Eine deutsche Klage

Liebe oder keine Liebe in Zeiten des Massenmords.

Die Autobiographie der 93-jährigen Lisl Urban soll verboten werden auf Antrag ihres 92-jährigen Ex-Freunds   „Das war ein One-Night-Stand“, sagt Erich Steidtmann, „nur ein One-Night-Stand war das für mich http://buechertagebuch.uwe-wittstock.de/wp-admin/post-new.php“. Steidtmann ist 92 Jahre alt, in ein paar Tagen wird er 93. Auch uralte Menschen sind mal jung gewesen, auch sie waren mal schnell entflammbar und gierig nach etwas Glück. Wer hätte das Recht, den ersten Stein zu werfen. Trotzdem, in Steidtmanns Mund nimmt die Modevokabel von der einen, flüchtigen Nacht einen bizarren Klang an. Er schnaubt sie hervor, er spuckt sie aus, er stößt sie von sich. Dass Worte Waffen sein können, wird niemand bezweifeln, der ihn sprechen hört. So viel Zorn, so viel Verachtung in einem Wort. Über 65 Jahre liegt die Nacht, um die es geht, jetzt zurück, doch heute, an diesem Mittwoch wird sie ein Leipziger Gericht beschäftigen. Es war im Sommer 1942 in Prag, damals Hauptstadt des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren. Brigitte Horney, der Ufa-Star, sorgte einen Show-Abend lang für „Kraft durch Freude“ und bei ihrem Auftritt begegneten sich zwei Siebenundzwanzigjährige, wie man sie sich gegensätzlicher kaum vorstellen kann, Erich Steidtmann und Lisl Urban. Steidtmann, groß, kräftig, frisch von der russischen Front, wo er mit seiner Polizeikompanie und schweren Maschinengewehren („mein Spezialfach“) sowjetische Truppen abgewehrt und dafür das Eisernen Kreuz 1. Klasse erhalten hatte. Lisl Urban, klein, schmal, gerade geschieden, die nach der Schule Kunst hatte studieren wollen, aber darauf verzichtete wegen ihrer frühen Ehe, und die sich nun als Sekretärin über Wasser hielt. Wem gehört die Erinnerung an diese Nacht im Juni 1942? Gehört sie dem Frontsoldaten, dem Draufgänger, der gerade zum Hauptmann befördert worden war? Oder gehört sie der jungen Frau, aus dem sudetendeutschen Gablonz, die sich zur Bibliothekarin hatte ausbilden lassen und nun ihre Zeit in Büros zubrachte, obwohl ihr die Kunst nicht aus dem Kopf ging? Kein Wunder, wenn die Erinnerungen zweier so unterschiedlicher Menschen an den selben Abend nicht die gleichen sind. Dennoch wird, so unsinnig es klingt, das Leipziger Landgericht nun, 65 Jahre später, auch über die Frage zu befinden haben, wer über die Erinnerung an diesen Abend verfügen, wer seine Sicht der Dinge erzählen darf. Denn Lisl Urban, heute 93 Jahre alt, hat ihre Autobiographie veröffentlicht: „Ein ganz gewöhnliches Leben“ (Dingsda Verlag). Und Erich Steidtmann will sie verbieten lassen, weil sie seine Persönlichkeitsrechte verletze. Nicht nur um jene erste Nacht geht es. Steidtmann hat aus dem Buch 15 Stellen und Halbsätze, von denen er sich verleumdet fühlt, durch seine Anwälte auflisten lassen. Die Autobiographie sei ein „primitiver Racheakt“, ein „Pamphlet“ schreibt er. Doch wer sie unbefangen liest, stutzt, denn der Name Steidtmann kommt gar nicht vor. Stattdessen tritt ein Offizier namens Eike auf, der – wie Steidtmann – mit Lisl Urban eine uneheliche Tochter hat und der das Kind – wie Steidtmann – nach der Geburt keines Blickes würdigt. Dennoch lesen sich die Passagen über jenen Eike nicht wie ein Racheakt, sondern eher wie ein liebevolles, in manchen Teilen schwärmerisches Porträt. Aber möglicherweise wird all das Lisl Urban vor Gericht nicht retten. Denn erst vor wenigen Wochen hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil gegen den Roman „Esra“ von Maxim Biller den Persönlichkeitsschutz auf Kosten der Literaturfreiheit weiter gestärkt. Nach Ansicht der Richter reicht es für das Verbot eines Buches aus, wenn nur einige wenige Leser in einer vom Autor geschilderten Figur eine reale Person wiederzuerkennen glauben, und sich die reale Person durch diese Darstellung in ihrer Ehre oder Intimsphäre verletzt fühlt. Steidtmann führt in seiner Klage die Aussagen seiner jetzigen Frau, einer früheren Frau und seiner Tochter an, die ihn mit „Eike“ identifizieren. Und dann zählt er all das auf, was an Eikes Vergangenheit mit seiner Vergangenheit nicht übereinstimmt, und von dem er seinen Ruf gefährdet sieht. Darunter sind Lappalien: Nein, er habe Lisl Urban nie „an den Straßen“ geküsst, denn so etwas sei „für einen Polizeioffizier in Uniform“ undenkbar gewesen. Nein, er habe Lisl Urban später nicht nach Warschau eingeladen, sondern ihren Besuch dort als unangenehm empfunden. Nein, beim letzten Treffen seien sie nicht Hand in Hand gegangen, vielmehr habe er bei der „sehr kühlen Begegnung“ die „unerwünschte Freundschaft“ beendet. Zwei Menschen, zwei Erinnerungen. Nach sechs Jahrzehnten wäre alles andere eine Überraschung. Sind da wirklich Persönlichkeitsrechte in Gefahr? Wer kann, wer darf noch seine Autobiographie drucken lassen, wenn er sich schon wegen solcher Einsprüche vor Gericht wiederfindet? Doch beanstandet werden auch ernstere Punkte. Wer denen nachgeht, steht unvermittelt vor Abgründen deutscher Vergangenheit. Steidtmann habe, schreiben seine Anwälte, sein Eisernes Kreuz nicht im anrüchigen „Partisanenkampf“, sondern an der Front erhalten. Er habe sich nicht freiwillig an die Front gemeldet, sondern sei als Polizeioffizier einer „Sicherungsdivision“ unterstellt worden. Zudem erwecke Lisl Urban „den Eindruck, als hätte der Kläger darauf hin gearbeitet, in die ‚SS’ aufgenommen zu werden“. Das sei unwahr. Tatsächlich war Steidtmann, laut Auskunft der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Hauptsturmführer in der SS. „Ja“, sagt er, als ich ihn danach frage, „ja aber in der Waffen-SS, nicht in der SS. In der Waffen-SS ist doch alle Welt gewesen.“ Wohl wahr, selbst Günter Grass hat als Siebzehnjähriger die „Doppelrune“ getragen. Deutsche Autobiographien – in was für Zeiten, in was für historische Minenfelder führen sie noch immer. SS oder Waffen-SS, Frontsoldat oder Polizeioffizier in einer Sicherungsdivision – solche Unterschiede sind nicht Lisl Urbans Welt. Sie ist eine schmächtige Frau in großgemusterter, bunter Strickjacke. Sie stützt sich auf einen Holzstock, der aussieht, als hätte sie ihn eben vom Baum geschnitten. Nach dem Krieg mit ihrer Tochter aus der Tschechoslowakei in die DDR vertrieben, wurde sie Kunstlehrerin im ehemals reformpädagogischen Internat Wickersdorf, dem in den zwanziger Jahren Peter Suhrkamp als Direktor vorstand und das nun als Elite- und Kaderschule des Sozialismus galt. Doch dort waren sie und ihr Unterricht, wenn man Erzählungen ehemaliger Zöglingen vertraut, Balsam für wunde Schülerseelen und eine Zuflucht vor der politischen Indoktrination. Es bräuchte nicht viel, nur ein paar zusätzliche, ins Allgemeine zielende Striche und man könnte diese beiden, Erich Steidtmann und Lisl Urban, als Stellvertreter für zwei extreme Pole deutscher Geschichte porträtieren. Hier der unbedingte Tatmensch, der Krieger, der Kämpfer, dort der Künstler, der politikferne Schwärmer, der Halt und Lebenssinn in der Natur sucht, so wie Lisl Urban Halt sucht auf ihrem naturbelassenen Stock. Ihr Buch ist keine historisch präzise Datensammlung, sondern eine träumerische Gedächtnisreise, ein Album persönlicher Lebensbilder, durch das die Autorin blättert, ohne sich selbst zu schonen: Weder verschweigt sie ihre Liebesabenteuer, noch ihre Hitler-Begeisterung im Berliner Olympia-Stadion 1936, noch ihre kurze Arbeit als „Tippmamsell“ für die Geheime Staatspolizei im böhmischen Kolín. In Autobiographien mischen sich, wie es im Titel eines berühmten Beispiels dieses Genres heißt, Dichtung und Wahrheit. Wo bleibt da der Schutz für Menschen, die sich, ohne gefragt worden zu sein, in der Autobiographie eines anderen wiederfinden? Decknamen für die unfreiwillig Beschriebenen sind keine Lösung mehr, dafür haben die Verfassungsrichter mit ihrem „Esra“-Urteil gesorgt. Wie aber soll ein Autobiograph künftig Menschen beschreiben, mit denen er nicht die besten Erinnerungen verbindet? Menschen die, wie die allermeisten anderen, nicht nur Gutes taten? Und wie die Persönlichkeitsrechte eines Mannes schützen, der sich mit den eigenen Aussagen in ein Licht bringt, das viel entsetzlicher ist als all das, was in dem von ihm bekämpften Buch steht? Nachdem Steidtmann in Prag Lisl Urban kennenlernte, wurde er nach Warschau versetzt. Sein Bataillon, dem er als „Bataillonführer“ zugeteilt war, trug nicht zuletzt Verantwortung für das von den Deutschen eingerichtete jüdische Getto. Es hatte, schreibt er in seiner Anzeige, die „äußere Absperrung“ des Gettos „zu gewährleisten und später den Aufstand mit 400 deutschen Deserteuren zu bewältigen.“ Ab Juli 1942 wurden über 300.000 Juden aus dem Getto in die Gaskammern von Treblinka transportiert, während Steidtmanns Bataillon die Außensicherung „gewährleistete“. Beim spätern Aufstand starben 12.000 Menschen, 30.000 Juden wurde danach erschossen. Ein Wort des Bedauerns, zum ungleichen Kampf zwischen gut gerüsteten deutschen Truppen und fast unbewaffneten jüdischen Aufständischen beigetragen, ihn „bewältigt“ zu haben, findet sich in der Anzeige nicht. Dafür findet sich der Name Steidtmann auf der Liste der Offiziere des berüchtigten Polizeibataillons 101 (www1.uni-hamburg.de/rz3a035//police101.html). Das hat, wie die Historiker Christopher Browning und Daniel Goldhagen detailliert belegten, zwischen Sommer 1942 und Winter 1943 bei Massenerschießungen und „Judenjagden“ 40.000 Menschen ermordet (siehe Kasten). Steidtmann bestreitet, an solchen Aktionen beteiligt gewesen zu sein. Ist es angesichts einer solchen Laufbahn für Steidtmann tatsächlich ehrverletzend, wenn Lisl Urban behauptet, er habe sich sein Eisernes Kreuz beim Partisanenkampf statt bei einem Fronteinsatz verdient? Oder wenn sie SS und Waffen-SS verwechselt? Oder wenn sie den Vater ihres Kindes fälschlich als freiwilligen Frontsoldaten beschreibt, statt als Hauptmann eines massenmordenden deutschen Polizeibataillons? Muss man in diesen historisch ungenauen, vielleicht unkorrekten Angaben nicht eher den verzweifelten Versuch seiner Ehrenrettung sehen?

Lisl Urban: Ein ganz gewöhnliches Leben“. Dingsda Verlag, Leipzig 2007 12,90 € .

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