmer das Skelett herein schob. Legte den Rasierapparat beiseite, ging zum Frühstückstisch und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.“ Lustig? Sicher. Es ist immer komisch, aber auch sehr ernst, wenn jemand an seine Grenzen gebracht wird. Doch es geht um mehr als die körperlichen Erschöpfungszustände junger Eltern. Der Vater reagiert nicht zuletzt deshalb so heftig, weil er spürt, dass er zugleich an die intellektuellen Grenzen seines gewohnt ironischen Weltverhältnisses stößt. Wobei der Begriff intellektuell die Sache nicht wirklich trifft, auch spirituell oder metaphysisch wären nicht die richtigen Worte. Vielmehr erlebt sich der Vater, der durch seine Kinder lang verschüttete Erinnerungen an die eigene Kindheit wiederentdeckt, immer unabweisbarer als Teil einer tief hinabreichenden Generationenfolge, als Teil von etwas Überindividuellem, Unbegrenztem, das eine ganz unironische Wahrheit besitzt. „Immer wurde so gehalten“, denkt er, als sich seine Kinder auf seinem Schoß zusammenrollen, „es gibt ein Leben, das auf dem Schoß einschläft, leise pustet, gelegentlich schnauft. Es gibt ein Leben, das Wache hält, den Schlaf beäugt, selber ziemlich müde ist. „Lebensanfang“ ist bei all dem kein sentimentales oder frommes Buch. Der Lyriker Petersdorff ist vor allem ein Sprachjongleur, Jens Jessen nannte ihn einmal den „Schelm unter den Postmodernen“. Wie sich das für einen Autor gehört, der die literarische Moderne für erschöpft hält, entzieht er sich deren Forderung nach sprachlicher Reinheit und Geschlossenheit. Er tänzelt durch die Sprachebenen und Schreibformen, kombiniert biblische oder vorsokratische Tonfälle mit dem Slang der Gegenwart, poetische Passagen mit nüchternen Berichten, intime Empfindungen mit essayistischen Überlegungen. Ob es heute schwieriger ist als früher, mit Kindern zu leben? Zumindest hat jeder, der bereit ist, sich über sie und das Leben mit ihnen Gedanken zu machen, heute wohl mehr Anlass und auch mehr Zeit, dieser Bereitschaft nachzugeben. „Wenn ich früher“, schreibt Petersdorff, „den Pluralismus der Lebensstile gefeiert hatte, dachte ich jetzt über eine Werteerziehung von Max und Luise nach.“ Womit er weder das eine noch das andere für falsch erklärt, sondern beides parallel zu akzeptieren lernt. Mit Kindern wird, lautet eine alte Weisheit, alles intensiver, sowohl Glück als auch Unglück. Warum sollte also in einer absurden Welt ohne letzte Gewissheiten mit ihnen nicht auch das Gefühl für das Absurde und den Verlust letzter Gewissheiten intensiver werden?

Die Rezension erschien in der „Welt“ com 8. Dezember 2007

Dirk von Petersdorff: „Lebensanfang“. Eine wahre Geschichte C.H. Beck Verlag, München 2007 170 S., 17,90 €

Veröffentlicht unter Dirk von Petersdorff | Hinterlasse einen Kommentar

Der Mann, der uns Chandler und Hammett brachte

Zwei Ausstellungen ehren den Wegbereiter des Kriminalromans, den Politiker, Journalisten und Verleger Karl Anders  

Lebensläufe wie diese gibt es heute kaum noch. Karl Anders gehörte zu den Menschen des vergangenen Jahrhunderts, die gleich drei oder vier verschiedene Karrieren machten – und zumindest eine davon führte ihn auf den Gipfel dessen, was in der entsprechenden Profession erreichbar ist. Die Universitätsbibliothek Frankfurt und das Literaturhaus Frankfurt zeigen jetzt Ausstellungen zu Leben und Werk des Verlegers Anders. Er ist in diesem Beruf nicht so erfolgreich gewesen und bekannt geworden wie seine Kollegen Siegfried Unseld, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt oder Reinhard Mohn. Aber er hat auch in diesem Beruf einen bemerkenswerten Beitrag zur Bewusstseinsbildung der Bundesrepublik geleistet. 1907 in Berlin als Kurt Wilhelm Naumann geboren, begann er als Polsterer und Gartenbautechniker. In der politisch radikalisierten Atmosphäre der Zwanziger stand er zunächst der SPD nahe. Doch nachdem er auf einer vom sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Berlins verbotenen Demonstration zum 1. Mai 1929 „furchtbar verprügelt wurde“, trat er am folgenden Tag in die KPD ein, die ihm rasch wichtige Parteiämter übertrug und ebenso rasch wieder aberkannte. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 blieb er noch gut ein Jahr in Deutschland und betrieb mit hohem Risiko illegale Propaganda gegen die Nazis. Dann emigrierte er nach Prag und die Slowakei, wo er anlässlich des Hitler-Stalin-Paktes aus der KP austrat. Über Polen konnte er sich vor Kriegsausbruch nach Großbritannien retten. Dort begann er dann unter dem Pseudonym Karl Anders, das er wenig später auch im Alltag führen sollte, als Journalist seine zweite Karriere. Anders war bei der BBC nicht nur verantwortlicher Leiter sämtlicher „Sendungen für den deutschen Arbeiter“, sondern er wurde mit Kriegsende zur Berichterstattung nach Deutschland entsandt und bekam schließlich den Auftrag, für seinen Sender die Berichterstattung von den Nürnberger Prozessen zu übernehmen. Schon parallel dazu begann er seine dritte Karriere. Lizenziert durch die Besatzungsmächte gründete er zusammen mit zwei Teilhabern den Nürnberger Nest-Verlag. Entsprechend seiner politischen Leidenschaften gab er dem Verlag in erster Linie ein zeitgeschichtliches Programm, das zur Reeducation und Demokratisierung Deutschlands beitragen sollte. Daneben aber startete er 1949 die Reihe der Krähen-Bücher, die einerseits dem Verlag ein solides finanzielles Fundament, andererseits dem literarisch bedeutenden Kriminalroman hierzulande ein Publikum verschaffen sollte. Anders war 1939 mit der in Deutschland üblichen bildungsbürgerlichen Vorurteilen gegen Krimis nach England gekommen. Doch hatte er sich dort – nicht zuletzt durch die Begegnung mit dem Politikwissenschaftler Douglas Howard Cole, der zusammen mit seiner Frau zahlreiche Detektivromane schrieb – rasch eines besseren belehren lassen. So versammelte er für den Nest-Verlag eine exzellente Kollektion von Autoren, die er erstmals auf den deutschen Buchmarkt präsentierte: Darunter die Klassiker des Hardboild-Genres Raymond Chandler und Dashiell Hammett, aber auch Eric Ambler, Dorothy L. Sayers und Rex Stout. Inzwischen spricht diesen Autoren auch hierzulande niemand mehr ihren Rang ab. Damals aber wurde ihr Erfolg durch die noch wenig veränderten Borniertheiten des deutschen Kulturbetriebes stark begrenzt – was auch diese dritte Karriere von Anders nicht eben zu einem ökonomischer Erfolg werden ließ. Mitte der Fünfzigerjahre trennte er sich vom Verlag, wurde zunächst Geschäftsführer der „Frankfurter Rundschau“ und später Berater der SPD und der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden. 1961 gehörte er der zentralen Wahlkampfleitung der SPD an, die mit dem Spitzenkandidaten Willy Brandt das Ergebnis ihrer Partei um über vier Prozent steigern konnte. Jederzeit hätte man ihm jetzt höhere politische Ämter angetragen, doch er blieb seinem beim Austritt aus der KPD abgelegten Schwur treu, nie wieder Funktionär irgendeiner Partei zu werden. Kriminalromane waren für den Verleger, aber auch für den Leser Karl Anders immer mehr als nur Unterhaltung. Im Detektiv sah er den literarischen Archetyp des Aufklärers und in der Detektivgeschichte – mit einem Wort Chandlers – die immer wieder neu variierte „Suche nach der versteckten Wahrheit“. Als heimgekehrter Emigrant versuchte er seine Heimat auf ihrem langen Weg nach Westen und zu einer tatsächlich gelebten Demokratie nicht zuletzt mit den Mitteln der Kriminalliteratur voranzubringen. Er hat nach dem Krieg einen noch sehr steinigen Boden zu bearbeiten begonnen – die Ernte brachten später Verlage wie Ullstein und Diogenes ein.

Veröffentlicht unter Karl Anders, Verlag Nest | Hinterlasse einen Kommentar

Die Tatsachen sind nicht im Recht

„Sondermann“ verleiht Flügel – alle Abenteuer von Bernd Pfarrs denkwürdigem Cartoon-Held in einem Band

Sondermann kam an einem Montag im Sommer 1987 zur Welt. Geburtsort war, wie Robert Gernhardt später berichtete, ein übel beleumundetes Frankfurter Gartenlokal. Bernd Eilert gab ihm seinen Namen und Simone Borowiak, damals Redakteurin der Satirezeitschrift „Titanic“, bereitete ihm auf dem Seiten derselben sein erstes publizistisches Bettchen. Heute, zwanzig Jahre danach, ist Sondermann zu einem der denkwürdigsten deutschen Cartoon-Helden herangewachsen. Passend zum Jubiläum erschien nun ein mächtiger, prächtiger, himmelblauer Band, der erstmals auf über fünfhundert Seiten sämtliche seiner Abenteuer vereint – ein veritables coffeetable book, vorausgesetzt man verfügt über stabile coffeetable. Es ist eine wahrhaft ungeheure Welt, die Sondermanns Schöpfer Bernd Pfarr für sein Geschöpf entwarf. Hier ist kein Winkel ein rechter, keine Wand im Lot, kein Boden verlässlich und kein Himmel ein Schutz oder Schirm. Hier gibt es Radios in Form erregter nackter Neger, Ameisenbären, die Skiunterricht geben, schwule Fußbälle, ägyptische Kampfmumien, die drei bewaffneten Pinguin-Brüder Strittmatter, den Untermieter Schulz mit hartnäckiger Vorliebe für Sprengstoff oder einen garstigen, verständnislosen Chef – also lauter unvorstellbare Wesen, die zuvor nie eines Menschen Aug erblickte. Und inmitten dieses Chaos ist der wackere Angestellte Sondermann mit schlichtem Anzug und Aktentasche, mit Hut und Krawatte keineswegs immer der ruhende Pol, sondern oft genug ein das Chaos auf immer chaotischere Gipfel hinaufpeitschender Motor. Bernd Pfarr, der 2004 entsetzlich früh mit nur 45 Jahren starb, war ein Poet des Absurden, der sich meisterlich auf die Kunst verstand, sein Publikum aus den Gleisen des Gewohnten zu heben. Er hätte, sagte er einmal in einem Gespräch, gern „der Welt die Realität“ ausgetrieben und tatsächlich hat er, wie Robert Gernhardt im Vorwort dieser Sondermann-Komplettausgabe schreibt, der „Wirklichkeit-Schnirklichkeit“ in Bildern und Cartoons effektvoll die Rote Karte gezeigt. Auch wenn der neue Band gewichtig ist in jeder Hinsicht, kann er doch schnell dafür sorgen, dass man zunehmend leichteren Herzens den Boden unter den Füssen verliert und zu ungeahnten Fantasieflügen ansetzt. Und das wäre sehr im Sinne Pfarrs gewesen. Alles was gewichtslos wird und schwebt, was Gravitation und Erdenschwere hinter sich lässt, hatte es ihm angetan. Mal ist es auf einem seiner Acryl-Gemälde ein Sondermann-Verwandter, ein Herr im grauen Anzug, den es über dem Trottoir unerwartet wie ein Ballon in die Lüfte hebt, mal ein offenkundig schwer alkoholisierter Altgrascontainer oder ein Hund mit Blähungen. Auch Sondermanns Mutter nennt einen schwerelosen Wäschekorb ihr eigen und Sondermanns Hund Willi erlebt Momente der Levitation, die ihm vom Weltgeist geschenkt werden für seine „hochpoetischen, mit geradezu feingeistigem Eifer vorgetragenen Ausführungen, die unbedingte Notwendigkeit der zeitgerechten und liebevollen Zubereitung seines Fresschens betreffend“. So bleibt für Pfarrs Hauptfigur als letztes Gravitationszentrum schließlich nur ein „hübsches Fräulein“, von deren „äußerst dichter körperlicher Masse“ eine solche Anziehungskraft auf Sondermann ausgeht, dass er sich ihr einfach nicht entziehen kann. Weltflucht also? Wäre die Sonderwelt Sondermanns letztlich nichts anderes als eine Fluchtburg, in der all die lastenden, zu Boden ziehenden Realitäten des Lebens für Augenblicke ihre Wirksamkeit verlieren, und wir uns in ein luftigeres, beschwingteres Dasein hinüberträumen können? Natürlich ist sie das, und Pfarr, der zwanzig Jahre gegen den Krebs kämpfte, bevor der dann doch das letzte, hässliche Wort behielt, hatte allen Grund nach Schlupflöchern zu suchen, in denen er sich vor den ebenso trivialen wie tödlichen Tatsachen wenigstens vorübergehend in Sicherheit bringen konnte. Und uns mit ihm. Aber das ist noch nicht alles. In dem Feuerzauber der Einfälle, den Pfarr in seinen Cartoons entfesselt, liegt zugleich auch etwas vor einem Triumph. Wie erbärmlich einfach macht es sich oft die Wirklichkeit, wie viel fassettenreicher, heiterer, bunter, überraschender vermag es sich unsere Fantasie auszumalen, wenn wir denn unsere Fantasie tatsächlich so gründlich vom Haken lassen können wie Pfarr. Mag sein, dass uns die Tatsachen unweigerlich irgendwann einholen, aber deshalb sind sie noch lange nicht im Recht. Kennern und Könnern legten dem Künstler und seiner Kunst ihre Verehrung zu Füßen. „Bernd Pfarr“, schrieb Elke Heidenreich, „ist der Kafka unter den Malern.“ Volker Reiche nannte die Sondermann-Cartoons „das mit Abstand Komischste, was in den letzten Jahren in Deutschland erschienen ist. Ich neige mein Haupt in Andacht.“ Hans Traxler bewunderte vor allem die „großer Schönheit“ seiner Zeichnungen, die für einen Cartoonisten große Risiken enthalte, denn „über Schönheit lacht man nicht“. Robert Gernhardt empfahl zu Ehren Sondermanns alle Glocken zu läuten, auf allen Straßen zu tanzen und in allen Parks Feuerwerkskörper zu entzünden. Hans Zippert attestiert dem Supermann Sondermann „extrem bewusstseinserweiternde Kräfte“. Und Bernd Eilert resümierte: „Bernd Pfarr hat sich mit seinen Zeichnungen gegen die Verbesserung der Welt entschieden und für die Verbesserung der Laune des Betrachters. Aber ist das überhaupt ein Widerspruch?“

Bernd Pfarr: „Sondermann“ Steidl Verlag, Göttingen 2007. Herausgegeben von Gabriele Roth-Pfarr. Mit Texten von Elke Heidenreich, Bernd Eilert, Robert Gernhardt 504 Seiten mit 520 Abbildungen. 48,00 €

Veröffentlicht unter Bernd Pfarr | Hinterlasse einen Kommentar

Der Lyriker Thomas Gsella ist ein Meista Ein Porträt

Wieso eigentlich wird der eine Musiker und der andere Straßenmusiker? Gesetzt den Fall, beide spielen gleichermaßen sehr gut. Was stellt da die Weiche, was führt den einen aufs Konzertpodium und den anderen auf den Bordstein? Wobei der Bordstein ja nicht der schlechtere oder weniger einträgliche Ort sein muss. Vermutlich sind die jeweiligen Gründe so individuell wie die Tonkünstler selbst. Aber ebenso vermutlich macht es einen ziemlich fundamentalen Unterschied in der psychischen Disposition, ob man als Musiker erwartet, dass die Zuhörer termingerecht aus dem Haus gehen, an der Kasse Eintrittskarten ergattern, um sich danach aufnahmebereit vor der Bühne einzufinden. Oder ob man dem potentiellen Publikum am Wege auflauert, um aus nichtsahnenden Passanten ein anteilnehmendes Auditorium zu machen, aus gratis lauschenden Zaungästen freiwillig zahlende Zuhörer, die jederzeit so schnell und applauslos verschwinden können, wie sie kamen. Und die nie wieder einen Gedanken an diesen anonymen Zupfgeigenhansel verlieren, der sie da unbestellt beim Shoppen unterbrach. Thomas Gsella ist Dichter. Aber als er noch nicht von Worten, sondern Tönen lebte, war er Straßenmusiker. „Zusammen mit einem Querflötisten, in den Essener Fußgängerzonen, mit einem Konzert-Querflötisten. Ich spiele Gitarre.“ Das ist dreißig Jahre her, Gsella studierte damals Geschichte und Germanistik und war „mit Abstand der Reichste in meiner WG“. Der Bordstein kann definitiv ein einträglicher Ort sein. Daneben, also neben Studium und Fußgängerzonenmusik, hat er sich noch als Journalist versucht bei „Guckloch“ und „Marabo“, zwei Stadtmagazinen der Region. Und irgendwann entschied er sich gegen die Töne und für die Worte als Lebensgrundlage. „Da wurde ich arm.“ Unter den Schriftstellern sind die Dichter gewöhnlich den Konzertmusikern am ähnlichsten. Lyrikbände werden auf dem Buchmarkt am feierlichsten präsentiert – und so mit den steilsten Hemmschwellen gegen große Leserschaften ausgestattet. Einen Gedichtband liest man nicht als literarischer Passant locker weg, nein, den nimmt man sich vor, den geht man an, den lässt man auf sich wirken. Wenn es unter Literaten so etwas gibt wie habituelle Straßenmusiker, die ihr Publikum im Vorübergehen anlocken, dann sind es die als gemütlich verschrienen Erzähler. Man liest einen ersten Satz von, sagen wir Kafka – „Als Gregor Samsa eines Morgens aus seinen unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ – und man will wissen, wie die Geschichte weiter- und ausgeht. Noch heute fangen sich auf dem Marktplatz in Marrakesch allabendlich professionelle Märchenerzähler ihr Publikum ein. Echte Fußgängerzonenerzähler. Gsella ist ein Lyriker mit der Haltung eines Straßenmusikers. Dass er dezidiert komische Gedichte schreibt, macht es ihm ohne Zweifel leichter, Lese-Flaneure für sich zu gewinnen. Zum Beispiel mit folgenden poetischen Porträt des wahren Glücks in Gomera: Sand unter mir und über mir ein Mond und hundert Sterne. Ich flüsterte „Hier bleiben wir“ und küsste sie, es waren vier, und alle hauchten: „Gerne.“ Wer kann derart paradiesischen Phantasien schon widerstehen. Da hört man hin, da liest man weiter und merkt schnell, dass dieser Wortkünstler mit Tonkünstlervergangenheit ein präzises Ohr für Sprachmusik hat und dass er sich hervorragend auskennt in der deutschen Lyrikgeschichte, die über eine so reiche Zahl von großen Dichtern mit Neigung zum Komischen verfügt. Anklänge an Wilhelm Busch, Joachim Ringelnatz, Erich Kästner, Eugen Roth und natürlich Robert Gernhardt sind zu hören, aber auch sauber hingezirkelte Anspielungen auf lyrische Ernstmacher wie Rilke, Eichendorff, Hölderlin oder Durs Grünbein. Kurz, der Mann ist ein Kenner und Könner, ein Wortartist und Witzstilist, dessen Verse die Leser nicht nur Lachen machen, sondern auch mit poetischen Gaben laben. Oder wie Gernhardt einmal schrieb, dieser Gsella ist längst ein Meista. Obwohl im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, darf man ihn einen Spross am inzwischen weitverzweigten Baum der Neuen Frankfurter Schule nennen – der wohl produktivsten Ansammlung komischer Zeichnern und Autoren Deutschlands. Seit 15 Jahren ist er Redakteur des zugehörigen Satirefachblattes „Titanic“, seit gut zwei Jahren dessen Chefredakteur. Doch hat er, Dienstalter und Position zum Trotz, nichts Auftrumpfendes oder Großsprecherisches an sich. Im Gegensatz zu vielen seiner Neuen Frankfurter Mitschüler pflegt er einen ausgeprägten Hang zur Selbstironie und die Mehrzahl seiner Witze auf eigne Kosten zu machen. Er posiert wie der frühe Woody Allen gern als leicht unbeholfener Tölpel, der seine Missgeschicke nicht verbirgt, sondern sie zum Gegenstand allgemeinen Belustigung macht. O Frau, o Liebste, bist so schön; ach kaum kann ich’s ertragen! Drum lass uns später wiedersehn und mich erst zu Babsy gehn huch, aua, nein, nicht schlagen! Doch Gsella kann auch anders, ganz anders. In seinem jüngsten Band „Der kleine Berufsberater“ übt er sich in einer eigenwilligen Form beleidigender Komik. Seriell knöpft er sich Berufsstände vor, und konfrontiert sie Vers für Vers mit den ausgesucht bösartigsten und banalsten Vorurteilen, die gegen sie im Umlauf sind. Das wirkt, nicht zuletzt weil diese Ansammlung besonders brachialer Ressentiments besonders elegant in vierhebige Jamben samt Kreuzreimen verpackt ist, auf ebenso quälende wie befreiende Weise vergnüglich: Der Zahnarzt ist nicht arm wie du. Er ist ein reicher Räuber Drum wählt er gern die CDU Und wo’s noch geht den Stoiber. Er ähnelt nicht dem zarten Reh, Er ähnelt der Hyäne. Mit Freuden tut er Kindern weh Und zieht gesunde Zähne. Er bohrt hinein mit solcher Wut, Da bleibt uns nur das Beten. Der Zahnarzt ist ein Tunichtgut Mit viel zuviel Moneten. Versteht sich, dass der ein oder andere Angehörige des jeweiligen Metiers den Witz solcher Lyrik nicht uneingeschränkt zu würdigen weiß. Die Redaktion des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“, die bei Gsella die ersten dieser Gedichte in Auftrag gegeben hat, wurde überrascht durch der Heftigkeit der Anrufe, Protestbriefe oder Gegengedichte ihrer Leser. Vor allem Gsellas poetische Ausführungen über den Beruf der Hausfrau oder das Amt des Lehrers führten zu ausgesucht lebhafter Resonanz beim Publikum: Der Lehrer geht um sieben raus Und ruft vier Stunden: „Leiser!“ Um kurz nach eins ist er zu Haus: Nicht ärmer, aber heiser. Bis vier fläzt er im Kanapee Mit Sekt und Stör und Brötchen. Dann nimmt er’s Taxi hin zum See, Dort steht sein Segelbötchen. Er legt sich rein und gibt sich hin Und schaukelt bis zum Morgen. So ist sein Leben frei von Sinn, Vor Arbeit und von Sorgen. Doch letztlich macht diese gnadenlose Vorurteil-Parade auf rund hundert Seiten vor allem eins sichtbar: Dummheit und Dürftigkeit der Vorurteile. Gsella nutzt hier ein satirisches Verfahren, dass seine Wirkung daraus zieht, in hoher Konzentration und gleichsam überlebensgroß auszustellen, was sonst nur in niedrigeren Dosen und insgeheim durch so manchen Schädel rauscht. Erprobt hat er es bereits in einem andern, älteren Band namens „Ins Alphorn gehustet“, in dem er vom „Itaker“ über den „Ami“ bis hin zum „Japsen“ und zum „Franzmann“ eine blitzsaubere Kollektion der politisch unkorrektesten Ansichten zu diversen Nationalcharakteren in Versform brachte. Vielleicht ist es der alte Straßenmusiker, der noch in Thomas Gsella schlummert, der mit solchen Strategien dafür sorgt, dass selbst sehr poesieferne Leser an seiner Lyrik hängen bleiben. Gleiches gilt letztlich auch für sein neues Langgedicht „Kinder, so was tut man nicht“, das im Geiste von Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ ein paar wahrhaft diabolische Lausbuben und -mädchenstreiche besingt, die sich Eltern nicht einmal in Albträumen auszumalen wagen. Doch ab und an, zwischendurch, leistet er sich ein ebenso komisches wie sanftes Gedicht, wie jenes über „Vater und Kind“, und zeigt, dass er aus fast allem, sogar aus leisen Tönen einen Lacher machen kann: „Ahm… ähh… Papa-a?“ „Ja, mein Kind?“ „Wenn von frühlingsgrünen Zweigen Zitternd sich zur Sonne neigen; Zarte junge Frühlingsrosen; Wenn statt grauer Winterlüfte; Frühlingsbunte Frühlingsdüfte streichelnd unsre Sinne kosen – Steckt anstelle Herbst und Winter da vielleicht der Frühling hinter?“ „Kannst Du die Frage noch mal wiederholen?

Thomas Gsella „Der kleine Berufsberater“ Zeichnungen von Greser & Lenz. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 95 Seiten, 9,95 €
Thomas Gsella „Kinder, so was tut man nicht. Ein pechschwarzes Brevier für die Familie“ Zeichnungen von Rudi Hurzelmeier. Rowohlt Verlag, Reinbek 63 Seiten, 8,00 €

Veröffentlicht unter Thomas Gsella | Hinterlasse einen Kommentar

Ein Raubtier namens Leben

Das Marbacher Literaturmuseum der Moderne zeigt erstmals Robert Gernhardts wunderbare „Brunnen-Hefte“
Noch liegt sie entspannt da, die Katze, sie hat es sich gemütlich gemacht. Aber gleich, das sieht und weiß man, gleich wird sie mächtig ungemütlich werden. Der Vogel, der das Pech hat, knapp vor ihrem Maul zu hocken, kann nur noch seinen Schnabel ins Tintenfass tauchen. Auf dem nächsten Bild von Robert Gernhardts kleinem Comic-Strip ist der Vogel schon halb im Raubtierrachen der Katze verschwunden und schreibt, während er gefressen wird, mit seinem Tintenschnabel noch ein zittriges „Es war“ in die Landschaft. Auf dem dritten, letzten Bild des Strips ist der Vogel nicht mehr zu sehen, dafür kaut die Katze mit vollen Backen, und man kann nun die letzte Vogelnachricht vollständig lesen: „Es war die Katze.“ Ob und wo Gernhardt diese kurze Bildergeschichte veröffentlich hat, wissen nur die Götter und die Gernhardtforscher. Geboren aber wurde sie in einem seiner Notizhefte, die jetzt im Marbacher Literaturmuseum der Moderne zum ersten mal überhaupt ausgestellt werden. Eine Weltpremiere. „Hat die Literatur Folgen?“ notierte Gernhardt zu dem kleinen Strip, und man darf der Titel als zaunpfahlmäßigen Wink verstehen, dieses fabelhafte Dreibilder-Drama gefälligst als eine moderne Fabel zu lesen. Denn letztlich kann man die Werke aller Künstler mit einigem Recht auch als die zurückgelassenen Nachrichten über das betrachten, was ihnen das Leben antat, während das Leben sie nach Raubtierart verschlang. Gernhardt schrieb schon sehr früh, schon als Schüler und Student seine ersten komischen Gedichte und arbeitete an seinen ersten ernsten Gemälden. Doch ab 1978 trug er dann jederzeit Schulhefte DIN A5 bei sich, vorzugsweise solche der Firma Brunnen („Ein Lob den Brunnen-Heften: Prima Papier, prima Falz.“), in die er Einfälle, Reflektionen, Beobachtungen notierte und Bildideen, Impressionen oder Cartoon-Entwürfe skizzierte. Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, dass dieser Beginn systematischer künstlerischer Materialsammlung zeitlich in etwa zusammenfiel mit dem Beginn der Metamorphose Gernhardts von dem in erster Linie komischen Autor zu einem literarischen Meister und lyrischen Alleskönner, als den man ihn heute getrost feiern und preisen darf. Die Krise, in die ihn diese Verwandlung stürzte, und die diese Verwandlung zugleich vorantrieb, hat er zum Thema seines einzigen Romans „Ich Ich Ich“ (1983) gemacht. Es war eine doppelte Krise, denn je mehr das Schreiben in den Vordergrund seiner Arbeit trat, desto weiter trat die Malerei, die Gernhardt lange als das Zentrum seines künstlerischen Ehrgeizes betrachtet hatte, zurück. Und in diesem Roman lässt er auch anklingen, welche Bedeutung seine unermüdliche Produktivität für ihn hatte. „Rasch“, so ersehnt sich der Held des Romans, Gernhardts alter ego, „rasch wird sich das Atelier mit den sinnlichsten Werken füllen. ‚Du, Du, Du’, werden sie dem Maler von Tischen, Wänden und Staffelei zurufen, wenn er des Morgens in ihre Mitte tritt. ‚Ich, ich, ich“, wird es ihn durchströmen, das alles bin ich. Ich mache, also bin ich.“ Entschiedener kann man es nicht sagen. Der Künstler ist, was er macht, und er ist nur dann, wenn er etwas macht. Lange Zeit wollte der Literaturbetrieb in Gernhardt nur einen amüsanten Entertainer sehen, und kümmerte sich wenig um Sätze wie diese. Doch sie lassen ahnen, mit welcher Entschlossenheit hier jemand ans Werk ging, an sein Werk, und welche Bedeutung die Brunnen-Hefte für ihn hatten. Vom Beginn der achtziger Jahre an veröffentlichte er nicht nur unermüdlich Buch um Buch, kaum eine Saison blieb ohne Neuerscheinung aus dem Hause Gernhardt. Aber neben der konzentrierten Arbeit an diesen Großvorhaben nutzte er jeden Augenblick der ungenutzt zu verstreichen drohte, im Restaurant etwa, bei Bahnfahrten, in Wartezimmern von Ärzten oder Krankenhäusern, zu Notizen oder Zeichnungen in die Brunnen-Hefte. So war er ein buchstäblich unentwegt Produzierender, eine „homo producens“, wie er kurz vor seinem Tod 2006 schrieb, der 675 solcher Hefte gefüllt hatte und an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach übergab. Die Hefte wurden für ihn, wie Kristine Maidt-Zinke in dem begleitenden Marbacher Magazin schreibt, „Vorratskammer, Echoraum und Spiegelkabinett“. In ihnen finden sich die ersten Entwürfe und Vorstufen zu etlichen Gedichten, darunter auch zu einem von Gernhardts berühmtesten Sonetten, das mit der Zeile beginnt: „Sonette find ich sowas von beschissen“. Andererseits hat er diese Aufzeichnungen offenbar nicht systematisch ausgewertet und ausgeschlachtet. 1988, als bereits rund 180 Hefte vorlagen, zählte er sie zum ersten Mal, vermerkte dann aber, er habe nicht „noch einmal hineingeschaut“. Er betrachtete sie vielmehr als ein eigenständiges Werk mit eigenständigen Qualitäten, „da sie reine Bewegung sind und kein Ankommen“ kennen. Vermutlich hatten die „Brunnen-Hefte“ für Gernhardt eine ähnliche Funktion wie die „Cahiers“ für Paul Valéry. Sie bildeten eine Art Puffer, der Distanz schaffte zur Wirklichkeit. Sie gaben ihm überall und jederzeit die Gelegenheit, sich schreibend und zeichnend übers krude Dasein zu erheben, es gleichsam aus der Vogelperspektive zu betrachten, wohl wissend, dass die Katze namens Leben dicht hinter ihm lauert, den Raubtierrachen schon aufgesperrt, und dass sie allen Fluchtversuchen irgendwann unweigerlich ein Ende machen wird. Robert Gernhardt war, dass zeigen diese Hefte, mehr als der helle, schnelle, unterhaltsame Volksdichter. Er war nicht nur der Sprachartist und Pointenvirtuose, der tiefere Spuren im Gedächtnis der Leser hinterlassen hat als fast alle anderen deutschen Lyriker der Gegenwart. Er zählt zu jenen großen Künstlern, die lebenslang die Kunst selbst zu ihrem Thema gemacht haben, jenes ewige Verwirrspiel um Sein und Schein, um die Dauerhaftigkeit des Gemachten und die Flüchtigkeit des Gelebten. Und er kehrte von diesem gewöhnlich so steinigen Acker mit einer einzigartig reichen, lebendigen, sinnlichen Ernte zu den Lesern zurück.

Veröffentlicht unter Robert Gernhardt | Hinterlasse einen Kommentar

Auweia

Eckhard Henscheid knöpft sich die Welt der Prominenten vor

Zu den bedauerlichen Einsichten über das Dasein gehört, dass Dummheit, Anmaßung und Geschmacklosigkeit wohl nicht auszurotten sein werden. Mehr noch, ein unbefangener Blick in sonst gern gemiedene Fernsehsendungen oder Erzeugnisse der Yellow Press belehrt darüber, dass jene infame Dreifaltigkeit gegenwärtig immer neue Gipfel des Triumphes und der Peinlichkeit erstürmt. Aus dem was einmal Ruhm war, also Anerkennung für höchste Leistungen im Sinne der Allgemeinheit, ist Prominenz geworden, also die Begabung, der Öffentlichkeit so oft und penetrant wie möglich weit unterhalb sinnreicher Leistungen vor Augen zu treten. Es ist nicht ohne Witz zu sehen, wie komplett hohle Menschen beginnen, sich für das Salz der Erde zu halten, nur weil sie sich regelmäßig vor komplett hohlem Publikum spreizen dürfen. Das einschlägige Promi-Personal ist heute naturgemäß und unvermeidlicherweise fast jedermann bekannt. Literarisch aber wird dieses Milieu – jenseits der Satire – hierzulande nur selten genutzt. Angelsächsische Romane oder Filme führen gelegentlich und variationsreich das inzwischen leicht klischeehafte Trauerspiel vor vom prominent gewordenen Sänger, Schauspieler, Moderator, Sportler, dem überm Mithampeln im Showbiz jedes Talent, jede Würde und der letzte Rest von Persönlichkeit abhanden kommt. Ähnliches gibt es in der deutschen Literatur kaum. Eckhard Henscheid ist einer der wenigen großen und originellen Erzähler seiner Generation. Ihm darf man jederzeit einen prächtigen Roman über einen vergleichbaren Stoff zutrauen. Henscheid ist aber auch ein begnadeter Polemiker, der zu so funkelnden, krachkomischen Hasstiraden fähig ist, wie nur wenige andere. Eher in dieser Funktion als in der eines Erzählers knöpft er sich in seinem neuen Buch „auweia“, das er bezeichnenderweise im Untertitel „Infantilroman“ getauft hat, die Welt der Populären, Schrillen und Bescheuerten vor. Allerdings wäre es in Henscheids Augen wohl zu einfach, einen weithin anerkannten Widerling zur Zielscheibe seiner Verachtung zu machen. Stattdessen hat er Heidi, eine Tennisspielerin von Weltrang, zur Heldin seines Buches erkoren, die dazu noch mit einem Weltklasse-Tennisspieler namens Ron verheiratet ist. Leser, die in dem Roman partout Entsprechungen zur Realität finden wollen, obwohl es zwischen Literatur und Leben keine simplen Parallelen gibt, können sich von dem Pärchen, dessen Horizont nie auch nur Netzhöhe erreicht, an die gemeinhin als sympathisch geltenden Steffi Graf und André Agassi erinnert fühlen. Gegen seine beiden Hauptpersonen macht Henscheid die stärkste Waffe des Schriftstellers scharf: die Sprache. Er überhäuft den Text und vor allem die Dialoge der Figuren mit den abgeschmacktesten, geistlosesten, verschlissensten Phrasen, die derzeit greifbar sind. Es ist das Deutsch der Dieter Bohlens unserer Zeit, das frisch und frech wirken will, aber nicht mehr als grobschlächtige Dreistigkeit zustande bringt. Wenn „Kinderfasching (Kids-Karneval)“ gefeiert wird, klingt das zum Beispiel so: „Allealle waren auf den Beinen und sind gekommen, um heute mal ordentlich einen draufzumachen. Ihre letzten Piepen und Kröten haben all die Vatis und Muttis und Omis zusammengekratzt, damit ihre ‚lieben Kleinen’ endlich allesamt antraben und mal gehörig ein Fass aufmachen können – und hallihalloh! Alles was Rang und Namen hat, ist gekommen, dem festlichen Geschehen Glanzlichter aufzusetzen.“ Das dürfte wohl so ziemlich das hässlichste, grässlichste Deutsch sein, dass in letzter Zeit gedruckt wurde. Es liest sich, als würde man mit einem Mund voll Amalgamfüllungen Silberpapier kauen und rückt sämtliche auftretenden Figuren in ein konkurrenzlos abscheuliches Licht: vom hohen Tennispaar über den bereits erwähnten Dieter Bohlen bis hin zu Roberto Blanco, Effe Effenberg, Jessica Stockmann-Stich und einigen weiteren erlesenen Lieblingsfeinden des Autors. Nach den Regeln experimenteller Literatur kann man in all dem ein ausgeklügelt artifizielles Sprachspiel sehen – allerdings eines von brachialer Bissigkeit. Das Buch ist 120 Seiten kurz, dennoch wäre dieses Deutsch auf voller Länge nur schwer zu ertragen. Glücklicherweise aber trägt es Henscheid zwischendurch immer wieder mal und spätestens in der zweiten Hälfte recht regelmäßig aus der Kurve. Er verfallt dann beispielsweise in eine kunstvoll schliddernde, schlingernde Prosa, die, wie in seinem hochkomischen Meisterroman „Geht in Ordnung – sowieso – – genau – – –“, die zumeist schwerstalkoholisierte Debilität seiner Figuren mit großartigem Charme einfängt. Hier gönnt Henscheid den Lesern, nachdem er sie mit rein sprachlichen Mitteln das Grausen lehrte, dann doch wieder ein befreiendes Lachen.

Eckhard Henscheid: „auweia“. Infantilroman Verlag Antje Kunstmann, München 2007 125 Seiten, 14,90 €

Veröffentlicht unter Eckhard Henscheid | Hinterlasse einen Kommentar

Eine deutsche Klage

Liebe oder keine Liebe in Zeiten des Massenmords.

Die Autobiographie der 93-jährigen Lisl Urban soll verboten werden auf Antrag ihres 92-jährigen Ex-Freunds   „Das war ein One-Night-Stand“, sagt Erich Steidtmann, „nur ein One-Night-Stand war das für mich http://buechertagebuch.uwe-wittstock.de/wp-admin/post-new.php“. Steidtmann ist 92 Jahre alt, in ein paar Tagen wird er 93. Auch uralte Menschen sind mal jung gewesen, auch sie waren mal schnell entflammbar und gierig nach etwas Glück. Wer hätte das Recht, den ersten Stein zu werfen. Trotzdem, in Steidtmanns Mund nimmt die Modevokabel von der einen, flüchtigen Nacht einen bizarren Klang an. Er schnaubt sie hervor, er spuckt sie aus, er stößt sie von sich. Dass Worte Waffen sein können, wird niemand bezweifeln, der ihn sprechen hört. So viel Zorn, so viel Verachtung in einem Wort. Über 65 Jahre liegt die Nacht, um die es geht, jetzt zurück, doch heute, an diesem Mittwoch wird sie ein Leipziger Gericht beschäftigen. Es war im Sommer 1942 in Prag, damals Hauptstadt des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren. Brigitte Horney, der Ufa-Star, sorgte einen Show-Abend lang für „Kraft durch Freude“ und bei ihrem Auftritt begegneten sich zwei Siebenundzwanzigjährige, wie man sie sich gegensätzlicher kaum vorstellen kann, Erich Steidtmann und Lisl Urban. Steidtmann, groß, kräftig, frisch von der russischen Front, wo er mit seiner Polizeikompanie und schweren Maschinengewehren („mein Spezialfach“) sowjetische Truppen abgewehrt und dafür das Eisernen Kreuz 1. Klasse erhalten hatte. Lisl Urban, klein, schmal, gerade geschieden, die nach der Schule Kunst hatte studieren wollen, aber darauf verzichtete wegen ihrer frühen Ehe, und die sich nun als Sekretärin über Wasser hielt. Wem gehört die Erinnerung an diese Nacht im Juni 1942? Gehört sie dem Frontsoldaten, dem Draufgänger, der gerade zum Hauptmann befördert worden war? Oder gehört sie der jungen Frau, aus dem sudetendeutschen Gablonz, die sich zur Bibliothekarin hatte ausbilden lassen und nun ihre Zeit in Büros zubrachte, obwohl ihr die Kunst nicht aus dem Kopf ging? Kein Wunder, wenn die Erinnerungen zweier so unterschiedlicher Menschen an den selben Abend nicht die gleichen sind. Dennoch wird, so unsinnig es klingt, das Leipziger Landgericht nun, 65 Jahre später, auch über die Frage zu befinden haben, wer über die Erinnerung an diesen Abend verfügen, wer seine Sicht der Dinge erzählen darf. Denn Lisl Urban, heute 93 Jahre alt, hat ihre Autobiographie veröffentlicht: „Ein ganz gewöhnliches Leben“ (Dingsda Verlag). Und Erich Steidtmann will sie verbieten lassen, weil sie seine Persönlichkeitsrechte verletze. Nicht nur um jene erste Nacht geht es. Steidtmann hat aus dem Buch 15 Stellen und Halbsätze, von denen er sich verleumdet fühlt, durch seine Anwälte auflisten lassen. Die Autobiographie sei ein „primitiver Racheakt“, ein „Pamphlet“ schreibt er. Doch wer sie unbefangen liest, stutzt, denn der Name Steidtmann kommt gar nicht vor. Stattdessen tritt ein Offizier namens Eike auf, der – wie Steidtmann – mit Lisl Urban eine uneheliche Tochter hat und der das Kind – wie Steidtmann – nach der Geburt keines Blickes würdigt. Dennoch lesen sich die Passagen über jenen Eike nicht wie ein Racheakt, sondern eher wie ein liebevolles, in manchen Teilen schwärmerisches Porträt. Aber möglicherweise wird all das Lisl Urban vor Gericht nicht retten. Denn erst vor wenigen Wochen hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil gegen den Roman „Esra“ von Maxim Biller den Persönlichkeitsschutz auf Kosten der Literaturfreiheit weiter gestärkt. Nach Ansicht der Richter reicht es für das Verbot eines Buches aus, wenn nur einige wenige Leser in einer vom Autor geschilderten Figur eine reale Person wiederzuerkennen glauben, und sich die reale Person durch diese Darstellung in ihrer Ehre oder Intimsphäre verletzt fühlt. Steidtmann führt in seiner Klage die Aussagen seiner jetzigen Frau, einer früheren Frau und seiner Tochter an, die ihn mit „Eike“ identifizieren. Und dann zählt er all das auf, was an Eikes Vergangenheit mit seiner Vergangenheit nicht übereinstimmt, und von dem er seinen Ruf gefährdet sieht. Darunter sind Lappalien: Nein, er habe Lisl Urban nie „an den Straßen“ geküsst, denn so etwas sei „für einen Polizeioffizier in Uniform“ undenkbar gewesen. Nein, er habe Lisl Urban später nicht nach Warschau eingeladen, sondern ihren Besuch dort als unangenehm empfunden. Nein, beim letzten Treffen seien sie nicht Hand in Hand gegangen, vielmehr habe er bei der „sehr kühlen Begegnung“ die „unerwünschte Freundschaft“ beendet. Zwei Menschen, zwei Erinnerungen. Nach sechs Jahrzehnten wäre alles andere eine Überraschung. Sind da wirklich Persönlichkeitsrechte in Gefahr? Wer kann, wer darf noch seine Autobiographie drucken lassen, wenn er sich schon wegen solcher Einsprüche vor Gericht wiederfindet? Doch beanstandet werden auch ernstere Punkte. Wer denen nachgeht, steht unvermittelt vor Abgründen deutscher Vergangenheit. Steidtmann habe, schreiben seine Anwälte, sein Eisernes Kreuz nicht im anrüchigen „Partisanenkampf“, sondern an der Front erhalten. Er habe sich nicht freiwillig an die Front gemeldet, sondern sei als Polizeioffizier einer „Sicherungsdivision“ unterstellt worden. Zudem erwecke Lisl Urban „den Eindruck, als hätte der Kläger darauf hin gearbeitet, in die ‚SS’ aufgenommen zu werden“. Das sei unwahr. Tatsächlich war Steidtmann, laut Auskunft der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Hauptsturmführer in der SS. „Ja“, sagt er, als ich ihn danach frage, „ja aber in der Waffen-SS, nicht in der SS. In der Waffen-SS ist doch alle Welt gewesen.“ Wohl wahr, selbst Günter Grass hat als Siebzehnjähriger die „Doppelrune“ getragen. Deutsche Autobiographien – in was für Zeiten, in was für historische Minenfelder führen sie noch immer. SS oder Waffen-SS, Frontsoldat oder Polizeioffizier in einer Sicherungsdivision – solche Unterschiede sind nicht Lisl Urbans Welt. Sie ist eine schmächtige Frau in großgemusterter, bunter Strickjacke. Sie stützt sich auf einen Holzstock, der aussieht, als hätte sie ihn eben vom Baum geschnitten. Nach dem Krieg mit ihrer Tochter aus der Tschechoslowakei in die DDR vertrieben, wurde sie Kunstlehrerin im ehemals reformpädagogischen Internat Wickersdorf, dem in den zwanziger Jahren Peter Suhrkamp als Direktor vorstand und das nun als Elite- und Kaderschule des Sozialismus galt. Doch dort waren sie und ihr Unterricht, wenn man Erzählungen ehemaliger Zöglingen vertraut, Balsam für wunde Schülerseelen und eine Zuflucht vor der politischen Indoktrination. Es bräuchte nicht viel, nur ein paar zusätzliche, ins Allgemeine zielende Striche und man könnte diese beiden, Erich Steidtmann und Lisl Urban, als Stellvertreter für zwei extreme Pole deutscher Geschichte porträtieren. Hier der unbedingte Tatmensch, der Krieger, der Kämpfer, dort der Künstler, der politikferne Schwärmer, der Halt und Lebenssinn in der Natur sucht, so wie Lisl Urban Halt sucht auf ihrem naturbelassenen Stock. Ihr Buch ist keine historisch präzise Datensammlung, sondern eine träumerische Gedächtnisreise, ein Album persönlicher Lebensbilder, durch das die Autorin blättert, ohne sich selbst zu schonen: Weder verschweigt sie ihre Liebesabenteuer, noch ihre Hitler-Begeisterung im Berliner Olympia-Stadion 1936, noch ihre kurze Arbeit als „Tippmamsell“ für die Geheime Staatspolizei im böhmischen Kolín. In Autobiographien mischen sich, wie es im Titel eines berühmten Beispiels dieses Genres heißt, Dichtung und Wahrheit. Wo bleibt da der Schutz für Menschen, die sich, ohne gefragt worden zu sein, in der Autobiographie eines anderen wiederfinden? Decknamen für die unfreiwillig Beschriebenen sind keine Lösung mehr, dafür haben die Verfassungsrichter mit ihrem „Esra“-Urteil gesorgt. Wie aber soll ein Autobiograph künftig Menschen beschreiben, mit denen er nicht die besten Erinnerungen verbindet? Menschen die, wie die allermeisten anderen, nicht nur Gutes taten? Und wie die Persönlichkeitsrechte eines Mannes schützen, der sich mit den eigenen Aussagen in ein Licht bringt, das viel entsetzlicher ist als all das, was in dem von ihm bekämpften Buch steht? Nachdem Steidtmann in Prag Lisl Urban kennenlernte, wurde er nach Warschau versetzt. Sein Bataillon, dem er als „Bataillonführer“ zugeteilt war, trug nicht zuletzt Verantwortung für das von den Deutschen eingerichtete jüdische Getto. Es hatte, schreibt er in seiner Anzeige, die „äußere Absperrung“ des Gettos „zu gewährleisten und später den Aufstand mit 400 deutschen Deserteuren zu bewältigen.“ Ab Juli 1942 wurden über 300.000 Juden aus dem Getto in die Gaskammern von Treblinka transportiert, während Steidtmanns Bataillon die Außensicherung „gewährleistete“. Beim spätern Aufstand starben 12.000 Menschen, 30.000 Juden wurde danach erschossen. Ein Wort des Bedauerns, zum ungleichen Kampf zwischen gut gerüsteten deutschen Truppen und fast unbewaffneten jüdischen Aufständischen beigetragen, ihn „bewältigt“ zu haben, findet sich in der Anzeige nicht. Dafür findet sich der Name Steidtmann auf der Liste der Offiziere des berüchtigten Polizeibataillons 101 (www1.uni-hamburg.de/rz3a035//police101.html). Das hat, wie die Historiker Christopher Browning und Daniel Goldhagen detailliert belegten, zwischen Sommer 1942 und Winter 1943 bei Massenerschießungen und „Judenjagden“ 40.000 Menschen ermordet (siehe Kasten). Steidtmann bestreitet, an solchen Aktionen beteiligt gewesen zu sein. Ist es angesichts einer solchen Laufbahn für Steidtmann tatsächlich ehrverletzend, wenn Lisl Urban behauptet, er habe sich sein Eisernes Kreuz beim Partisanenkampf statt bei einem Fronteinsatz verdient? Oder wenn sie SS und Waffen-SS verwechselt? Oder wenn sie den Vater ihres Kindes fälschlich als freiwilligen Frontsoldaten beschreibt, statt als Hauptmann eines massenmordenden deutschen Polizeibataillons? Muss man in diesen historisch ungenauen, vielleicht unkorrekten Angaben nicht eher den verzweifelten Versuch seiner Ehrenrettung sehen?

Lisl Urban: Ein ganz gewöhnliches Leben“. Dingsda Verlag, Leipzig 2007 12,90 € .

Veröffentlicht unter Lisl Urban | Hinterlasse einen Kommentar

Amerikas Lieblingsalptraum „Falling Man“ – der lang erwartete 9/11-Roman von literarischen Terrorspezialisten Don DeLillo

Jetzt ist er also da. Auf diesen Roman glaubte man seit den Anschlägen auf das World Trade Center geradezu ein Anrecht zu haben. Von Don DeLillo, der seit fast vier Jahrzehnten in seinen Büchern an ein Porträt des zeitgenössischen amerikanischen Bewusststeins in Superbreitwandformat pinselt, der schon ein Vierteljahrhundert vor dem Einsturz der New Yorker Türme in seinem Roman „Spieler“ (1977) dem Terror und dem World Trade Center zentrale Rollen zuteilte, der in „Libra“ (1988) am Beispiel der Ermordung John F. Kennedys die paranoide Welt der Attentäter, Agenten und Amokschützen mit quälender Intensität vergegenwärtigte, der in seinem Roman „Mao II“ (1991) das katastrophale Wechselspiel zwischen mediengeilen Terroristen und gewaltgeilen Massenmedien ausleuchtete, von diesem Don DeLillo, der längst zum literarischen Lieblingsalptraum Amerikas geworden ist, sehnte man regelrecht jenen großen 9/11-Roman herbei, der die Anschläge samt Folgen mit den Mitteln des Erzählens in ein überzeugendes Bild bringt und sie also endlich fassbarer, endlich begreifbarer macht. Und jetzt ist er also da. Weiterlesen

Veröffentlicht unter Don DeLillo | Hinterlasse einen Kommentar